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Schulstart ohne Impfungen und Tests: "Desaster auf ganzer Linie"


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Intensivmediziner übt Kritik
Schulstart ohne Impfungen und Tests: "Desaster auf ganzer Linie"

  • Sonja Eichert
InterviewVon Sonja Eichert

Aktualisiert am 21.02.2021Lesedauer: 8 Min.
Maske im Klassenzimmer: Nicht in allen Bundesländern ist sie während des Unterrichts Pflicht (Symbolbild).Vergrößern des Bildes
Maske im Klassenzimmer: Nicht in allen Bundesländern ist sie während des Unterrichts Pflicht (Symbolbild). (Quelle: Matthias Balk/dpa)
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Die Schulen öffnen vielerorts, einheitliche Konzepte fehlen jedoch. Kinderintensivmediziner Florian Hoffmann erklärt im Interview, warum das ein großes Problem ist – und wie es vermutlich weitergehen wird.

Am Montag dürfen in 10 von 16 Bundesländern Grundschüler wieder in die Schulen zurückkehren. Die Durchführung unterscheidet sich zwischen den Ländern teils erheblich, ebenso die Regeln, die für die Schüler gelten sollen. Auch an Teststrategien für Schüler und Lehrer mangelt es bisher.

Florian Hoffmann ist Intensivmediziner am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zudem leitet er die Sektion "Pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin" der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Im Interview erklärt er, warum die Schulöffnungen ein schwieriges Thema sind und was in den nächsten Wochen und Monaten zu erwarten ist.

t-online: Am Montag öffnen in vielen Bundesländern die Schulen zumindest teilweise wieder. Was halten Sie davon?

Hoffmann: Im Sinne der Bildung unserer Kinder ist es natürlich extrem wichtig. Aus infektiologischer Sicht habe ich aber schon Bauchschmerzen, weil wir überhaupt nicht wissen, wie sich das Infektionsgeschehen dadurch verändern wird. Auch weil die Verteilung der Varianten, vor allem der Variante B.1.1.7. aus Großbritannien, noch nicht klar ist in Deutschland. Daher kann die Öffnung der Schulen nur unter maximal großen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Mit der Hälfte der Klassenstärke, mit Schutzmaßnahmen, die eingehalten werden müssen, und optimalerweise mit regelmäßiger Testung. Wir brauchen sichere Bedingungen. Aber mir ist völlig unklar, wie das laufen soll.


Gesundheitsminister Spahn hat kostenlose Schnelltests ab dem ersten März versprochen, und auch die Laientests sollen im März zugelassen werden. Hätte man bis dahin warten sollen?

Aus Sicht der Intensivmedizin: absolut ja. Auch die Lockerung der Lockdown-Maßnahmen zum 7. März werden als sehr kritisch angesehen, die müssen eventuell auch noch mal verlängert werden. Denn auch wenn die Zahlen sich jetzt gerade positiv entwickeln, wir pendeln uns auf einem relativ hohen Plateau ein: Es gibt Berechnungen, dass die Infektionszahlen wieder ganz massiv nach oben schnellen werden, eben wegen dieser neuen Varianten. Zudem muss man auch sagen: Herr Spahn hat diese Tests zwar versprochen, wir haben aber diese Testkapazitäten einfach nicht ab dem ersten März verfügbar. Da wünscht man sich, dass diese Konzepte schon viel weiter fortgeschritten wären und früher vorbereitet gewesen wären.

Das klingt nach einem verheerenden Zeugnis für die Politik.

Es zeigt, dass das Schulproblem noch nicht wirklich als solches erkannt ist. Und dass da sehr viel versäumt wurde. Es gibt Schulen ohne Internetzugang. Wenn die Kinder da in die Notbetreuung gehen, darf das Kind den ganzen Tag spielen, weil es am virtuellen Unterricht nicht teilnehmen kann. Es gibt keine Raumlüftungen, darüber reden wir jetzt ein Jahr. Es gibt keine Testungen. Und die Schüler sind sicher die Gruppe, die mittlerweile mit am meisten unter der Pandemie leidet.

Können Sie das erklären?

Wir wissen, dass Depressionen und Zwischenfälle in Familien häufiger geworden sind. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind voll. Überfüllt. Da liegen die Kinder zum Teil zu fünft im Dreierzimmer, zwei mit Matratzen auf dem Boden, weil es keinen Platz mehr gibt. Umso wichtiger wäre es, zu einer Normalität zurückzukommen. Aber das ist noch ein weiter Weg. Ich denke, vor Herbst, Winter, werden wir hier kein normales Leben haben.

Wie ist die Lage bei Ihnen in der Kinderklinik?

In den Kinderkliniken ist die Lage relativ entspannt gewesen, weil wir nur ganz wenige Kinder hatten, die stationär aufgenommen werden mussten oder sogar auf der Intensivstation gelandet sind. Wir sehen jetzt aber immer mehr eine Corona-Folgeerkrankung, das PIMS-Syndrom, das Kinder wirklich sehr krank machen kann. Das sind aber trotzdem nur Einzelfälle.

Kinder kommen also eher wegen Folgeerkrankungen zu Ihnen auf die Intensivstation als durch die Corona-Infektion selbst?

Sowohl als auch. Wir hatten schon ein paar Kinder mit Corona-Infektion, das waren oft chronisch kranke Kinder. Auch diese Post-Corona-Erkrankung, dieses PIMS-Syndrom, ist eine Rarität. Wir haben jetzt vier solcher Patienten diagnostiziert. Deswegen ist das in der Kinderklinik alles Jammern auf hohem Niveau. Die Pandemie ist an der Kindermedizin völlig vorbeigegangen. Es war im Gegenteil sogar so, dass wir viele Erkrankungen, die wir im Winterhalbjahr sonst sehr gehäuft sehen, überhaupt nicht hatten. Wir haben überhaupt keine Infektionserkrankungen mehr und es passieren weniger Unfälle.

Dr. Florian Hoffmann ist Oberarzt auf der Kinderintensivstation des Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Generalsekretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und leitet seit 2014 die Sektion "Pädiatrische Intensiv- und Notfallmedizin". Außerdem ist er im Vorstand der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) tätig und leitet den Münchner Kindernotarztdienst.

Was verbirgt sich hinter dem PIMS-Syndrom (Paediatric Inflammatory Multisystem Syndrome)?

Das sind Kinder, die eine Corona-Infektion durchgemacht haben, auch asymptomatisch. Wenn diese Infektion eigentlich schon überstanden ist, löst das Immunsystem eine hochentzündliche Erkrankung im Körper aus. Die Kinder bekommen sehr hohes Fieber, zum Teil Hautausschläge, zum Teil Rötungen der Augen, im Verlauf dann ganz starkes Erbrechen und auch Durchfall. Gepaart mit sehr hohen Entzündungswerten. Wahrscheinlich durch das Coronavirus ausgelöst, reagiert das Immunsystem des eigenen Körpers nicht angemessen. Das kann sich dann auf Organe niederschlagen.

Das hört sich bedrohlich an…

Besonders gefährlich wird es dann, wenn das Herz beteiligt ist, denn es kann zum schweren Versagen der Herzfunktion kommen – bis hin zum Herzinfarkt im Kindesalter. Man muss diese Erkrankung früh erkennen, dann kann sie gut behandelt werden. Es gibt viele Berichte aus England, aus den USA, die noch viel höhere Fallzahlen als wir hatten. Dort gibt es jetzt ganz massive Häufungen von diesem Erkrankungsbild.

Befürchten sie solche Häufungen auch in Deutschland?

Die haben wir jetzt schon. Wir haben in allen Städten Fälle. Und wenn wir eine dritte Welle kriegen, und wieder viele Kinder infiziert sein werden, dann wird das natürlich auch weiter vorkommen. Das Aufkommen der Erkrankung ist mit der Gesamtzahl an infizierten Kindern verbunden. Deshalb ist auch klar, dass das PIMS-Syndrom mit Corona-Infektionen zusammenhängen muss. Auch wenn der direkte Beweis bisher nicht erbracht ist.

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Wenn Kinder zuvor vielleicht nur asymptomatisch an Covid-19 erkrankt waren, wie wird das PIMS-Syndrom diagnostiziert?

Wenn die Eltern sagen, unser Kind hat vor vier Wochen Corona gehabt und hat jetzt so komisch Fieber, dann ist die Diagnose schon leichter. Schwieriger ist es, wenn die Corona-Infektion nicht bekannt war. Dann muss man die Antikörper messen, was meistens ein oder zwei Tage dauert. Insgesamt ist es aber immer noch eine seltene Erkrankung. Wir haben erlebt, dass die Krankheit nicht sofort erkannt wurde, obwohl die Kinder eigentlich sehr klare Symptome entwickelt haben. Es hat einfach noch nicht jeder auf dem Schirm.

Gibt es bestimmte Faktoren, die bei Kindern das Risiko erhöhen, am PIMS-Syndrom zu erkranken?

Nein, das ist völlig unklar. Warum 100.000 Kinder Corona haben und ein oder zwei davon hinterher PIMS kriegen, ist unbekannt.

Wenn Sie immer häufiger solche schweren Verläufe bei Kindern feststellen, ist es dann eine gute Idee, die Kinder wieder in die Schulen zu schicken?

Das Problem ist: Wir werden es erst hinterher wissen. Ohne das Auftreten der Varianten würde ich sagen, wir wären jetzt in sicheren Gefilden – ziemlich genau da, wo wir letztes Jahr auch im Mai/Juni waren. Dann gäbe es nach meiner Meinung überhaupt kein Problem, so wie damals die Schulen zu öffnen. Aber das ist jetzt völlig unklar. Man würde sich aus infektiologischer Sicht sicher wünschen, dass der Lockdown noch mal einige Wochen fortgesetzt wird, auch in der Schule. Als Eltern oder auch als Kinderarzt wünscht man sich aber sicher, dass es mit der Schule wieder weitergeht. Denn das, was da noch an Folgen auf uns zukommt, ist auch noch völlig unklar. Ich möchte wirklich nicht in der Haut derer stecken, die das entscheiden müssen. Wenn es jetzt gut geht, wird es heißen: super gemacht! Andernfalls kommt: Ihr Idioten habt die Schulen aufgemacht, obwohl es doch alles klar war.

Wie hätten Sie denn entschieden?

Ich glaube, dass die Kinder wieder in die Schule müssen. Aber mir gehts jetzt ein bisschen zu schnell, ich hätte das viel langsamer gemacht. Ich würde den Lockdown bis Ende März verlängern, weil ich glaube, dass wir dann eine reale Chance haben, gut durch den Sommer zu kommen. Aber ich verstehe den Druck, den die Politik da bei den Schulen spürt.

Wenn Sie sagen, ohne die Varianten wäre es sicher: Gibt es inzwischen neue Erkenntnisse, wie sich die Varianten bei Kindern auswirken?

Dazu kenne ich keine Daten. Es gibt generell verschiedene Mutmaßungen. Vielleicht ist auch die britische Variante gar nicht ansteckender, sondern länger vorhanden und bewirkt dadurch mehr Ansteckungen. Wir wissen einfach noch zu wenig. Wir wissen nur aus den guten statistischen Kalkulationen: Wenn wir jetzt öffnen und so wenig Durchimpfung haben, dann wird die dritte Welle sehr stark verlaufen. Das ist eben das Problem: Wenn wir wüssten, was auf uns zukommt, dann würden wir es ja so machen, wie es am besten ist. Nun ist es ein Wettlauf.

Zwischen Virus und Impfungen?

Genau. Wir müssen bis zur dritten Welle schauen, dass wir genug geimpft haben, gerade in der Risikopopulation älter als 60 Jahre. Ich fürchte nur, wenn es so weitergeht wie aktuell, wird eine gute Durchimpfungsrate noch eine ganze Zeit dauern. Hier in München sind gerade mal die Mitte-80-Jährigen dran. Ich kenne ein Ehepaar. Er ist 86 und hat einen Impftermin bekommen, sie kam mit und ihr wurde dann gesagt, sie sind erst 81, sie sind noch nicht dran. Damit man mal ein Gefühl kriegt, wo wir gerade stehen: Es ist ein Desaster auf ganzer Linie, vor allem wenn man nach Israel schaut, die zeigen konnten, wie positiv sich eine hohe Durchimpfungsrate auswirkt.

Die Schulen werden also spätestens im Frühsommer wieder schließen müssen?

Wenn ich mir die Kalkulationen anschaue, kann ich mir kaum vorstellen, dass wir dieses Schuljahr vernünftig beenden werden. Denn der Sommer wird von der dritten Welle überschattet werden, die wird kommen. Weil Kinder trotzdem, auch wenn sie oft asymptomatisch erkranken oder nur mild, die Infektionen in die Familien tragen und dann Erwachsene anstecken, die Großeltern und so weiter. Ich befürchte, dass die Schulen dann wieder zumachen werden. Auch weil viele Lehrer, die über 50, 55, 60 sind, nicht zur Arbeit kommen werden. Sie sagen zurecht, warum soll ich als Risikopopulation mich dem Risiko aussetzen, wenn ich nicht geimpft bin. Ich verstehe nicht, warum Lehrer nicht in der Impfkategorie eins sind. Das zeigt, dass unsere Priorität nicht auf der Bildung liegt, und das ist dramatisch.

Was empfehlen Sie Eltern und Kindern?

Das A und O bleibt: Kontakt minimieren, Kontakt minimieren, Kontakt minimieren. Das wird uns erhalten bleiben, bis eine ausreichende Anzahl an Menschen geimpft ist. Dann die Händehygiene und das Tragen von Mund-Nasen-Schutz. Da braucht auch keiner Angst zu haben, dass der irgendeine CO2-Narkose oder Schädigung des Gehirns induziert, das ist völlig ungefährlich. Kinder, die in irgendeiner Form symptomatisch sind oder einen sicheren Kontakt hatten, auf keinen Fall in die Schule schicken. Ich würde mir wünschen, dass Schulen mit den Tests ausgestattet werden, wenn es sie dann gibt, und dass sie die Schüler regelmäßig testen. Das würde eine enorme Sicherheit reinbringen, selbst wenn die Tests nicht hundertprozentig zuverlässig sind. Ich glaube, nur so wird es funktionieren. Und dann werden wir sehen, wie lange.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Interview mit Florian Hoffmann
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