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Bundeskanzler Olaf Scholz und die Zeitenwende: Jetzt wird's höchste Zeit


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Olaf Scholz
Jetzt wird's höchste Zeit


Aktualisiert am 22.03.2022Lesedauer: 12 Min.
Olaf Scholz: Wo bleibt seine persönliche Zeitenwende?Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz: Wo bleibt seine persönliche Zeitenwende? (Quelle: Michael Kappeler/reuters)
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Olaf Scholz hat für die "Zeitenwende" viel Lob erfahren. Doch wer sich seine bisherige Amtszeit anschaut, stellt fest: Er selbst hat die Wende noch nicht geschafft.

Es ist kein großes Geheimnis, dass er es kaum erwarten konnte. Schon mit zwölf Jahren hat der kleine Olaf Scholz seinem Vater erzählt, was er denn später einmal werden wolle: Bundeskanzler natürlich, was denn sonst!

Es ist also eigentlich nur logisch, dass der große Olaf Scholz 51 Jahre später einfach schon mal loslegt und nicht lange wartet auf diese ganzen Formalitäten. Die offizielle Wahl im Bundestag zum Beispiel.

Denn noch während Scholz den Koalitionsvertrag aushandelt, muss seine Ampelregierung ran. Das Infektionsschutzgesetz soll reformiert werden, Corona kann im Herbst 2021 nicht warten. "Die Ampel funktioniert auch, bevor es sie gibt", verkünden die neuen politischen Freunde stolz. Im Nachhinein ist das eher keine Sternstunde. Nur wenige Wochen später wird aus dem "Freedom Day", den die FDP der SPD und den Grünen aufgezwungen hat, wieder eine Corona-Notlage.

Vielleicht haben sich die Liberalen aber auch einfach die unwahrscheinliche "Methode Olaf Scholz" abgeguckt: Wer es kaum erwarten kann und es einfach sehr, sehr doll will, der schafft es manchmal tatsächlich. Denn jetzt, im März 2022, dürfen sie ihn ja irgendwie doch feiern, ihren "Freedom Day". Zumindest alle, die nicht gerade dummerweise in Quarantäne sind.

Und so gerät der Frühstart der Kanzlerschaft des Olaf Scholz in etwa so, wie seine offiziellen gut 100 Tage im Amt nun auch waren: zur Achterbahnfahrt.

Der halbe Kanzler

Es gab noch keine Bundesregierung, die schon eine Krise zu lösen hatte, bevor sie überhaupt im Amt war. Doch die Ampel hatte die Pandemie. Es gab noch keine, die sich so sehr dem Kampf gegen eine Krise verschrieben hat, die lange Zeit verschleppt wurde: den Klimawandel. Und es gab sowieso noch keine, die in ihren ersten Monaten gleich mit der dritten parallelen Weltkrise konfrontiert wurde: dem ersten Angriffskrieg in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Das Erstaunliche ist: Nur in der dritten Krise ist Olaf Scholz zumindest zwischenzeitlich so richtig zu dem geworden, was er eigentlich ist: Kanzler. Also einem Staatsmann, der führt – oder wie er sagen würde: "Leadership" praktiziert. Im Ukraine-Krieg hat er zeitweise selbst seine größten Skeptiker überzeugt.

Doch wer nach rechts und nach links schaut, sieht eine Koalition, deren anfängliche Friede-Freude-Eierkuchen-Einigkeit unter der Last der Krisen immer mehr zerbröselt. Und bei der man sich angesichts der noch dreieinhalb Jahre bis zur nächsten regulären Bundestagswahl fragen muss, was jetzt eigentlich die Ausnahme vom Regelbetrieb ist: das Chaos in der Corona-Politik – oder doch die Entschlossenheit der "Zeitenwende"?

Bisher, so kann man das vielleicht sagen, ist Scholz eher ein halber Kanzler: Außenpolitisch hat er Deutschland so sehr verändert wie zuletzt Helmut Kohl mit der Deutschen Einheit. Innenpolitisch ist aber noch nicht erkennbar, wohin die Regierung steuert – und ob sie wirklich die Kraft für große Veränderungen hat. Deshalb muss Olaf Scholz schleunigst zum ganzen Kanzler werden.

Einen weiten Weg hat er in den vergangenen gut 100 Tagen immerhin schon zurückgelegt.

Aller Anfang ist unspektakulär

Es ist 10.20 Uhr am 8. Dezember, als Bundestagspräsidentin Bärbel Bas Olaf Scholz anspricht: "Ich frage Sie, Herr Abgeordneter Scholz: Nehmen Sie die Wahl an?" Für die Antwort zieht der Herr Abgeordnete Scholz kurz seine schwarze Maske ab, lächelt und sagt laut: Ja!

Aber der pragmatisch-kühle Mann aus dem Norden bleibt in dem Moment, der den Höhepunkt seiner politischen Karriere markiert, der für unzählige Politiker die Vollendung ihres Lebenstraums wäre, einfach sitzen. So als wolle er sagen: Nun ist auch mal gut mit der Feierei, ich bin ja eben schon aufgestanden, als das Ergebnis verkündet wurde.

Berauschend ist es nicht: 395 Ja-Stimmen, mehr als die erforderlichen 369, klar. Aber eben auch 21 weniger, als SPD, Grüne und FDP Sitze im Parlament haben. Es sind die ersten Haarrisse, die Scholz noch gut ignorieren kann. Weil er sofort merkt, wie intensiv das ist: Kanzler sein.

Die Neuentdeckung der Kanzler-Welt

Am Donnerstag, einen Tag nach seiner Wahl, steht eine Ministerpräsidentenkonferenz an. Es geht, wie sollte es anders sein, auch um die Corona-Pandemie. Aber ein Kanzler macht nicht nur Innenpolitik, deshalb geht es an diesem Tag zudem nach Paris und Brüssel, zwischendurch telefoniert Scholz noch mit US-Präsident Joe Biden. Am Sonntag fliegt er schließlich nach Warschau. Antrittsbesuche, wie sie sich für einen deutschen Regierungschef gehören.

Und klar: Die Drohgebärden Wladimir Putins in Richtung Ukraine, sie sind überall ein Thema. Aber eben nur eines von vielen. Die meisten Menschen denken in diesen Wochen nur: Gut, dass bald Weihnachten ist. Und hoffentlich ist diese Pandemie im neuen Jahr endlich vorbei, damit das normale Leben wieder beginnt.

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Es gibt ja durchaus begründete Hoffnung: Während Scholz sich nach und nach in seinen neuen Job einarbeitet, lassen sich die Deutschen boostern, als gäbe es bald keine Spritzen mehr. Am 15. Dezember werden rund 1,6 Millionen Menschen geimpft – so viele wie nie zuvor. Dass dieser Tag vielleicht für alle Ewigkeit einen Rekord markiert, ahnt auch der Kanzler noch nicht.

Kurz vor Heiligabend gibt er deshalb ein ambitioniertes Ziel aus: Bis zum 7. Januar sollen 80 Prozent der Deutschen mindestens einmal geimpft sein. Nur wenige Tage später wird das Ziel bereits auf Ende Januar "verschoben", wie es heißt. So etwas mag Scholz eigentlich gar nicht. Aber die Impfkampagne verliert bereits an Dynamik, bevor sie im Januar in sich zusammenbricht.

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Es wirkt, als habe sich Scholz nun geschworen, lieber gar nichts mehr zu sagen. Bei öffentlichen Auftritten ist er schmallippig und hangelt sich von einer Phrase zur nächsten. In Berlin redet zwar immer irgendjemand über jemand anderen schlecht. Aber dass bereits das Wort vom Fehlstart die Runde macht, ist für die neue Regierung kein gutes Zeichen.

Wo ist Olaf Scholz?

Im Januar drängt die Ukraine-Krise immer stärker nach vorn. Erst noch unbemerkt, und bald doch unübersehbar. Putin hat seit dem Jahreswechsel noch mehr Truppen an der Grenze zusammengezogen, längst sind es mehr als 100.000.

Ein Krieg wird wahrscheinlicher, doch in Berlin regieren noch die alten Reflexe, besonders in Scholz' eigener Partei: Die SPD übt sich in traditioneller Russland-Nähe und Entspannungsrhetorik. Nicht einmal ein russischer Angriffskrieg hätte Konsequenzen für das politisch höchst aufgeladene Pipeline-Projekt Nord Stream 2, gibt mancher Spitzensozi in diesen Tagen zu Protokoll. Scholz ist noch nicht so richtig da. Oder noch ganz bei sich, wie man's nimmt: Er schweigt meistens.

"Wo ist Olaf?", fragt sich Deutschland bald. Spaßvögel im Internet montieren sein Foto in Vermisstenanzeigen. In Kiew, in Brüssel, in Washington findet man den verschwundenen Kanzler gar nicht so lustig. Im Dezember hatte er Nord Stream 2 wider besseres Wissen als "privatwirtschaftliches Projekt" bezeichnet. Nun nimmt er den Namen wochenlang weder öffentlich noch in vertraulichen Gesprächen in den Mund. Scholz' Schweigen ist unüberhörbar.

Als "strategische Ambiguität" rühmt man das im Umfeld des Kanzlers, Putin soll ins Grübeln darüber kommen, was ihm droht. Doch die Verbündeten grübeln genauso.

Der Mann, der plötzlich redet

Irgendwann schickt US-Präsident Joe Biden seinen CIA-Direktor ins Kanzleramt. Und Scholz schaltet zwei Gänge hoch. Der Schweigsame beginnt einen Redemarathon. Er gibt Interviews in Reihe und reist um die Welt. Vor dem Abflug nach Washington am 6. Februar lässt er sich in der ARD vor der Kulisse des Regierungsfliegers "Theodor Heuss" befragen – ein bisschen wie ein US-Präsident vor der "Air Force One". Der Krisenkanzler, der sich später zeigen wird, probiert sich in diesen Tagen aus.

In Washington muss er die Zweifel an der Ernsthaftigkeit und Verlässlichkeit der Deutschen zerstreuen. Doch schon im Flieger, im lässigen Pullover zwischen den Sitzreihen, gibt er sich unbeirrt. In Olaf Scholz' Welt sind Zweifel an Olaf Scholz nicht so richtig vorgesehen.

Im Weißen Haus redet der Kanzler 65 Minuten mit Joe Biden, nun beide in Anzug und Krawatte. Und dann tut Biden ihm bei der Pressekonferenz im prunkvollen East Room den Gefallen, einen Satz zu sagen, der Scholz wie Öl heruntergegangen sein dürfte: "Deutschland ist ein komplett verlässlicher Verbündeter." Ziel erreicht.

Scholz hat allerdings noch immer nicht genug vom Reden. Vor dem Rückflug legt er einen ungewöhnlichen Zwischenstopp ein: Er lässt sich von CNN-Moderator Jake Tapper interviewen, live und auf Englisch. Das hat sich noch kein deutscher Regierungschef getraut. Und der in Deutschland als Scholzomat verspottete Kanzler, der es liebt, in seinen Antworten so viele Stanzen aneinanderzureihen, bis alle die Frage vergessen haben, redet im US-Fernsehstudio plötzlich in kurzen, verständlichen und entschiedenen Sätzen. Und in gutem Englisch.

Die mitgereisten Journalisten, die das Interview auf dem Bildschirm verfolgen, schauen etwas ungläubig zu. Die Fremdsprache biete Scholz nicht so viele Fluchtmöglichkeiten wie Deutsch, lautet die erste Analyse. Doch schon bald wird man den Kanzler auch in seiner Muttersprache deutlich besser verstehen.

Die schwierigste Mission seiner Karriere

Als der Kanzler am Morgen des 14. Februar in Berlin in den Regierungsflieger steigt, trägt er keinen lässigen Pullover mehr. Er fliegt an diesem Montag nach Kiew, abends zurück, und am nächsten Tag von Berlin nach Moskau. Es ist eine absurd anmutende Route, aber sie ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass Scholz vor der schwierigsten Mission seiner Karriere steht.

Übers Wochenende hat sich die Lage zugespitzt. Der US-Geheimdienst rechnet bereits für Mittwoch mit einem russischen Angriff auf die Ukraine. Die Panzer würden also rollen, kaum dass Scholz aus Moskau zurück in Deutschland ist. In Berlin glauben noch immer viele nicht an den Worst Case, auch wenn das Auswärtige Amt alle Deutschen aufruft, die Ukraine zu verlassen.

In der Ukraine wird Scholz überraschend herzlich empfangen und redet schon wieder viel. Fast zwei Stunden spricht er mit Präsident Wolodymyr Selenskyj. Und ringt ihm wichtige Versprechen ab. Zumindest erscheinen sie damals noch bedeutend. Selenskyj schwört etwa indirekt einem Nato-Beitritt ab.

Er erlaubt sich eine kalkulierte Unverschämtheit

Der Autokrat im Kreml wird das gerne gehört haben. So zumindest die Theorie. Scholz reist am Dienstag jedenfalls nicht mit leeren Händen zu Wladimir Putin. Doch das Gespräch mit dem russischen Präsidenten verläuft zäh. Vier Stunden dauert es. Und bringt kein wirkliches Ergebnis.

Bei der anschließenden Pressekonferenz erzählt der russische Präsident viel Unsinn, Scholz kommt mit dem Widersprechen gar nicht nach. Doch Putin signalisiert auch, weiterverhandeln zu wollen.

Vielleicht ist Scholz auch deshalb eher gut drauf und erlaubt sich sogar eine Unverschämtheit: Der Nato-Beitritt der Ukraine sei ja nichts, was er oder Putin in ihren Amtszeiten noch erleben würden, sagt er, und schaut lächelnd zum Angesprochenen rüber: "Ich weiß jetzt nicht, wie lange der Präsident vorhat, im Amt zu sein."

Well done, Olaf Scholz

Putin was not amused. Aber zunächst scheint es, als habe Scholz trotzdem viel erreicht. Russland verspricht, einen Teil seiner Truppen zurückzuziehen. SPD-Chefin Saskia Esken, noch immer eher neu im Olaf-Fanclub, jubelt auf Twitter: "Das ist das erste Ergebnis einer beeindruckenden Krisendiplomatie der Ampelregierung des Bundeskanzlers. Well done, Olaf Scholz." Nun ja. Denn der Kreml lügt einmal mehr. Es gibt keinen Truppenrückzug, nirgends.

Olaf Scholz reist in diesen Tagen nicht nur, sondern telefoniert auch viel. Doch es nützt nichts. Es geht jetzt Schlag auf Schlag. Spätestens am 21. Februar wird offenbar, mit was für einem Präsidenten und was für einem Machtsystem es die Welt zu tun hat.

Erst führt Putin die Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates vor. Wie Kleinkinder müssen sie die Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk abnicken. Und abends präsentiert der russische Präsident dann in einer länglichen TV-Ansprache seine ziemlich eigenwillige Interpretation der Weltgeschichte. Nicht nur echte Historiker gruselt es.

Auch in Berlin sind viele entsetzt. Die Hoffnung lautet nun: Vielleicht beschränkt Putin seinen Einmarsch in der Ukraine ja auf diese beiden Regionen, in denen seinen unhaltbaren Behauptungen zufolge angeblich ein Völkermord stattfindet.

Der Kanzler versucht es mit einem Coup. Als erste Sanktion macht er am nächsten Tag ausgerechnet mit dem Projekt Schluss, dessen Namen er wochenlang nicht mal in den Mund nahm. Und das auch deshalb international zum Symbol deutscher Zögerlichkeit geworden ist: Nord Stream 2.

Doch es hilft alles nichts mehr. In der Nacht zum Donnerstag befiehlt Putin den Angriff auf die Ukraine, in den frühen Morgenstunden rollen die ersten Panzer über die Grenze. Die Katastrophe beginnt.

Ein Wochenende, das alles verändert

In Brüssel feiert am Donnerstagnachmittag trotzdem erst einmal die deutsche Zögerlichkeit ihr Comeback. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich zum Krisengipfel. Es werden zwar eine Reihe von Sanktionen beschlossen, das schon. Doch Scholz verhindert gemeinsam mit ein paar anderen Staaten, dass Russland aus dem internationalen Zahlungssystem Swift ausgeschlossen wird. Deutschland will das russische Gas weiter bezahlen können.

Es dauert nicht lange, da steht Scholz mal wieder ganz allein da. Der öffentliche Protest ist riesig, binnen Stunden lenkt ein EU-Mitglied nach dem anderen ein. Nur die Bundesregierung nicht. Doch länge hält sie das nicht durch. Es beginnt ein historisches Wochenende in Berlin.

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"What a day", schreibt Scholz' engster Vertrauter Wolfgang Schmidt um 23.23 Uhr auf Twitter, als der Kanzleramtschef am Samstagabend die Regierungszentrale verlässt. Was für ein Tag.

Innerhalb weniger Stunden wirft Scholz gleich mehrere Überzeugungen über Bord. Der Swift-Ausschluss soll nun doch kommen, wenn auch nicht für alle Banken. Und Deutschland liefert nun doch nicht nur 5.000 mickrige Helme (die an diesem Tag nach Wochen endlich in der Ukraine ankommen), sondern richtige Waffen. Es ist der Bruch mit einer bislang fast heiligen deutschen Praxis: keine Waffen in Krisengebiete.

Der Kanzler verordnet die Revolution

Nur ein Kreis engster Vertrauter weiß, dass Scholz nun die ganz große Revolution plant. Im Kanzleramt wird an einer Rede geschrieben, die schon bald in Schulbüchern stehen dürfte und die deutsche Verteidigungspolitik der nächsten Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, prägen wird.

Halten wird der Kanzler diese Rede am nächsten Tag. Erstmals in der Geschichte des Deutschen Bundestags ist für einen Sonntag eine Sondersitzung einberufen worden. Sie wird gleich doppelt historisch: Scholz spricht ungewohnt emotional und lebhaft, es ist eine gute Rede, seine beste mindestens der vergangenen Jahre.

Und auch was er zu sagen hat, ist historisch. Scholz kündigt eine "Zeitenwende" für Deutschland an. Wirtschaftlich ein Riese, militärisch ein Zwerg? Damit soll nun endlich Schluss sein. Eine Zahl wird zur Nachricht des Tages: 100 Milliarden Euro. So viel Geld soll die Bundeswehr bekommen.

Selbst in den Ampelfraktionen guckt da mancher ziemlich verdutzt. Ausgerechnet ein Kanzler der SPD, der Friedenspartei, die sich in den vergangenen Jahren nicht nur einmal gegen höhere Militärausgaben gestellt hat. Putin hat damit geschafft, was weder Barack Obama noch Donald Trump gelungen ist: Deutschland rüstet auf. Zeitenwende eben.

Es ist ein weiterer Coup, der auch den Mann in Moskau überrascht haben dürfte. Wie die geschlossene und harte Reaktion des Westens in diesen Tagen insgesamt. Nur seinen Krieg stoppt Putin trotzdem nicht. Auch nicht nach zahllosen Telefonaten, die Scholz in den kommenden Wochen nicht nur mit ihm führt. Er redet und redet, ausgerechnet Scholz – mit Biden, und immer wieder mit Macron.

Der Kanzler hat jetzt jegliche Illusion über den Autokraten im Kreml verloren. Seinen Glauben an diesen einen Moment, in dem ein Waffenstillstand möglich sein kann, jedoch nicht. Also telefoniert er einfach weiter. Um ihn nicht zu verpassen, diesen einen Moment.

Und jetzt?

Es gibt eine Unwucht beim Blick auf die ersten gut 100 Tage des Olaf Scholz, die sich im Rückblick ganz automatisch ergibt. Der Ukraine-Krieg dominiert alles. Das ist einerseits folgerichtig, natürlich ist der Krieg die größte Weltkrise, die der Kanzler gerade zu bewältigen hat. Doch die Unwucht lässt den Blick auf ihn andererseits dann doch zu schmeichelhaft geraten.

Es stimmt schon, was jetzt oft geschrieben wird: Im Ukraine-Krieg ist Olaf Scholz zum Kanzler geworden. Er macht zumindest für einige Tage das, von dem er vorher vor allem viel geredet hat: "Leadership" zeigen, Führungsstärke. Nicht immer so, wie sich das alle wünschen, auch nicht immer laut, aber manchmal eben schon. Und dann mit Knalleffekt. Der Schweigsame hat seine Sprache gefunden, das ist angesichts seiner "Zeitenwende"-Rede und seiner Telefondiplomatie gar nicht nur Pathos.

Aber es gilt eben bislang nur für die Russlandkrise. Und auch da nicht immer. In den anderen Krisen seiner Amtszeit redet Olaf Scholz deutlich weniger, als viele das für nötig halten würden. Im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Natürlich, auch der Tag eines Kanzlers hat nur 24 Stunden. Aber das erklärt eben nicht alles.

Da ist zum Beispiel die andere große Krise: Corona. Dort lässt sich die Ampelregierung vom kleinsten Partner, der FDP, vor sich hertreiben. Und zwar nicht erst, seitdem Putin Krieg gegen die Ukraine führt. Der bisherige Höhepunkt war Ende vergangener Woche das neue Infektionsschutzgesetz, mit dem jetzt einfach alle bis auf die Liberalen unzufrieden sind. Vor allem die Länder, ausgerechnet, denn auf sie hat die Ampel nun die ganze Verantwortung abgeschoben.

Selbst in der Kanzlerpartei SPD halten die Fachpolitiker ihren Unmut nur noch mit Mühen zurück. Bei den Grünen sind längst die Dämme gebrochen. Sollte nun auch noch die Impfpflicht scheitern, für die Scholz sich so früh starkgemacht hat, dann liegt das genauso an seiner "Leadership". Diesmal der fehlenden.

Koalition in Turbulenzen

Das ist nicht banal, denn eine Bundesregierung hat natürlich ständig mindestens zehn Baustellen zu viel. In der Klimakrise etwa, der dritten großen Weltkrise, würden sich insbesondere viele Grünen einen deutlich gesprächigeren Kanzler wünschen.

Und natürlich macht allein die Rede von einer "Zeitenwende" noch längst keine wirkliche Zeitenwende. Das zeigte das peinliche Abmoderieren einer Debatte nach der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Bundestag. Und das zeigt auch der Streit um die 100 Milliarden Euro, der in der Koalition noch am Tag der Verkündung vor rund drei Wochen begonnen hat.

Was passiert, wenn jetzt wirklich noch eine Wirtschaftskrise kommt? Dann wird nicht mehr nur über einen Tankrabatt gestritten, sondern über die Verteilung des Wohlstands insgesamt. Dann geht's wirklich ans Eingemachte.

Die Turbulenzen in der Koalition sind schon jetzt beachtlich. Der Kanzler wird noch viel mehr reden und führen müssen, in allen seinen Krisen. Sonst wird das wohl nichts mit einer echten Ära Olaf Scholz.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen und Recherchen
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