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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Karl Lauterbach "Anders wird es uns nicht gelingen"
Wie konnte es so weit kommen? Und vor allem: Wie geht es jetzt weiter? SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach über Erfolge und Enttäuschungen in der Corona-Krise – und über seine eigene Zukunft.
t-online.de: Herr Lauterbach, war die Corona-Lage schon mal so schlimm wie jetzt?
Karl Lauterbach: Nein. Es gab mehrere schlimme Phasen in dieser Pandemie, die wir bewältigt haben. Aber das ist bisher die schlimmste Krise.
Der oberste deutsche Ärztelobbyist Andreas Gassen warnt auch jetzt noch vor Panikmache.
Er liegt falsch. Genauso wie er falsch lag, als er vor wenigen Wochen den "Freedom Day" gefordert hat. Auch da habe ich ihm schon energisch widersprochen.
Wir wissen inzwischen so gut wie nie, wie sich das Virus verhält und was dagegen hilft. Warum war die deutsche Politik trotzdem so schlecht vorbereitet?
Ob man von "der Politik" sprechen kann, sei mal dahingestellt. Wahr ist aber schon: Es gab nennenswerte Stimmen in der Politik, die geglaubt haben, dass durch die Impfquote die Zahlen nicht mehr so drastisch steigen würden.
Auch bei einigen Medien und Experten war das so, wenn man ehrlich ist.
Ja. Für den angesprochenen Herrn Gassen gilt das etwa oder für den Epidemiologen Klaus Stöhr. Es gilt auch für einige Redakteure der "Bild" und der "Welt". Dem gegenüber stand wie so oft in dieser Pandemie der wissenschaftliche Konsens, der sehr klar und eindeutig gewarnt hat: Christian Drosten, Michael Meyer-Hermann, Viola Priesemann …
… Sie waren auch dabei …
… ja, und viele weitere. Wir konnten uns aber offensichtlich nicht ausreichend durchsetzen.
- Tagesanbruch: Olaf Scholz, das Staatsmännchen
Warum tut sich Deutschland denn noch immer so schwer damit, aus den Erfahrungen der vorherigen Wellen und den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu lernen? Das Robert Koch-Institut (RKI) hatte schon im Sommer entsprechende Szenarien modelliert, Angela Merkel wollte bereits im August 2G durchsetzen.
Wir sind besser durch die ersten drei Wellen gekommen als unsere Nachbarländer. Deutschland hat insgesamt eine sehr gute Bilanz. Dafür sind wir auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen gelobt worden. Deutschland hatte zum Beispiel eine Übersterblichkeit von 4 Prozent, andere Länder um uns herum dagegen von 8 bis 11 Prozent. Aber in der vierten Welle hat unsere Pandemiebekämpfung nicht mehr funktioniert. Wir hätten vor vier oder fünf Wochen mit schärferen Einschränkungen beginnen müssen. Aber die Widerstände waren damals zu groß.
Also hat uns die bisherige gute Bilanz überheblich gemacht?
So weit würde ich nicht gehen. Es ist schlicht so: Die Bedeutung der Impfung wurde überschätzt. Einigen Politikern und Beratern hat es an der Phantasie gefehlt, dass es auch mit einer Impfquote von 70 Prozent noch so hohe Infektionszahlen geben kann. Aber man muss sagen: Alle Fakten lagen auf dem Tisch. Mehrere Modelle haben berechnet, welche Folgen sich aus der Kombination einer zu einem Drittel ungeimpften Bevölkerung, schlechterem Wetter im Herbst und der viel ansteckenderen Delta-Variante ergeben. Die Konsenswissenschaft hat also sehr präzise vorhergesagt, was jetzt gerade passiert.
Sie haben selbst gesagt: Man hätte vor vier, fünf Wochen beginnen müssen. Helge Braun hat die Ampel und Olaf Scholz gerade scharf kritisiert, auch für die späte Ministerpräsidentenkonferenz. Hat er da nicht recht?
Helge Braun enttäuscht mich in den vergangenen Wochen etwas. Wir haben eigentlich immer gut zusammengearbeitet und waren immer der Meinung, dass Parteipolitik fehl am Platze sei. Seit Helge Braun um den CDU-Vorsitz kämpft, ist er kaum wiederzuerkennen. Helge Braun weiß, wie wenig die unionsregierten Länder bereit waren, dringend benötigte strengere Regeln einzuführen. Die Infektionszahlen kommen in diesen Ländern nicht von alleine. Auch ich habe versucht, auf Unionspolitiker einzuwirken ...
… erzählen Sie gerne ein Beispiel …
… nein, das tue ich ausdrücklich nicht! Denn es bringt ja nichts, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Es sind Fehler gemacht worden, und jetzt müssen wir nach vorne schauen und dafür kämpfen, dass wir die Situation wieder beherrschen.
Als Jens Spahn vor Wochen das Ende der epidemischen Lage gefordert hat, haben Sie ihn kritisiert. Gestern haben Sie im Bundestag allerdings dafür gestimmt, eine neue Gesetzesgrundlage zu schaffen. Warum haben Sie sich umentschieden?
Was wäre denn die Alternative gewesen? Statt konkret zu handeln, hätten wir einen Streit darüber geführt, ob das Rechtskonstrukt der epidemischen Lage fortgeführt werden kann oder nicht. Unsere Juristen sagen, dass das wegen der hohen Impfquote nicht mehr geht. Und darauf muss ich mich verlassen. Die Juristen im Rechtsausschuss waren eindeutig. Ich habe mich deshalb auf die Substanz konzentriert und mich dafür stark gemacht, dass die nötigen Einschränkungen jetzt im Gesetz auch vorgesehen sind.
Und das hat funktioniert? Auch da gibt es ja Kritik, dass einige Dinge jetzt nicht mehr möglich seien: Ausgangssperren etwa oder flächendeckende Schließungen der Gastronomie.
Das Ergebnis ist sehr brauchbar, deshalb habe ich im Bundestag aus Überzeugung zugestimmt. Der Gesetzentwurf ist in der vergangenen Woche noch deutlich besser geworden. Die Möglichkeit, dass es in Hotspots jetzt doch wieder zu Kontaktbeschränkungen kommen kann, also faktisch zu Lockdowns für Ungeimpfte, ist sehr wichtig. In Hotspots kann durch die Länderöffnungsklausel auch sehr vieles geschlossen werden. Und 3G am Arbeitsplatz und im ÖPNV hätten wir ohne das Gesetz gar nicht gehabt.
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Blicken wir auf die nächste Zeit: Entscheidend für die Maßnahmen, die von den Ländern verhängt werden müssen, ist die sogenannte Hospitalisierungsrate. Wenn man sich die beim RKI anguckt, stellt man allerdings fest, dass sie seit Tagen sinkt. Sie scheint also nicht unbedingt der beste Indikator zu sein.
Die Hospitalisierungsrate, die das RKI veröffentlicht, ist systematisch zu niedrig.
Wie bitte?
Das liegt an zwei systematischen Fehlern bei der Messung der Hospitalisierungsrate. Erstens werden nur Fälle der vergangenen sieben Tage aufgenommen. Dieser Vorlauf ist zu kurz. Oft dauert es von der Infektion bis zur Aufnahme im Krankenhaus länger. Zweitens kommen die Meldungen oft erst mit großer Verzögerung beim RKI an.
Handelt es sich dann nicht fast schon um ein fahrlässiges Instrument?
Die Hospitalisierungsrate ist alles andere als ein optimaler Parameter. Ich hätte mir gewünscht, dass wir zusätzlich weiterhin die Inzidenz im Blick haben. Das ist leider nicht passiert. Deshalb ist es wichtig, dass die Länder jetzt nicht nur auf die Hospitalisierungsrate gucken. Denn allein damit werden sie es schwer haben, rechtzeitig gegenzusteuern. Sie müssen früher handeln.
In anderen Ländern verlieren die Impfzertifikate nach sechs Monaten ihre Gültigkeit. Müssten wir das nicht genauso handhaben?
Nein, weil die Impfung nach sechs Monaten noch wirkt. Das Ziel der Impfung besteht ja nicht nur darin, dass man sich nicht ansteckt oder das Virus weitergibt, sondern dass man nicht schwer erkrankt. Und dieses Ziel ist auch nach einem halben Jahr noch gegeben.
Wäre es nicht trotzdem sinnvoll, dass die Impfausweise nach einem bestimmten Datum ablaufen?
Natürlich. Es wird irgendwann ein Ablaufdatum geben, ab dem der Impfausweis nicht mehr als 2G-Nachweis gilt, sofern man sich nicht boostern lässt. Aber nach wie vielen Monaten das der Fall sein muss, lässt sich bislang noch nicht sagen. Dazu laufen gerade diverse Studien.
Müsste es in Deutschland nicht eine weiter gefasste Impfpflicht geben als nur für Krankenhäuser sowie Alten- und Pflegeheime?
Der Einstieg, den die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten am Donnerstag beschlossen haben, ist richtig. Über weitere Einrichtungen sollten wir derzeit nicht reden.
Während wir sprechen, ist allerdings die Eilmeldung gekommen, dass Österreich ab Montag nicht nur einen landesweiten Lockdown verhängt, sondern ab Februar auch eine allgemeine Impfpflicht einführt. Werden wir die Debatte nicht auch bekommen?
Nein, wir werden an der Diskussion über eine allgemeine Impfpflicht vorbeikommen. Jetzt verfolgen wir ja erst einmal eine andere Strategie: boostern, boostern, boostern. Die fast 70 Prozent der Menschen, die bereits zweimal geimpft sind, müssen rasch noch ein drittes Mal geimpft werden. Wenn uns das gelingt, können wir die Pandemie Anfang des nächsten Jahres in den Griff bekommen.
Wenn wir jetzt so rasch Drittimpfungen verabreichen wollen: Wieso impfen bei uns eigentlich immer noch nicht auch die Apotheker?
Ich bin absolut dafür, habe das auch bereits gefordert, ich glaube sogar in Ihrem Medium. Die Impfung durch Apotheker ist zielführend und richtig.
Das heißt: Sie glauben, man kann sich bald auch in Apotheken impfen lassen?
Ich arbeite in der Politik nicht mit Glaubenssätzen.
Wie optimistisch sind Sie, dass es in diesem Winter keine härteren Maßnahmen als die jetzt beschlossenen braucht?
Ob es sich um die letzten Einschränkungen handelt, ist offen. Es hängt ein Damoklesschwert über allem: die Herausbildung einer neuen Variante, die sich besser gegen die Impfstoffe durchsetzen kann. Deshalb ist ja auch die Booster-Impfung so wichtig: Sie wirkt so stark, dass einiges dafür spricht, dass sie auch gegen mögliche Varianten der nächsten Zeit wirkt.
Das bedeutet aber eben auch: Es könnte bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 9. Dezember eben doch härtere Regeln geben.
Das hängt davon ab, ob die nun beschlossenen Regeln wirken. Wir haben das alle gemeinsam in der Hand. Wenn wir 2G und 2G plus nicht konsequent einhalten, werden wir ein sehr großes Problem bekommen – mit entsprechenden Verschärfungen als Folge.
Wir sind nun in einer schwierigen Situation, Sie warnen seit Beginn der Pandemie, die Lage nicht zu unterschätzen. Gibt es etwas, das Sie persönlich bereuen in den vergangenen Monaten?
Ich weiß es nicht, wahrscheinlich schon, mir fällt nur gerade nichts ein. Ansonsten kann ich mich nur wiederholen: Ich hätte mir sehr gewünscht, dass ich mit meinen Prognosen über die vierte Welle falsch gelegen hätte. Aber es war leider nicht so. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn wir aktuell so gut durch die Pandemie kommen würden, wie es uns lange Zeit gelungen ist.
Sie klingen enttäuscht.
Es ist eben auch einfach frustrierend, dass die Berater und Politiker, die gewarnt haben, sich nicht durchsetzen konnten. Und klar, da stellt sich natürlich die Frage: Was hätten wir, was hätte ich anders machen können?
Das heißt, den jüngsten Wutausbruch von RKI-Chef Lothar Wieler können Sie nachvollziehen?
Ja, absolut. Ich hoffe wirklich, dass wir ähnlich drastische Maßnahmen wie in Österreich noch verhindern können. Aber das heißt eben auch: Wir müssen jetzt wirklich richtig Ernst machen. Anders wird es uns nicht gelingen.
Wenn wir das nächste Interview mit Ihnen führen: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dann Minister sind?
Offen gesagt: Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung.
In der nordrhein-westfälischen SPD gibt es namhafte Fürsprecher eines Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach.
Ich bin immer von der SPD-Spitze in NRW unterstützt worden. Es wird zwar immer darauf hingewiesen, ich hätte nicht die entsprechende Unterstützung für einen sicheren Listenplatz gehabt. Aber der wird von der regionalen Parteiorganisation bestimmt und nicht von der Landespartei. Der Landesvorstand ist mir immer gewogen gewesen. Ich glaube, an dem wird es nicht scheitern.
Und der große NRW-Landesverband der SPD hat ja einigen Einfluss in der Bundespartei.
Mag sein, aber es bringt jetzt nichts, darüber zu spekulieren. Warten wir einfach ab, wie es ausgeht.
- Gespräch mit Karl Lauterbach per Videotelefonie