Neufassung des Infektionsschutzes Gegen dieses Gesetz laufen Verschwörungstheoretiker Sturm
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die einen sehen im neuen Infektionsschutzgesetz die Entmachtung des Parlaments, die anderen eine bessere rechtliche Grundlage im Kampf gegen Corona. Was stimmt? Ein Überblick.
Mit einer Neufassung des sogenannten Infektionsschutzgesetzes wollen die Regierungsparteien Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung in Deutschland auf eine solidere gesetzliche Grundlage stellen. Doch Kritiker der Corona-Maßnahmen, Impfgegner und Verschwörungstheoretiker laufen dagegen Sturm. Ihr Vorwurf: Kanzlerin und ihre Minister wollen sich so weitgehende Rechte am Parlament vorbei sichern.
Die Abstimmung im Bundestag am Mittwoch soll deshalb mit allen Mitteln verhindert werden. Und so werden Bundestagsabgeordnete mit Tausenden E-Mails bombardiert, wie CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in einer Sitzung der Unionsfraktion offenbarte – was die IT-Systeme der Politiker zum Absturz brachte.
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Im Netz wird gewütet: Straßensperren vor dem Reichstag werden gefordert, in Facebook-Gruppen von Corona-Leugnern und sogar der AfD offen über Gewalt gegen Politiker schwadroniert. Zudem ist immer wieder davon die Rede, dass die Regierung mit der Neufassung des Infektionsschutzes ein neues "Ermächtigungsgesetz" durchdrücken wolle. Mit einem solchen Gesetz hatte sich der Reichstag 1933 unter den Nationalsozialisten selbst entmachtet und Reichskanzler Adolf Hitler weitreichende Befugnisse übertragen.
Führende Politiker reagierten ob des Vergleichs entsetzt: "Wer das mit dem Infektionsschutzgesetz gleichsetzt und so komplett gegen unsere Geschichte argumentiert, dem geht es nicht um ernsthafte demokratische Auseinandersetzung. Dem geht es um das Kaputtmachen, um das Spalten", schreibt SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil auf Twitter.
Doch wer hat recht? Sind die Änderungen am Infektionsschutzgesetz tatsächlich das Ende des Parlamentarismus in Deutschland? Oder ist alles doch am Ende halb so wild? Ein Überblick:
Warum beschäftigt sich der Bundestag überhaupt mit dem Gesetz?
Das Infektionsschutzgesetz wurde 2000 vom Deutschen Bundestag beschlossen und löste damit das Bundesseuchengesetz ab. Der Staat darf demnach zum Infektionsschutz in die Grundrechte eingreifen. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens spielten weder das Virus SARS-CoV-2 noch die Erkrankung Covid-19 und damit mittlerweile geläufige Begriffe wie etwa Maske oder Abstand eine Rolle. Das Gesetz wurde daher im Zuge der Corona-Pandemie bereits im Frühjahr angepasst. Nun soll es noch einmal konkretisiert werden.
Was soll jetzt geändert werden?
Das Gesetz soll "Leitplanken" für Maßnahmen der Bundesländer schaffen, wie SPD-Rechtsexperte Johannes Fechner erläuterte. Das soll größere Rechtssicherheit und auch mehr bundesweite Einheitlichkeit bringen. Erstmals enthält das Gesetz einen Katalog möglicher Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie, wie Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum, Abstandsgebote, die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung sowie Beschränkungen für den Kultur- und Freizeitbereich und die Schließung von Schulen und Kitas.
- Corona-Gipfel: Die Beschlüsse im Detail
Genannt sind in dem neuen Paragrafen 28a außerdem Beschränkungen für Übernachtungsangebote, die Schließung von Einzel- oder Großhandel sowie von Gastronomiebetrieben, Absagen und Auflagen für Veranstaltungen. Bei religiösen Zusammenkünften und Demonstrationen – die besonderen Grundrechtsschutz genießen – sollen Maßnahmen nur zulässig sein, "soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen" die Corona-Eindämmung "erheblich gefährdet wäre". Zudem werden in dem Gesetz das Verkaufs- und Konsumverbot für Alkohol auf öffentlichen Plätzen oder zu bestimmten Zeiten genannt, ebenso die Anordnung von Reisebeschränkungen.
Was wird an dem Gesetz kritisiert?
Die SPD wollte einen Parlamentsvorbehalt, also das Recht von Bundestag oder Landtagen, Verordnungen zumindest im Nachhinein wieder zu kassieren, mit in das Gesetz schreiben. Daraus wurde allerdings nichts. Trotzdem hat das neue Infektionsschutzgesetz Sicherungsmaßnahmen: Angeordnet werden Schutzmaßnahmen weiterhin durch Verordnungen der Länder sowie bei Zuständigkeit auch des Bundes. Dabei wird ausdrücklich auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hingewiesen. Zudem müssen neben Gesundheitsaspekten auch soziale und wirtschaftliche Folgen geprüft werden.
Weiterhin müssen Einschränkungen künftig immer befristet sein und die Regierenden müssen den Parlamenten eine Begründung vorlegen, warum die jeweilige konkrete Maßnahme erforderlich ist. Einschränkungen von Demonstrationen oder von Gottesdiensten, die beide in besonderem Maße durch die Verfassung geschützt sind, sollen nur zulässig sein, wenn es dafür zur Pandemieabwehr keine Alternative gibt. Daher dürfte es für Regierungen schwer sein, sich über ein anderslautendes Parlamentsvotum hinwegzusetzen. Von einem dauerhaften Außerkraftsetzen grundlegender demokratischer Prinzipien kann deswegen keine Rede sein.
Was sagt die Opposition im Parlament dazu?
Die FDP, die die Pläne stark kritisiert, weist das Schlagwort "Ermächtigungsgesetz" entschieden zurück. "Ja, wir erleben eine massive Beschränkung von Grundrechten", sagte Vize-Fraktionschef Stephan Thomae. "Aber wir erleben keinen inneren Notstand. Es ist keine Diktatur. (...) Die Verfassung gilt, die Gewaltenteilung funktioniert, die Justiz arbeitet." Die AfD warnte vor massiven Schäden des Teil-Lockdowns im November. Sie fordert eine "Ständige Epidemiekommission", die Kriterien für die Feststellung einer nationalen epidemischen Lage erarbeiten soll. Dieter Janecek (Grüne) bemängelte, die Regelungen blieben "so rechtlich unbestimmt und ungenau wie die bisherige Rechtslage". Die Linke kritisierte Inhalt und einen knappen zeitlichen Rahmen des ganzen Verfahrens.
Welche Kritik kam von Juristen?
Bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss hatten Juristen einen ersten Entwurf ziemlich zerpflückt. "Von einem Beschluss der Regelung in seiner derzeitigen Fassung wird abgeraten", hieß es zum Beispiel in der Stellungnahme der Rechtswissenschaftlerin Anika Klafki von der Universität Jena. Union und SPD besserten dann nach. Aber noch immer ist etwa nicht eindeutig geregelt, bei welchem Infektionsgeschehen konkret welche Maßnahmen ergriffen werden dürfen, wie Kritiker monieren.
Was regelt das Gesetz noch?
Zudem regelt die Neufassung des Gesetzes weitere Aspekte des Zusammenlebens in der Corona-Pandemie:
- Es werden ausdrücklich die Infektionswerte von 35 beziehungsweise 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen als Schwellenwerte für Schutzmaßnahmen genannt.
- Zudem wird die geplante Priorisierung von Impfungen geregelt, also ein vorrangiger Anspruch von Menschen aus Risikogruppen, Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderen Bereichen, die als besonders wichtig eingestuft werden. Auf längere Sicht sollen Impfungen allen offenstehen, unabhängig von einer Krankenversicherung.
- Urlaubs-Heimkehrer aus Risikogebieten sollen anders als bisher keinen Verdienstausfall erhalten, wenn sie nach der Rückkehr in Quarantäne müssen. Eine gesetzliche Grundlage ist für die Pflicht vorgesehen, eine digitale Einreiseanmeldung vorzunehmen und den Aufenthaltsort in den zehn Tagen vor und nach der Rückkehr anzugeben.
- Voraussetzung für diese Vorgaben ist, dass der Bundestag eine "epidemische Lage von nationaler Tragweite" beschlossen hat – was derzeit der Fall ist.
- Fortgeführt wird die Regelung, dass Eltern bis März 2021 Entschädigungsansprüche bei einem Verdienstausfall haben, wenn sie wegen der Kinderbetreuung nicht arbeiten können.
- Neu festgelegt werden Kriterien für Ausgleichsansprüche von Krankenhäusern, die Betten für Corona-Kranke freihalten. Anders als im Frühjahr sollen diese nicht pauschal gewährt werden, sondern nur für bestimmte Kliniken sowie abhängig von den Infektionszahlen und einer Mangelsituation bei Intensivbetten.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP