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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rebellion in der Ampel Ist sie zu weit gegangen?
Innenministerin Faeser unterstützt die geplante Verschärfung des EU-Asylrechts. Doch bei Grünen und SPD formiert sich Widerstand: Kritiker warnen vor "haftähnlichen Zuständen" an den Außengrenzen.
Folgt man den Worten von Nancy Faeser, geht es um nichts weniger als die Freiheit in Europa. Der Schengenraum sei in ernsthafter Gefahr, warnte die Innenministerin kürzlich in der "Süddeutschen Zeitung". Und damit eine der größten Errungenschaften der EU: die Reisefreiheit ohne Personenkontrolle. In Gefahr durch die illegale Migration, glaubt die SPD-Politikerin.
Faeser ist deshalb überzeugt, dass die EU es schnell schaffen muss, die Außengrenzen verlässlich zu kontrollieren. Gemeinsam mit den anderen Innenministern der Staatengemeinschaft berät sie am Donnerstag über eine Verschärfung der Asylpolitik – und dringt auf eine Einigung. Die wichtigste Änderung: Migranten, die geringe Chancen auf ein Bleiberecht haben, sollen schon an den Grenzen ein Schnellverfahren durchlaufen, die EU also im Zweifel gar nicht erst betreten.
Dabei ist der Kurs der Bundesregierung selbst bei den eigenen Leuten heftig umstritten. Wie sehr, zeigt sich in diesen Tagen. Nicht nur Menschenrechtsgruppen laufen gegen die Reform Sturm. Auch von Ampelpolitikern gibt es Kritik. FDP und Grüne beharken sich mal wieder. Und auch Faeser wird zur Zielscheibe, selbst in ihrer eigenen Partei.
Dabei versprach der Koalitionsvertrag noch eine Trendwende, eine Abkehr der linksliberalen Ampel vom konservativen Abschreckungsgestus. Man wolle sich dafür einsetzen, den Schutz von Asylbewerbern in ganz Europa zu verbessern, hatte sich die "Fortschrittskoalition" ins Programm geschrieben. Die Reform aber, so sehen es viele bei Grünen und SPD, droht die Lage an den Grenzen noch zu verschlimmern. Mehr Abschreckung und Leid statt mehr Humanität.
Basis sieht Grundsätze der Partei in Gefahr
Vor allem bei den Grünen rumort es. Am Montagabend landete in den Postfächern der Spitzenleute um Robert Habeck und Annalena Baerbock ein heikler Brief. Er war als internes Dokument gedacht, fand aber schnell seinen Weg in die Presse. Innerhalb weniger Tage hatten ihn 730 Mitglieder unterschrieben, die meisten von der Parteibasis.
Die Unterzeichner sehen nichts weniger als die Grundsätze der Partei in Gefahr. "Wir stehen vor den gravierendsten Asylrechtsverschärfungen der vergangenen 30 Jahre", heißt es schon im Vortext der Initiatoren des Schreibens. "Wenn wir uns als Menschenrechtspartei verstehen, dann müssen wir jetzt klarmachen, was das für uns bedeutet." Sie fordern ihre Spitzenleute auf, sich dafür einzusetzen, "dass Populismus nicht in Gesetzesform gegossen wird".
Wie dieses Schreiben zu verstehen ist, darüber scheiden sich die Geister. Als deutliche Kritik auch an den eigenen Leuten sehen es die einen. Andere wollen den Brief eher als Rückenwind für sie in der Bundesregierung verstanden wissen.
Ein deutliches Zeichen des Unmuts über die geplante Reform bleibt das Schreiben so oder so. Und bislang stellt sich die grüne Führungsriege eben im Grundsatz hinter die Pläne der EU.
"Massive Verschlechterung des Status Quo"
Eine Grüne, die wütend ist, ist Svenja Borgschulte. Sie ist Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Migration und Flucht. Dem Kreis, in dem die Grünen die Positionen ihrer Partei in der Flüchtlingspolitik basisdemokratisch aushandeln.
Borgschulte sagt: "Diese inhumanen Vorschläge finden nicht ohne Grund großen Zuspruch im rechten Lager – und bei Bundesinnenministerin Faeser, die ihren Hessen-Wahlkampf auf dem Rücken von Schutzsuchenden austrägt." Die grünen Ministerinnen und Minister fordert sie auf, dass sie "diese Pläne ablehnen, damit Deutschland in Brüssel keiner Aushöhlung des Asylrechts zustimmt".
Es ist ein Aufruf zur Blockade. Denn Borgschulte ist überzeugt, dass die Reform alles nur noch schlimmer machen würde: "Die in der EU diskutierte Asylverfahrensverordnung bedeutet eine massive Verschlechterung des Status Quo."
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Wie sehr die Grünen die Migrationsfrage umtreibt, wird sich auch bald im hessischen Bad Vilbel zeigen. Dort treffen sich Funktionäre am 17. Juni zum Länderrat, einem kleinen Parteitag. Der Bundesvorstand will nach Informationen von t-online einen Antrag zur Migrationspolitik einbringen. Wohl auch um die aufgeheizte Debatte in Bahnen zu lenken, mit denen die Grünen sich in der Regierung keine Kompromisse verbauen.
Ob die Führung die Diskussion bändigen kann, wird sich jedoch zeigen müssen. Svenja Borgschulte jedenfalls will beim Länderrat mit ihrer Bundesarbeitsgemeinschaft einen eigenen Antrag zur Migrationspolitik stellen. Er dürfte wohl ein paar deutliche Worte enthalten.
"Haftähnliche Zustände" an den Außengrenzen
Sollten sich die kritischeren Grünen durchsetzen, würde das den Spielraum der Führungsriege in der Ampel einschränken. Aber das ist nicht das einzige potenzielle Problem für die Bundesregierung. Denn der Widerstand geht schon jetzt deutlich über einige Hunderte Grünen-Basismitglieder hinaus.
Am Dienstag veröffentlichten vor allem jüngere Politikerinnen und Politiker der Grünen und der SPD einen weiteren Brief, diesmal einen offenen. Anders als bei dem Schreiben der Grünen wenden sich darin Berufspolitiker auf Initiative der Plattform "Brand New Bundestag" gegen die Reform. Bislang 27 Bundestagsabgeordnete und sieben weitere aus Landesparlamenten.
Die Gruppe befürchtet "haftähnliche Zustände" an den Außengrenzen und postuliert: "Die Politik der Mauern und Zäune ist nicht unsere Politik." Eine der Unterzeichnerinnen ist Lisa Badum, Bundestagsabgeordnete der Grünen. Sie sagt t-online: "Ich habe Sorgen, dass eine Reform des europäischen Asylrechts das Recht auf Asyl abschwächen könnte."
Der Bundestagsabgeordnete Sebastian Roloff, Chef der Demokratischen Linken in der SPD, wird noch deutlicher: "Die geplanten Verschärfungen des Asylrechts sind nicht akzeptabel." Auch er hat den offenen Brief unterzeichnet und übt Kritik an seiner Genossin Faeser. "Eine sozialdemokratische Innenministerin darf Seehofers Plan für Auffanglager doch nicht unterstützen." Seehofer hatte sich in seiner Zeit als Innenminister für Vorprüfungen von Migranten an der Außengrenze eingesetzt – und lobte Faeser zuletzt für ihren Kurs.
Lieber keine Reform als diese: So wie mancher bei den Grünen sieht es deshalb auch der SPD-Linke Roloff. Was es brauche, sei ein "verbindlicher Verteilungsschlüssel, schnellere Verfahren und mehr Mittel für die Unterbringung und Betreuung", sagt er. Doch die sind in der EU eben nicht in Sicht (Mehr zu der Kritik an der Asylreform lesen Sie hier). Die derzeitigen Pläne jedenfalls hält Roloff für gefährlich: "Ich sehe in der aktuell diskutierten Fassung mehr Risiken als Fortschritte."
Und es gibt weitere Ampelpolitiker, deren Namen zwar noch unter keinem Brief stehen, die die Pläne aber genauso kritisch sehen. Der Widerstand sitzt längst im Bundestag.
Die FDP hält die Position der Grünen für gefährlich
Besonders umstritten ist das Vorhaben, Grenzverfahren für Menschen aus Ländern verpflichtend zu machen, die europaweit eine geringe Schutzquote haben. Heißt: Aus diesen Ländern erhalten prozentual nur wenige Asyl in Europa.
Dabei ist allein schon strittig, was in diesem Zusammenhang "wenig" bedeutet. Die EU-Kommission schlägt eine Quote von 20 Prozent vor, Faeser wirbt für 15 Prozent – und will auf Druck der Grünen auch durchsetzen, dass Minderjährige und ihre Eltern davon ausgenommen sind.
Der EU-Kommissionsvorschlag hingegen sieht vor, dass lediglich Kinder unter 12 Jahren mit ihren Familienangehörigen ausgenommen werden. Ein Vorschlag, der unter anderem von Frankreich unterstützt wird. Doch es erscheint nicht nur auf EU-Ebene als unwahrscheinlich, dass Deutschland diese Regelung durchsetzt. Auch innerhalb der Ampel gibt es Gegenwind.
Die Liberalen halten die Position der Grünen sogar für gefährlich. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagte dem "Tagesspiegel", wenn eine menschenwürdige Versorgung und eine effiziente Durchführung der Asylverfahren gewährleistet sei, "dann braucht es auch keine Debatte zu möglichen Ausnahmen, die eine Einigung in Europa wieder nur gefährden würden".
Selbst die grüne Führungsebene beharrt jedoch bisher auf den Ausnahmen für Minderjährige. Grünen-Chef Omid Nouripour sagte am Montag, es sei "irrtierend, dass es jetzt Stimmen gibt, die davon sprechen, dass jetzt auch Kinder an EU-Außengrenzen festgehalten werden dürfen". Und: "Wir werden uns dagegen stemmen."
Grüne-Politikerin wirft FDP-Vize "billige" Taktik vor
Der Zwist zwischen Grünen und FDP beschränkt sich nicht allein auf diese Frage. Auch die Interventionen der Grünen- und SPD-Politiker betrachtet der Koalitionspartner mit Argwohn.
"Eine neue Asylpolitik darf nicht an Deutschland und auch nicht an einem der Koalitionspartner scheitern", schrieb Vizeparteichef Konstantin Kuhle auf Twitter nach Bekanntwerden beider Briefe. "Ein neues Gemeinsames Europäisches Asylsystem muss menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Standards genügen. Darüber hinausgehende rote Linien gefährden eine Einigung."
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Gefährden die Grünen also eine Einigung in Europa? Die Bundestagsabgeordnete Jamila Schäfer weist das von sich. Und sieht darin einen Versuch, die Schuld für das fast sichere Scheitern der Verhandlungen am Donnerstag ihrer Partei zuzuschieben.
"Es wäre eine billige Nummer, in der innenpolitischen Debatte so zu tun, als würde eine echte Lösung an den Grünen scheitern", schreibt Schäfer auf Twitter und antwortet Kuhle: "Einfach mal in die Zwischenstände schauen und man sieht: bisher liegt noch kein Vorschlag vor, der die Interessen der Mitgliedsstaaten zusammenbindet."
Verhandlungen in der EU drohen zu scheitern
Tatsächlich sind die Verhandlungen zwischen den EU-Staaten alles andere als einfach. Der Druck in der EU, endlich etwas zu beschließen, ist riesig. Die Positionen und Interessen aber liegen meilenweit auseinander.
Während die Staaten am Mittelmeer darauf drängen, dass ihnen verbindlich Asylbewerber abgenommen werden, lehnen das Länder wie Polen und Ungarn komplett ab. Nicht einmal Geld wolle man stattdessen zahlen, heißt es aus Polen laut einem Bericht der "Bild"-Zeitung. Dabei soll das eigentlich die Brücke sein für Staaten, die niemanden aufnehmen wollen: Geld zahlen statt Flüchtlinge bekommen.
Es ist das alte Dilemma der europäischen Asylpolitik: Die Außenstaaten sollen an den Grenzen mehr leisten, bekommen aber nichts im Gegenzug – vor allem nicht die gewünschte verbindliche Abnahme von Asylbewerbern.
Beobachter rechnen deswegen nicht damit, dass die EU bei der Reform an diesem Donnerstag eine Lösung findet. Vielleicht, glaubt mancher, wird sie in dieser Form niemals beschlossen. Den Unterzeichnern all der Briefe dürfte das entgegenkommen.
- Eigene Recherche
- sueddeutsche.de: Faeser sieht Schengen-Raum "in ernsthafter Gefahr"
- bild.de: "Asyl-Reform droht zu scheitern!"
- spiegel.de: "Wer nicht mitmacht, dem müssen halt die Mittel gekürzt werden"