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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gigantischer Maut-Schaden Warum ist dieser Mann noch im Amt?
Sein Wille, die Maut durchzupeitschen, könnte mehr als eine halbe Milliarde Euro kosten. Nun scheint es Belege zu geben, dass Andreas Scheuer das Parlament belogen hat. Es kommt zum Showdown.
Es sind nur wenige Worte, an denen ein Ministeramt hängt, eine politische Zukunft und auch so etwas wie das Vermächtnis einer Legislaturperiode. "Nein, dieses Angebot gab es nicht." Es ist ein einfacher Satz und einer, der lange in Erinnerung bleiben könnte. Verkehrsminister Andreas Scheuer hat ihn gesprochen, vor ziemlich genau einem Jahr vor dem Bundestag. Den obersten Knopf des Hemdes geöffnet, die linke Hand lässig in der Hosentasche. Das sollte wohl signalisieren: Ich bin ganz entspannt.
Hunderte Millionen schwerer Schaden
Das ist der Minister allerdings längst nicht mehr. Wenn Scheuer heute vor den Untersuchungsausschuss zur Pkw-Maut tritt, werden diese Worte hin und her gewogen. Sie werden abgeklopft und gemeinsam mit anderen Aussagen geprüft. Zeugen werden sie bestätigen oder bestreiten. Denn am Wahrheitsgehalt der Aussage entscheidet sich, ob der Bund – oder genauer: Scheuer persönlich – einen Hunderte Millionen Euro schweren Schaden für den Steuerzahler hätte abwenden können.
Die entscheidende Szene aus dem Bundestag sehen Sie oben im Video oder hier.
"Nein, dieses Angebot gab es nicht." Der Minister hat sich festgelegt. Doch die Opposition ist sicher: Scheuer hat gelogen. Er habe sein Prestigeprojekt Pkw-Maut durchbringen wollen. Schnell, schnell. Keine Zeit, um auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu warten, ob diese Maut überhaupt mit dem Europarecht vereinbar ist. Ist sie nicht, entschieden die Richter im Juni des vergangenen Jahres. Nur rund ein halbes Jahr nachdem Scheuer mit den Mautbetreibern noch einen Vertrag geschlossen hatte.
"Können Daumenschrauben anziehen"
Die Eile könnte dem Minister nun zum Verhängnis werden. Denn es gibt ein Gedächtnisprotokoll eines der Unternehmen, das die Maut betreiben sollte. Der "Spiegel" hat es öffentlich gemacht, es liegt auch t-online vor – und der Inhalt widerspricht den Aussagen Scheuers. Dem Protokoll zufolge sei er vor Vertragsschluss gefragt worden, ob man nicht auf das Urteil warten wolle. Das hätte viel Ärger und noch mehr Kosten ersparen können. Denn nun wollen die Vertragspartner 560 Millionen Euro vom Bund.
Mehr als eine halbe Milliarden Euro Kosten für ein Projekt, das es nicht gibt. Darum geht es im Kern.
Scheuer wird sich im Ausschuss deshalb peinliche Fragen gefallen lassen müssen. Die Opposition ist im Modus Ministersturz, erst will sie die Betreiber vernehmen, dann den CSU-Politiker persönlich: "Da kommt Scheuer nicht mehr raus. Wir können ohne Probleme die Daumenschrauben anziehen", sagte FDP-Obmann Christian Jung t-online. "Zur Not mit Kreuzverhör und Gegenüberstellungen. Ich an seiner Stelle würde darauf lieber verzichten."
Ist Scheuer ein "Corona-Profiteur"?
Selbst der Koalitionspartner SPD geht vorsichtig auf Distanz, erwartet einen "vorentscheidenden Showdown", in dem sich der Minister glaubhaft erklären müsse. "Sollte Scheuer den Vorwurf nicht entkräften können, belastet das sein Amt schwer", sagte SPD-Ausschussvorsitzender Udo Schiefner t-online. Deutlicher wird Schiefner, der qua Amt weitgehend Neutralität zu wahren hat, bislang nicht – obwohl sich auch in der SPD viele wundern, dass Scheuer überhaupt noch im Amt ist. Und warum.
Hinter vorgehaltener Hand geht die Erzählung der Sozialdemokraten in etwa so: Scheuers Tage als Minister waren im Januar eigentlich schon gezählt, die Umbildung des Kabinetts stand an, dann kam die Corona-Krise und die Prioritäten verschoben sich. Nun ist der Moment vorbei, der Untersuchungsausschuss da, die Wahlen nicht mehr fern.
Jetzt scheint es für die Kanzlerin und für Scheuers CSU-Parteivorsitzenden Markus Söder zu spät, noch vom glücklosen Minister zu lassen. Das vermutet zumindest auch die FDP: "Die CSU wollte den Minister nach der bayerischen Kommunalwahl bitten, zu gehen, dann kam die Krise", sagt Obmann Jung. "Scheuer ist der größte Corona-Profiteur."
CDU-Politiker bestätigen Gerüchte
Stimmt das? War der Abschied in der CSU schon beschlossene Sache? Ist Scheuer nur noch Verkehrsminister, weil der parteipolitische Schaden, ihn zu entlassen, größer wäre, als ihn im Amt zu belassen? Immerhin riskiert die Bundesregierung mit dem Auftritt im Untersuchungsausschuss einen enormen Imageschaden. Mit Schützenhilfe der anderen Zeugen für den Minister rechnet zumindest die Opposition nicht.
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In der Union wird die Version über Scheuers geplante Abberufung bestätigt. Der Unmut über ihn ist in den vergangenen Monaten gewachsen. "Der Verkehrsminister wäre schon lange nicht mehr im Amt, hätte es die Pandemie nicht gegeben", sagte ein ranghohes Mitglied der CDU-Fraktion t-online. Doch verantwortlich fühlt man sich dort offenbar nicht. CDU und CSU scheinen gespalten.
Alle warten auf Söder
Ein Mitglied aus dem CDU-Präsidium sagte t-online: "Das kann nur die CSU allein entscheiden." Es klingt wie: So doof das Problem ist, so wenig können wir es selbst beheben. Man dürfe nicht unterschätzen, dass es in der CSU eine gewisse Wagenburgmentalität gebe: Wann immer es Angriffe von außen gibt – und seien sie auch noch so begründet – ziehen sich viele in der Partei zusammen. Ausgerechnet in der CDU warten sie jetzt also auf CSU-Parteichef Söder.
Der hatte im ARD-Sommerinterview Anfang August seinen Minister noch in Schutz genommen. Damals sagte er über Scheuer: "Er hat es nicht leicht, weil er natürlich auch von Journalisten, zum Teil zu Recht, zum Teil auch ein bisschen überzogen, immer wieder jeden Tag unter Beschuss genommen wird." Das war vor den neuen Enthüllungen. Gibt es für Söders Loyalität eine rote Linie?
In der CSU heißt es noch immer: Es bringe nichts, Scheuer so kurz vor Ende der Legislaturperiode auszuwechseln. Denn sein Nachfolger gerate dann ebenfalls in Misskredit. Als sicher gilt in der Partei aber auch: Sollte Scheuer tatsächlich gelogen haben, wird Söder ihn feuern.
Das Schicksal des angezählten Ministers entscheidet sich also offenbar tatsächlich im Anhörungssaal 3.101 des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses in Berlin.
Dort beginnt heute die Sitzung des Untersuchungsausschusses. Zunächst mit den Anhörungen der Maut-Vertragspartner und dem früheren Staatssekretär Gerhard Schulz. Für den Abend ist dann Andreas Scheuer als Zeuge geladen. Und immer wieder wird es dabei um diesen Satz gehen: "Nein, dieses Angebot hat es nicht gegeben." Sollte er ihn widerrufen, wären das vielleicht mit seine letzten Worte als Minister.
- Eigene Recherchen