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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neue Regeln im Schnellcheck Dieser Corona-Plan macht nicht nur Merkel skeptisch
Die Corona-Lage spitzt sich zu. Jetzt reagieren die Ampelparteien mit einem neuen Regelwerk. Es soll Donnerstag beschlossen werden. Doch reicht es? Experten haben erhebliche Zweifel.
Die Politik hat die vierte Corona-Welle unterschätzt: Die Infektionszahlen befinden sich auf dem Höchststand, den Intensivstationen droht die Überlastung – oder sie sind es bereits. Das ist die Ausgangslage vor diesem Donnerstag, der ein entscheidender Tag für die deutsche Corona-Politik wird.
Am Vormittag soll der Bundestag über die Pläne der Ampelparteien abstimmen und damit das neue Regelwerk für die vierte Welle der Pandemie verabschieden. Danach treffen sich die Ministerpräsidenten der Länder mit der Kanzlerin zum Corona-Gipfel. Dabei wird es darum gehen, wie die Länder diese Regeln konkret umsetzen.
Viele der Maßnahmen sind vorab bereits bekannt. Kanzlerin Merkel hält die aktuellen Pläne der Ampel für nicht ausreichend. Es müsse alles getan werden, um den exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen zu stoppen, sagte Merkel am Mittwoch nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur aus Teilnehmerkreisen in einer hybriden Sitzung der Unionsfraktion im Bundestag in Berlin. Was derzeit besprochen werde, reiche dafür nicht aus. Ist das so? Die Maßnahmen im Schnellcheck.
► 3G in Bussen und Bahnen
Geht es nach den Ampelparteien, sollen nur noch Geimpfte, Genesene oder negativ Getestete öffentliche Verkehrsmittel nutzen dürfen. Dazu müssen die Fahrgäste einen entsprechenden Nachweis vorlegen können. Die jeweiligen Beförderer sollen dazu verpflichtet werden, dies zu kontrollieren. Ausgenommen sein sollen Schülerinnen und Schüler sowie die Beförderung in Taxis.
Ist das machbar?
Fest steht: In anderen Ländern gibt es bereits vergleichbare Regeln. In Italien oder Frankreich etwa gilt die 3G-Regel in Fernzügen. In Deutschland jedoch wurde die Idee zuletzt kontrovers diskutiert, verschiedene Ministerien zweifelten an der praktischen und rechtlichen Umsetzbarkeit. Der geschäftsführende Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) warnte vor einem Verkehrschaos. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG sprach von einer unzumutbaren Belastung für das Zugpersonal durch die entsprechenden Kontrollen. Jetzt soll die geplante 3G-Regel nach Vorstellung der Ampelparteien "stichprobenhaft" überprüft werden.
Was bringt das?
"Wir werden durch 3G keine Infektionen von Ungeimpften verhindern", sagte der Virologe Christian Drosten bei der Anhörung zu den Gesetzesplänen. "Denn wir sind ja jetzt in einer Hochinzidenzsituation." Geimpfte könnten unerkannt infiziert sein und das Virus an Ungeimpfte weitergeben, auch in Bus und Bahn.
Entscheidend ist, wie wirkungsvoll die Regel tatsächlich kontrolliert wird. Die Vorgabe von "Stichproben"-Kontrollen lässt den Beförderern größeren Spielraum als ursprünglich geplant. Doch wenn die Menschen nicht auch tatsächlich bei vielen ihrer Fahrten kontrolliert werden, ist fraglich, ob sie sich an die Regel halten oder einen Nachweis mit sich führen werden.
► 3G am Arbeitsplatz
Auch im Berufsleben soll die 3G-Regel angewendet werden. An den Arbeitsplätzen, bei welchen "physischer Kontakt" zu anderen nicht ausgeschlossen werden kann, soll es für Beschäftigte ohne Impf-, Genesenen- oder Testnachweis keinen Zutritt mehr geben. Ob ihre Angestellten das auch wirklich einhalten, sollen die Arbeitgeber jeden Tag kontrollieren.
Ist das machbar?
Ja, weil mit dieser Regelung eine sogenannte Auskunftspflicht einhergehen soll – Beschäftigte seien demnach verpflichtet, einen entsprechenden Nachweis auf Verlangen vorzulegen. Das war bisher nicht so.
Was bringt das?
Auch hier gelten die Worte des Virologen Drosten, der davon ausgeht, dass in der momentanen Situation mit sehr hohen Infektionszahlen 3G-Beschränkungen die Infektion von Ungeimpften nicht verhindern können.
Im Gegensatz zur entsprechenden Regel in Bus und Bahn ist für Arbeitgeber jedoch eine Pflicht zur Kontrolle vorgesehen. Die Maßnahme dürfte also wirkungsvoller sein.
Da sich Impfverweigerer jeden Tag testen müssten, könnte außerdem ein Anreiz entstehen, sich doch noch impfen zu lassen. Denn derzeit müssen Nicht-Genesene oder Ungeimpfte (wenn sie fünf Tage pro Woche im Büro arbeiten) damit rechnen, zwei Tests pro Woche auf eigene Kosten zu machen. Unternehmen müssen wöchentlich nämlich nur zwei Tests anbieten, zusätzlich gibt es seit Kurzem auch wieder mindestens einen kostenlosen Bürgertest pro Woche.
► Homeoffice-Pflicht
Noch eine weitere Regelung erwartet die Arbeitswelt: Beschäftigten mit "Büroarbeiten oder vergleichbaren Tätigkeiten" muss Homeoffice ermöglicht werden. Es sei denn, das ist aus betrieblichen Gründen nicht möglich, etwa weil Post bearbeitet werden muss oder Waren ausgegeben werden müssen. Die Beschäftigten müssen das Homeoffice-Angebot annehmen, außer die Arbeit ist zu Hause nicht möglich, da es beispielsweise zu eng oder zu laut ist oder weil die nötige Ausstattung fehlt.
Ist das machbar?
Ja, die geplante Homeoffice-Pflicht orientiert sich an den Regeln, die bis Juni dieses Jahres schon einmal galten.
Was bringt das?
Eine zunehmende Zahl von Forschungsergebnissen legt nahe, dass Homeoffice ein wirksamer Hebel zur Reduktion von Infektionszahlen sein kann. Es sei "pandemiepolitisch durchaus geboten, auf die Verlagerung aller Jobs, deren Tätigkeitsprofile eine Ausführung im Homeoffice erlauben, in die heimischen Büros abzuzielen", schreibt etwa das Ifo-Institut in einer Auswertung von Homeoffice-Regelungen in der Corona-Pandemie.
Das bringt umso mehr, je mehr mitmachen. Laut der Untersuchung des Ifo-Instituts war das in der ersten Hälfte des Jahres ein Problem: "Mit um die 30 Prozent der Beschäftigten, die in den letzten sechs Monaten teilweise oder vollständig im Homeoffice tätig waren, wurde trotz der Einführung und Verschärfung der Homeoffice-Pflicht das Homeoffice-Potenzial von 56 Prozent bei Weitem nicht ausgeschöpft." Signifikant senken könnte die Maßnahme die Infektionszahlen also voraussichtlich nur, wenn deutlich mehr Unternehmen und Angestellte mitmachen.
► Testpflicht in Kliniken und Pflegeheimen
Beschäftigte und Besucher sollen Kliniken und Pflegeeinrichtungen nur noch mit aktuellem negativem Corona-Test betreten dürfen, unabhängig vom Impfstatus. Geimpfte oder genesene Beschäftigte können sich dem Entwurf zufolge auch täglich ohne Überwachung selbst testen oder zweimal pro Woche einen PCR-Test vorlegen. In Einrichtungen für Menschen mit Behinderung soll die Testpflicht ebenfalls gelten.
Ist das machbar?
Ja, in mehreren Bundesländern wird es schon so gemacht, nun soll die Regelung bundesweit eingeführt werden.
Was bringt das?
Auslöser für diese Verschärfung sind wohl wieder häufiger werdende Corona-Ausbrüche in solchen Einrichtungen. So starben zum Beispiel in einem Brandenburger Seniorenheim kürzlich elf Bewohner. Die Maßnahme wird die vierte Welle eher nicht stoppen, könnte dafür aber effektiv die Risikogruppen schützen.
Deshalb wurde die Maßnahme breit gefordert: "Eine solche Pflicht ist unabhängig vom Impfstatus dringend notwendig", sagte etwa die Präsidentin des Sozialverbands VdK Verena Bentele Anfang November.
► Harte Strafen bei gefälschten Tests und Impfnachweisen
Wer Corona-Tests, Genesenen- oder Impfnachweise fälscht, muss nach den Ampelplänen mit hohen Strafen rechnen. In besonders schweren Fällen des "unbefugten Ausstellens von Gesundheitszeugnissen", wenn "der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande" handelt, soll eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren möglich sein.
Ist das machbar?
Ja, dafür wird das Strafgesetzbuch entsprechend geändert werden.
Was bringt das?
Wie häufig es vorkommt, dass Menschen in Deutschland Impfnachweise fälschen, ist schwer zu sagen. Einzelne Berichte legen jedoch nahe, dass es durchaus ein größeres Problem darstellt. Erst am Mittwoch ist die Polizei in Hessen mit einer Großrazzia gegen Fälschungen von Impfpässen vorgegangen. Die Ermittler gehen von mindestens 300 Fälschungen aus, die für 100 bis 400 Euro verkauft worden seien.
Die Strafen sollen abschrecken. Denn: Nur wenn die vorgelegten Tests und Impfnachweise tatsächlich echt sind, können andere Maßnahmen wie die 2G- oder 3G-Regel überprüft werden und wirken.
► Auch nach Ende der "epidemischen Lage" harte Einschränkungen möglich
Nach dem Auslaufen der sogenannten epidemischen Lage nationaler Tragweite sollen die Bundesländer weiterhin besonders harte Maßnahmen verordnen können, so will es die Ampel. Dazu zählt sie etwa Einschränkungen und Verbote von Veranstaltungen in Freizeit, Kultur sowie Sport, aber auch Alkoholverbote und die Schließung von Hochschulen.
Außerdem sollen die Länder nun doch auch künftig die Möglichkeit haben, Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum anzuordnen. Darüber hinaus sind auch flächendeckende 2G-Regelungen möglich. Grünen-Chef Robert Habeck erläuterte in den "Tagesthemen": "Kontaktuntersagung oder 2G-Regelung heißt in weiten Teilen: Lockdown für Ungeimpfte. Das ist die Vulgärübersetzung."
Ist das machbar?
Ja, die Maßnahmen sind bereits aus früheren Phasen der Pandemie bekannt. Ein Lockdown für Ungeimpfte wäre aber eine neue Herausforderung für Polizei und Ordnungsämter, die die Maßnahmen kontrollieren müssten.
Was bringt das?
Experten sind sich einig, dass gerade Maßnahmen wie die nachträglich hinzugefügte Möglichkeit zu Kontaktbeschränkungen oder flächendeckende 2G- beziehungsweise 2G-Plus-Regelungen Wirksamkeit zeigen können. Dies gelte vor allem in den Regionen, die besonders von hohen Infektionszahlen betroffen sind.
► Was kritisieren Experten?
Gleichzeitig gilt aber auch: Einige der schärfsten Maßnahmen sollen nach Vorstellung der Ampel nicht mehr möglich sein, selbst wenn sich die Pandemielage noch weiter verschlimmert: Ausgangssperren soll es nicht mehr geben, ebenso wenig einen generellen Lockdown. Reisebeschränkungen oder die Schließung von Gastronomie- oder Hotelbetrieben sollen die Länder ebenfalls nicht mehr anordnen können. Ebenso sollen generelle Versammlungsverbote, Verbote religiöser Zusammenkünfte und Schulschließungen nach den neuen Regeln nicht mehr möglich sein.
"Die Ampelpläne gehen meiner Meinung nach noch nicht weit genug", sagt der Vorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß. Weitergehende Maßnahmen grundsätzlich auszuschließen, wie die Ampel das tue, halte er für einen Fehler. Dafür sei die Pandemieentwicklung zu unvorhersehbar.
Auch der Epidemiologe Hajo Zeeb von der Universität Bremen findet, dass die von der Ampel geplanten Maßnahmen nicht ausreichten, um das Infektionsgeschehen tatsächlich eindämmen zu können. "Es ist einfach nicht davon auszugehen, dass die Zahlen jetzt aufhören zu steigen", erklärte er in den "Tagesthemen".
► Was würde wirklich helfen?
Der Vorsitzende der DKG Gaß fordert: "Von Kontaktbeschränkungen für alle bis zu Schließungen muss der gesamte Instrumentenkasten in der vierten Welle denkbar sein, wenn eine veränderte Lage dies erfordert."
Der Epidemiologe Zeeb spricht sich sogar für einen kurzen Lockdown für alle aus. Restaurants, Veranstaltungen und Geschäfte müssten demnach noch einmal schließen.
Das ist auch der Tenor der deutschen Anästhesisten, die einen Brandbrief an die Politik formulierten: "Schließen Sie nicht unablässig einen Lockdown aus, denn dieser mag angesichts der bedrohlichen Lage das letzte Mittel sein – für Geimpfte und Ungeimpfte", schreiben sie darin.
Viele Virologen und Experten fordern einen sogenannten Not-Schutzschalter – der mit einmaligem Umlegen ein breites Spektrum an Maßnahmen auslöse, darunter die Schließung von Geschäften, Restaurants und Veranstaltungen sowie eine deutliche Kontaktreduktion.
Die Göttinger Physikerin und Modelliererin Viola Priesemann erklärt außerdem, dass Impfen und Boostern der "nachhaltigste Weg aus der Pandemie" sei. Israel habe die vierte Welle mit Auffrischungsimpfungen gebrochen.
In diesem Zusammenhang dringt die Bundesärztekammer auf einen klaren Fahrplan für Millionen Erst-, Zweit- und Drittimpfungen in diesem Herbst und Winter. Voraussetzung für die Beschleunigung der Impfkampagne sei es, "dass Bund und Länder jetzt geeignete Rahmenbedingungen für eine gleichermaßen sichere, unbürokratische und barrierearme Impfkampagne schaffen", heißt es in einem Schreiben von Ärztepräsident Klaus Reinhardt an die 16 Länderchefs, das Kanzleramt und den Bundesgesundheitsminister, aus dem die Zeitungen der Funke Mediengruppe zitieren. Darin fordert er etwa die Reaktivierung der Impfzentren, die Schaffung von Pop-up-Impfstellen und den Einsatz von Impfmobilen.
Vor einer Frage allerdings drückt sich die Ampel noch, der Impfpflicht. Diskutiert wird momentan eine für bestimmte Berufsgruppen, doch darüber soll erst in einigen Wochen entschieden werden. Die sei jedoch dringend notwendig, sagte der Virologe Ralf Bartenschlager t-online.
Auch die Union, die sich bald wohl in der Opposition befindet, hält die Pläne weiterhin für unzureichend. Der Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) kritisierte, dass die epidemische Notlage von nationaler Tragweite nicht verlängert werden soll. Es gebe überhaupt keinen Grund, dieses "erprobte Instrument" nicht mehr anzuwenden, urteilte Frei. Deshalb werde die Union im Bundestag beantragen, die epidemische Notlage über den 25. November hinaus weiter gelten zu lassen. Vor der Ministerpräsidentenkonferenz zur Corona-Pandemie hat auch der geschäftsführende Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) die Ampel-Parteien aufgefordert, die epidemische Lage nationaler Tragweite doch noch zu verlängern.
- Eigene Recherchen
- Corona Datenplattform 2021: Themenreport Homeoffice im Verlauf der Corona-Pandemie
- Ärztezeitung: Ärztevertreter reagieren gespalten auf Ampel-Pläne
- Ärzteblatt: Ampel-Koalition will Corona-Pläne verschärfen
- Tagesspiegel: Ampel-Parteien verschärfen ihre Corona-Pläne deutlich
- RND: Der "Not-Schutzschalter"
- ZDF: Nach Ausbruch in Seniorenheim – wo jetzt die Testpflicht gilt
- Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP, dpa und Reuters