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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Wohnungskatastrophe "Man lebt wie ein Hund"
In Deutschland fehlen zehn Millionen Sozialwohnungen, neue werden viel zu langsam gebaut. Experten warnen vor dramatischen Zuständen.
Seit Zayd Alhussein Alhilal in München lebt, ist ihm eigentlich alles gelungen: Der 33-Jährige hat innerhalb kurzer Zeit perfekt Deutsch gelernt, den Einbürgerungstest bestanden und eine Ausbildung abgeschlossen. Gerade macht er seinen Bachelor und Meister als Optiker und arbeitet als Filialleiter für eine große Optikerkette. Ein Musterbeispiel für gelungene Integration.
Nur eines will dem gebürtigen Syrer nicht gelingen: eine Wohnung in seiner neuen Heimat zu finden. Deshalb lebt seine junge Familie noch immer in der Wohnung in München, in die sie 2016 dank der Vermittlung von Freunden direkt aus dem Flüchtlingsheim gezogen ist. Fünf Personen drängen sich auf 56 Quadratmetern. Die drei Kinder schlafen in einem Zimmer, die Eltern im Wohnzimmer.
"Es ist so eng, dass wir nicht einmal einen Esstisch haben", sagt Alhussein Alhilal im Gespräch mit t-online. Er selbst habe nach der Arbeit schon jetzt keine Ruhe mehr, um für seine Meisterprüfung zu lernen – und bald kommt der älteste Sohn in die Schule. "Wir wissen nicht, wo er dann seine Hausaufgaben machen soll."
Immer mehr Berechtigte, immer weniger Sozialwohnungen
Dabei haben die Alhussein Alhilals bei der Wohnungssuche eigentlich einen Vorteil: Weil das Einkommen der Familie unter dem deutschen Durchschnitt liegt, haben sie Anspruch auf eine Sozialwohnung. Sie können also in eine Wohnung ziehen, deren Bau staatlich gefördert wurde und deren Vermieter im Gegenzug besonders günstige Mieten versprechen.
Den nötigen Wohnberechtigungsschein haben die Alhussein Alhilals seit 2016 – geholfen hat er ihnen bisher keinen Deut. Und das Schicksal der Familie steht stellvertretend für Millionen Haushalte in Deutschland. Denn immer mehr Menschen verdienen zu wenig, um sich die hohen Mieten leisten zu können. Doch während die Zahl der Anspruchsberechtigten steigt, sinkt die Zahl der Sozialwohnungen.
"Wir haben Tausende Male die Hoffnung verloren"
"Wir haben uns seit 2016 bestimmt auf mehr als 2.000 Wohnungen beworben", sagt Alhussein Alhilal. Doch seine Bilanz ist bitter: "Wir sind nicht ein einziges Mal zu einer Besichtigung eingeladen worden."
Jeden Tag überprüft der 33-Jährige das Internetportal, auf dem sich nur Menschen mit Wohnberechtigungsschein aus der Region München anmelden können. An vielen Tagen findet sich darin gar keine Wohnung. Ploppt dann ein neues Angebot auf, bewerben sich in kürzester Zeit Hunderte, oft sogar Tausende auf die Immobilie.
"Wir haben Tausende Male gehofft – und Tausende Male die Hoffnung verloren", sagt Alhussein Alhilal verzweifelt.
Experte: "Der Mangel ist dramatisch"
Nach Einschätzung von Matthias Günther ist der Fall der Familie nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Günther ist Ökonom und Vorstandsvorsitzender des Pestel-Instituts, das jährlich eine große Studie zum sozialen Bauen und Wohnen in Deutschland veröffentlicht. "Wir haben 1,1 Millionen Sozialwohnungen in Deutschland – aber 11 Millionen Haushalte, die eine Berechtigung für eine Sozialwohnung haben", sagt Günther zu t-online. Jahrelange Wartezeiten seien programmiert. "Der Mangel ist dramatisch."
Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt und hat sich immer weiter verschlechtert. Ein Grund für die Verschärfung der ohnehin schon schwierigen Situation ist, dass Sozialwohnungen nach einer gewissen Zeit aus der Preisbindung fallen. Das heißt: Der Vermieter kassiert beim Bau staatliche Subventionen, aber nach 30, 20, manchmal auch schon nach 15 Jahren – je nach Förderstruktur im Bundesland – ist die Sozialwohnung plötzlich keine Sozialwohnung mehr und kann zu deutlich höheren Preisen weitervermietet werden.
Damit verliert Deutschland jedes Jahr mehr als doppelt so viele Sozialwohnungen wie hinzukommen. Das bestätigte das Bundesbauministerium auf Anfrage von t-online: Im Jahr 2021 fielen nach Angaben des Ministeriums 45.836 Sozialwohnungen aus der Bindung – und nur für 21.232 Wohnungen wurden neue Fördermaßnahmen im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung bewilligt. Im Jahr 2020 fielen sogar rund 56.000 Sozialwohnungen aus der Bindung, nur 23.076 wurden neu bewilligt.
Das große Versprechen der Ampel – gebrochen
Die Bundesregierung wollte gegensteuern, ihr großes Versprechen lautete: Wir bauen 400.000 Wohnungen pro Jahr – davon mindestens 100.000 Sozialwohnungen. Doch das Vorhaben ist bereits für 2022 gescheitert, wie Bauministerin Klara Geywitz (SPD) nach langem Festhalten an der Marke nun endlich einräumt. Auch 2023 und 2024 wird es nach Expertenmeinung nicht besser werden.
"An den Zahlen von 2021 hat sich wenig geändert", sagt Matthias Günther. "Wir gehen davon aus, dass 2022 nur circa 20.000 neue Sozialwohnungen geschaffen wurden. Das Ziel von 100.000 wurde weit verfehlt."
Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig: Der Neubausektor stagniert ohnehin, hohe Materialkosten und Fachkräftemangel machen der Branche zu schaffen. Außerdem bringen Luxuswohnungen den Vermietern mehr ein als Sozialwohnungen, Förderung hin oder her. Und dann ist da noch die liebe Bürokratie – es dauert ewig, bis alle Anträge bewilligt sind, klagen interessierte Bauherren.
Die Lage scheint völlig verfahren. Wie also gegensteuern, was muss jetzt passieren?
IG Bau fordert Sondervermögen von 50 Milliarden
Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt – kurz IG Bau – beschäftigt sich seit Langem mit diesen Fragen. Jetzt fordert sie von der Bundesregierung nicht weniger als einen Wohn-Wumms, um mit Scholz zu sprechen. "Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise müssen Bund und Länder gemeinsam ein Sondervermögen in Höhe von 50 Milliarden Euro bereitstellen", sagt Harald Schaum, stellvertretender Bundesvorsitzender der IG Bau, im Gespräch mit t-online.
"Hilfreich wäre auch eine zügige Bearbeitung von Förderanträgen durch die jeweils zuständigen Landesförderbanken innerhalb von maximal vier Wochen", so Schaum weiter. Kommunen müssten außerdem für den geförderten Wohnungsbau zweckgebundene Grundstücke bereitstellen – zu einem Preis von nicht mehr als 300 Euro pro Quadratmeter.
Um zu verhindern, dass jedes Jahr Zehntausende Sozialwohnungen aus der Bindung fallen, fordert Schaum, dass öffentlich geförderte Wohnungen "dauerhaft mietpreis- und belegungsgebunden" bleiben. Bedeutet übersetzt: einmal Sozialwohnung, immer Sozialwohnung.
Immerhin liegt die IG Bau mit ihren Forderungen ganz auf der Linie der Bundesregierung, die eine dauerhafte Preisbindung durch die Einführung einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit erreichen will. Das Vorhaben ist im Koalitionsvertrag festgeschrieben, bis 2023 sollen die beteiligten Ministerien ein Eckpunktepapier vorlegen. Bitter nur: Die Wohnungsgemeinnützigkeit gab es in Deutschland schon einmal, sie wurde aber nach einem Skandal um das gemeinnützige Hamburger Wohnungsunternehmen Neue Heimat wieder abgeschafft.
"Ich belüge mich selbst"
Die Prozesse sind langwierig, Ad-hoc-Lösungen scheint es nicht zu geben. Für den Ökonomen und Institutsleiter Matthias Günther ist das ein großes Problem, gerade mit Blick auf den Fachkräftemangel in Deutschland und die Zuwanderungspolitik der Ampel, die immer mehr Menschen aus dem Ausland hier arbeiten lassen will.
"Was bieten wir den Menschen eigentlich, wenn sie hierherkommen?", fragt Günther. "Wir erkennen ihre in der Heimat erworbenen Abschlüsse nicht an, wir bieten ihnen Jobs, die oft nicht ihrer Qualifikation entsprechen und wir bieten ihnen keine Wohnung. Wer, glaubt die Regierung denn bitte, kommt unter solchen Umständen?"
Zayd Alhussein Alhilal jedenfalls wirkt nach sieben Jahren Wohnungssuche kraftlos, manchmal ist er im Gespräch den Tränen nahe, seine Stimme bricht. Anfangs habe er gehofft, nach der Ausbildung bessere Chancen auf eine Wohnung zu haben. Dann setzte er auf die Einbürgerung. Jetzt hofft er, dass der Meister und der Bachelor etwas ändern.
"Aber ich belüge mich selbst", sagt er. "Für uns gibt es keinen Ausweg. Man lebt wie ein Hund in einer kleinen Wohnung und macht irgendwie weiter."
- Gespräch mit Zayd Alhussein Alhilal
- Gespräch mit Matthias Günther, Eduard-Pestel-Institut
- Anfrage an das Bundesbauministerium
- Anfrage an Harald Schaum (IG Bau)