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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Europaweiter Skandal Propaganda-Show legt AfD-Kontakte nach Russland offen
Protagonisten des "Voice of Europe"-Skandals machen eine Propaganda-Show in Belarus. Die Gästeliste ist kurios: russische Agenten, skandalträchtige Politiker – und immer wieder AfD-Abgeordnete.
Oleg Woloschin ist ein Talkshow-Gast mit einer so bewegten Vita, wie sie sich eine Moderatorin für eine interessante politische Sendung nur wünschen kann. Er ist ein langjähriger Vertrauter und Lobbyist des Putin-treuen Oligarchen Wiktor Medwedtschuk. In der Ukraine sind beide des Hochverrats verdächtig. Und mit seiner Arbeit für Medwedtschuk hat er sich auch über die Landesgrenzen hinaus Ärger eingehandelt.
Die USA halten Woloschin für eine Schachfigur des russischen Geheimdienstes FSB. Er habe vor Russlands Angriff das Land destabilisieren und eine Marionettenregierung vorbereiten sollen – Medwedtschuk war gerüchteweise als neuer Präsident vorgesehen. In der Europäischen Union ist Woloschin wegen der Lobbyarbeit in einen Spionageskandal und eine Schmiergeldaffäre verstrickt, welche die AfD erfasst hat.
Es gäbe also viele Dinge mit einem solchen Gast vor laufender Kamera zu besprechen. Immerhin sollen er und seine Ehefrau Nadia Sass die Kontakte zu den europäischen Politikern angebahnt haben, die anschließend über Medwedtschuks Internetportal "Voice of Europe" mit Geld bestochen worden sein sollen. Dazu nutzten sie wohl unter anderem ihre Positionen bei Medwedtschuks Medienprojekten.
Umso überraschender ist, dass Woloschin tatsächlich regelmäßig zu Gast in einem TV-Studio ist – im diktatorisch regierten Belarus, wo er und seine Frau Sass Schutz vor der Strafverfolgung gesucht haben. Weniger überraschend ist aber, wie die Dauerpräsenz im Staatsfernsehen zustande kommt: Sass ist selbst Moderatorin der wöchentlichen Propagandashow, die kaum von ihren russischen Vorbildern zu unterscheiden ist.
Dort begrüßt sie per Videoschalte nicht nur regelmäßig politische Mitstreiter von Medwedtschuk aus Russland und der Ukraine, sondern auch zahlreiche europäische Politiker, die in Reichweite seines Netzwerks gekommen sind – darunter AfD-Abgeordnete und auch viele, die bei "Voice of Europe" auftraten. Die Gästeliste mutet deswegen kurios an.
Eine Auswertung von t-online zeigt, dass sich in der Propaganda-Schau der Medwedtschuk-Vertrauten erstaunlich viele Affären treffen, die europäische Sicherheitskreise alarmiert haben. Besonders stechen die Verbindungen zu "Voice of Europe" hervor.
Waldemar Herdt
Neben Woloschin und Sass nicht aus dem Programm wegzudenken ist der ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Waldemar Herdt, der Medwedtschuk Anfang 2021 mit seinen Parteifreunden Maximilian Krah und Petr Bystron im Bundestag begrüßte. Seit Sass Mitte September 2022 auf Sendung gegangen ist, hat er die Show 19-mal bereichert, so oft wie kaum jemand.
Bereits in der zweiten Ausgabe tauchte er auf – gemeinsam mit dem ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Robby Schlund, der einst die Russlandpolitik der AfD-Fraktion verantwortete und mit Medwedtschuk einen Kranz in Berlin niederlegte. Beide sind mittlerweile nicht mehr in der Partei. Herdt hat seit seinem Austritt Anfang 2024 die Arbeit für den russischen Staat aber noch intensiviert, wie t-online berichtete.
Maximilian Krah
Sehr früh war auch der AfD-Europaabgeordnete Maximilian Krah zu Gast bei Woloschins Ehefrau. Bereits im Dezember 2022 debattierte er live im EU-Parlament in Straßburg mit Sass und weiteren Abgeordneten. Mit dabei: Tatjana Zdanoka, gegen die mittlerweile in Lettland wegen jahrzehntelanger mutmaßlicher Spionage für Russland ermittelt wird.
Ein heikler Auftritt: Krah und sein Büro in Brüssel sind seit seinem ersten Tag im Europaparlament 2019 tief in die Spionage- und Schmiergeldaffäre um Medwedtschuk und "Voice of Europe" verstrickt. Er traf den Oligarchen mindestens dreimal persönlich. Noch vor wenigen Wochen besuchte er Woloschin und Sass bei einem heimlichen Trip nach Russland, wie t-online exklusiv berichtete.
Doppelt heikel ist sein damaliger Talkshow-Auftritt im Dezember 2022 aber, weil "Voice of Europe" ein Dreivierteljahr danach ein nahezu identisches Sendeformat ebenfalls mit Krah live aus Straßburg sendete. Ausschnitte daraus verwendete wiederum Sass immer wieder.
Zu seinem Auftritt in der Sass-Sendung im Dezember 2022 sagte Krah t-online: "Da war die Sendung recht neu, sie musste Kiew kurz zuvor verlassen und brauchte einen Neustart. Aus freundschaftlichen Gründen habe ich zugesagt." Die weiteren Videos von ihm, die Sass in den Folgemonaten verwendete, habe er nicht eingeschickt und auch keine weiteren Interviews gegeben. Das gelte auch für eine Videokonferenz in einem Beitrag zu Medwedtschuk einige Wochen später.
Ulrich Singer und Rainer Rothfuß
Relativ neu im Repertoire der Sendung sind der AfD-Bundestagsabgeordnete Rainer Rothfuß und der bayrische AfD-Landtagsabgeordnete Ulrich Singer, die ihr Debüt per Videoschalte jeweils in diesem Jahr bestritten. Rothfuß absolvierte am 17. November seinen dritten Auftritt – da war er gerade erst von der gemeinsamen Russlandreise mit Krah zurück, die Sass und Woloschin ihm und Singer vermittelt hatten.
Auf dem Trip durften sie Dmitri Medwedew treffen, den Vorsitzenden von Putins Regierungspartei Einiges Russland. Singer war bereits zuvor oft in Russland gewesen, hat dort ein Haus – und kennt Woloschin seit Jahren persönlich. 2021 besuchte er auf seine Initiative hin gemeinsam mit Krah und Petr Bystron Medwedtschuk in der Ukraine.
Die "Voice of Europe"-Partner
Bemerkenswert ist, dass fast die Hälfte aller Politiker, die bei "Voice of Europe" als Interviewpartner auftauchten, auch in der Sass-Sendung zu Gast waren – viele von ihnen sogar, nachdem das "Voice of Europe"-Konstrukt Ende März aufflog und von der EU sanktioniert wurde. Neben Maximilian Krah sind das unter anderem:
- Henri Malosse, ein französischer Lobbyist, der immer wieder im Dunstkreis Medwedtschuks auftaucht. Hofierte auch Sass und Woloschin über seinen Thinktank.
- Marcel de Graaf, ein niederländischer EU-Abgeordneter des rechtsradikalen Forum voor Democratie. Übernahm Krahs langjährigen Assistenten Guillaume Pradoura, der Medwedtschuks PR-Tour in Europa mitorganisierte und für "Voice of Europe" warb. Deswegen durchsuchten Behörden auch sein Büro.
- Matteo Gazzini, ein italienischer EU-Abgeordneter von Forza Italia.
- Dragan Stanojevic, ein serbischer Politiker der rechtspopulistischen MI–GIN. Gründete einen Ableger von Medwedtschuks Bewegung "Eine andere Ukraine" in Serbien. Unterliegt einem Einreiseverbot in der Ukraine.
- Hervé Juvin, französischer EU-Abgeordneter des rechtsradikalen Rassemblement National. Wurde aufgrund sogenannter Wahlbeobachtungsmissionen mit luxuriösen Hotelaufenthalten vom Parlament für weitere Auslandsmissionen gesperrt.
- Milan Uhrìk, slowakischer EU-Abgeordneter der rechtsextremen Hnutie Republika. Gilt als Verbreiter prorussischer Desinformation. Unterhält laut "VSquare" Kontakte zu einem mutmaßlichen russischen Spion in der EU-Vertretung in Brüssel.
Mutmaßliche Spione und Agenten
Auch zu den Gästen zählen immer wieder solche, die in den Ruch geraten sind, für russische Nachrichtendienste zu arbeiten – das gilt nicht nur für die bereits erwähnte lettische Politikerin Tatjana Zdanoka. Auch einer ihrer alten Bekannten, der Pole Matteusz Piskorski, legte einen Auftritt per Videoschalte hin.
Er ist in Polen wegen mutmaßlicher Spionage für Russland und China angeklagt und in Deutschland wegen seiner Nähe zu AfD und Die Linke bekannt – genauso wie sein Wegbegleiter Janusz Niedzwiecki, der ebenfalls wegen Spionage angeklagt ist. Er war über Krahs Büro für das Europaparlament akkreditiert. Ihr deutscher Partner Manuel Ochsenreiter floh vor Strafverfolgung nach Moskau, weil er einen Anschlag in der Ukraine in Auftrag gegeben haben soll. Dort starb er später.
Die drei lotsten über Jahre europäische Politiker vom rechten und linken Rand des politischen Spektrums für politische Operationen in russische Einflusszonen. Zum Beispiel: den italienischen Regionalpolitiker Stefano Valdegemberi, der laut "OCCRP" Geld aus ihrem Netzwerk erhalten haben soll und anschließend einen Antrag in Venetien einbrachte, der die Krim als russisch anerkannte. Auch Valdegemberi trat vor wenigen Wochen bei Sass auf. Kuriosester Dauergast der Sendung ist aber wahrscheinlich Andreii Telizhenko.
In Deutschland weitgehend unbekannt, war er einer der aktivsten Treiber der russischen Desinformationskampagne gegen Joe Biden, die von Medwedtschuks Sendern in der Ukraine befeuert wurde, und dabei ein enger Partner von Trumps Anwalt Rudy Giuliani. "Time" berichtete, er habe für Medwedtschuk Kontakt zu US-Republikanern herstellen sollen. Einer seiner Mitstreiter gilt den US-Behörden als russischer Agent und steht unter Sanktionen, ein weiterer wurde wegen Falschaussage angeklagt. Er selbst hat laut CNN aufgrund der Affäre sein US-Visum verloren.
Die Liste der Talkshowgäste ist also lang und prominent. Während "Voice of Europe" von den Behörden der Stecker gezogen wurde, sendet das Medwedtschuk-Team aus Belarus völlig ungestört weiter. Über YouTube ist das Format weltweit abrufbar.
- Eigene Recherchen
- YouTube.com: "САСС уполномочен заявить" (rus.)
- Rferl.org: "Under Investigation Across Europe, Pro-Kremlin Voice Of Europe Has Deep Balkan Ties" (engl.)
- Politico.eu: "Russian influence scandal rocks EU" (engl.)
- KyivPost.com: "The strange and meteoric rise of Giuliani’s favorite Ukrainian ‘whistleblower’" (engl.)
- edition.cnn.com: "US revokes visa of Giuliani’s Ukrainian ally who spread conspiracy theories about the Bidens" (engl.)
- OCCRP.org: "Kremlin-Linked Group Arranged Payments to European Politicians to Support Russia’s Annexation of Crimea" (engl.)
- Freiheit.org: "Even the disinformers are consolidating at the end of the year. The opposition and the EU are slandered, while odes to Russia are underscored by Fico's planned visit to Moscow" (engl.)
- VSqure.org: "Russian diplomats still spying freely in Brussels" (engl.)
- FakeObservers.org: "Hervé Juvin" (engl.)
- Time.com: "Exclusive: Putin’s Allies Offered a ‘Back Channel’ to Key Witness in New Senate Report on the Bidens" (engl.)