Experte zur Bayern-Wahl "Ich rate davon ab, die CSU totzusagen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die absolute Mehrheit ist passé, die CSU wird nicht mehr allein regieren. Historiker Thomas Schlemmer erklärt die Niederlage. Und warum der CSU die größte Gefahr von den Grünen droht.
t-online.de: Herr Schlemmer, wie hat die CSU das große Strafgericht der Wähler bislang verkraftet? Immerhin hat die Partei zweistellig verloren.
Thomas Schlemmer: Ich könnte mir vorstellen, dass gestern Abend mancher CSU-Grande eine Flasche Sekt geöffnet hat und dachte: "Wir sind noch einmal davongekommen". Bei aller Enttäuschung über das Wahlergebnis herrschte in der Partei doch Erleichterung vor, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. Als die Hochrechnungen die Marke von 37 Prozent überschritten, kam sogar wieder etwas Selbstvertrauen in der CSU-Führung auf.
Immerhin hat die CSU das zweitschlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte eingefahren. Nur 1950 schnitt die Partei noch schlechter ab.
Das ist richtig. Man muss aber bedenken, dass Umfragen zeitweise die Möglichkeit der absoluten Katastrophe aufscheinen ließen: eine Regierungsbildung in Bayern ohne Beteiligung der CSU. Auch eine unbequeme Konsequenz aus ihrer Wahlniederlage bleibt der Partei aller Wahrscheinlichkeit nach erspart: Ein Zwangsbündnis mit den Grünen, die sich das teuer hätten abkaufen lassen.
Stattdessen ist eine Koalition aus CSU und Freien Wählern denkbar.
Das wäre eine Art CSU-light-Regierung. Auch wenn die Freien Wähler bislang etwas poltern, sind sie inhaltlich nicht sehr weit von der CSU entfernt. Markus Söder hat im vergangenen März bei der Bildung seiner Regierung auch schon vorsorglich Sollbruchstellen für den Fall einer Koalitionsbildung vorgesehen: Das bayerische Wissenschaftsministerium wird beispielsweise von einer zum Zeitpunkt ihrer Ernennung noch parteilosen Professorin geleitet. Eine Neubesetzung an dieser Stelle würde im Parteienproporz nicht wehtun.
Dr. Thomas Schlemmer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Münchner Institut für Zeitgeschichte sowie stellvertretender Chefredakteur der Fachzeitschrift "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" und Privatdozent am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität. Der habilitierte Historiker ist Experte für die Geschichte der Christlich-Sozialen Union in Bayern.
Sprechen wir über die Gründe für den Niedergang der CSU. Hat sich die Partei in den letzten Jahrzehnten durch ihren Erfolg einfach inhaltlich verbraucht?
Auch angesichts des gestrigen Wahlergebnisses würde ich nicht von einem Niedergang sprechen. Die CSU ist in Bayern seit 1957 ununterbrochen an der Macht, den Großteil dieser Zeit regiert sie ohne Koalitionspartner. Wenn sich die CSU inhaltlich durch ihren Erfolg erschöpft hätte, würde sich dies anders bemerkbar machen. Landespolitisch hatte die Partei in den letzten Jahren ja durchaus Erfolge zu verzeichnen.
Warum dann jetzt diese Abrechnung der bayerischen Wähler mit der CSU?
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die CSU hat ein Problem damit, von ihren eigenen Erfolgen und denen des Landes Bayern zu profitieren. Der Arbeitsmarkt ist robust, Bayern hat nicht nur einen ausgeglichenen Haushalt, sondern zahlt sogar Schulden zurück. Obendrein investiert der Freistaat in die öffentliche Infrastruktur. Die Bayern haben sich allerdings an diese Form von Erfolg und Wohlstand gewöhnt. Sie schreiben dies nicht unbedingt der regierenden Partei zu. Zudem tritt in Bayern nun etwas verspätet der Trend ein, der das übrige Deutschland schon seit längerer Zeit verändert.
Welcher wäre das?
Das deutsche Parteiensystem erfährt seit Ende der Achtzigerjahre einen Prozess der Desintegration und Polarisierung. Dieser Trend traf zuerst die SPD, dann die CDU und nun auch die CSU. Bindekräfte, die bislang soziale Milieus zusammengehalten haben, verlieren Einfluss. Diesem langfristigen Trend kann sich keine Partei auf Dauer entziehen, jetzt auch die CSU nicht mehr.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen Sie die Religion: Sowohl die katholische als auch die protestantische Kirche, die sich in Bayern immer sehr stark um die CSU geschart haben, kämpfen mittlerweile mit einer abnehmenden Kirchlichkeit und einem schrumpfenden Kirchenvolk.
Beim genaueren Blick auf die Wahlergebnisse zeigt sich, dass sich am grundsätzlichen politischen Koordinatensystem in Bayern eigentlich nicht viel verändert hat.
Ganz genau. Wenn wir die Ergebnisse von Grünen, der Linkspartei und dem, was von der SPD noch übrig ist, zusammenrechnen, kommen wir auf etwa 30 Prozent der Stimmen, die das linke Lager ausmachen. Wenn man den Rest inklusive AfD zusammenzieht, auf etwa 70 Prozent. Bei den Wahlen 1974 etwa hat die CSU dieses Wählerpotenzial mit einem Ergebnis von 62,1 Prozent quasi komplett ausgeschöpft. Heute differenziert sich dieses politische Lager allerdings viel weiter aus und verteilt seine Stimmen unter anderem auf CSU und Freie Wähler. Oder eben auch die AfD.
Das kann aber nicht der einzige Grund für die Wahlniederlage sein.
Inhaltlich tut sich die CSU sehr schwer damit, auf bestimmte politische Fragen schlüssige Antworten zu finden. Das hat auch mit ihrem Selbstverständnis als Volkspartei zu tun: Je pluraler und individualisierter eine Gesellschaft ist, desto schwieriger wird es für Parteien, widerstreitende Interessen unter ihrem Dach zu integrieren, sie zu bündeln und folgerichtig umzusetzen. Beispiel Migrationspolitik: Für den einen Wähler reagiert man zu lax, für den anderen zu scharf. Diesen Spagat kann die CSU immer weniger vollziehen. So wechseln entsprechend unzufriedene Wähler und Mitglieder unter anderem zu den Grünen oder der AfD, wo sie ihre Interessen besser vertreten sehen.
Mit vielerlei Querelen hat sich die CSU aber doch in den letzten Monaten auch selbst geschadet.
Markus Söder wollte Horst Seehofer seit langer Zeit im Amt des Ministerpräsidenten beerben, Seehofer exakt dies verhindern. Diese Auseinandersetzung hat die Partei und ihre Wähler bis zu ihrem Ende im März 2018 zutiefst verunsichert. Und der CSU auch ein denkbar schlechtes Image in der Presse beschert.
CSU-Parteichef Horst Seehofer ist seit seinem Wechsel als Innenminister nach Berlin keineswegs stiller geworden.
Auf der Sachebene hat Seehofer als Bundesinnenminister in der Asyl- und Migrationspolitik viele seiner Forderungen durchgesetzt. Angesichts der Konflikte mit der CDU allerdings zu einem hohen Preis. Nicht zuletzt hat Seehofers persönliches Ansehen stark gelitten. Wenn aber das Ansehen eines Parteichefs beschädigt ist, schlägt das auch auf das Prestige seiner Partei durch.
Sind Seehofers Tage als Parteichef nun gezählt?
Seehofer ist noch für ein Jahr gewählt und wird 2019 70 Jahre alt. Bei Seehofer ist freilich alles denkbar. Ob die Partei nun angesichts des Wahlergebnisses vor Ablauf seiner Amtszeit handelt, wird sich zeigen. Wenn Seehofer allerdings nicht mehr Parteivorsitzender ist, dürften auch seine Tage als Minister gezählt sein.
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Welche Verantwortung trägt Markus Söder für die Verluste der gestrigen Wahl?
Der Fairness halber muss ich sagen, dass Söders Regierung erst seit März dieses Jahres im Amt ist. Da möchte ich kein Urteil fällen.
Die CSU hat einerseits zahlreiche Stimmen an links in Form der Grünen abgegeben, andererseits auch viele Wähler an die AfD am rechten Rand verloren. Wie wird sie darauf reagieren?
Die AfD hat die CSU am rechten Rand ihrer Wählerschaft stark unter Zugzwang gebracht. Für diese Situation gibt es ein historisches Beispiel: Und zwar holten die Republikaner bei den Europawahlen 1989 14,6 Prozent in Bayern. Die CSU hat darauf reagiert, in dem sie die Republikaner als rechtsextrem brandmarkte und ihnen zugleich Themen aus der Hand nahm. Es hat zwar eine Zeit lang gedauert, aber letzten Endes wurde man die Republikaner so wieder los. Es hängt allerdings heute viel davon ab, wie sich die AfD im bayerischen Landtag verhalten wird. Die Erfahrung aus anderen Landesparlamenten zeigt, dass die Partei dort erst mal Krawall macht und vor allem mit sich selbst beschäftigt ist.
Mit harten Positionen in der Flüchtlings- und Migrationspolitik hatte die CSU ja bereits damit begonnen, der AfD Konkurrenz auf diesem Politikfeld zu machen.
Die CSU tritt für einen starken Staat ein. Innere Sicherheit ist sozusagen ihr Markenkern. Die Vorgänge 2015 im bayerisch-österreichischen, aber auch bayerisch-tschechischen Grenzgebiet haben viele Bürger – CSU-Wähler oder nicht – als ein Versagen des Staates empfunden. Auf diesem Feld wollte die CSU wieder Boden gut machen. Und natürlich der AfD entgegentreten. Im Bereich der Sozialpolitik versucht die CSU ebenfalls, dem Populismus der AfD etwas entgegenzusetzen. Beispielsweise durch ein bayerisches Pflege- und Familiengeld. Das ist natürlich auch wahltaktisch motiviert, teuer und zum Teil mit heißer Nadel gestrickt.
Die Auseinandersetzung mit den Grünen wird auf lange Sicht wahrscheinlich schwieriger als mit den Rechtspopulisten von der AfD.
Die Grünen sprechen zurzeit offensichtlich Wähler an, die die CSU nicht erreicht. Nehmen Sie das Beispiel München, die Grünen sind dort stärkste Partei geworden. Sie sind eine junge und vor allem eine urbane Partei. Und Bayern wächst in den Städten. Vor allem durch die Zuwanderung junger Menschen, für die eine nachhaltige Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft im Zeitalter des drohenden Klimawandels sehr wichtig ist.
Man könnte also von einer offenen ökologischen Flanke der CSU sprechen.
Die CSU hat mehrere offene Flanken, die Ökologie ist nur eine davon. Eine andere ist die Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Viele Frauen gibt es nicht in der Parteiführung, von ein paar Ausnahmen abgesehen. Da besteht Handlungsbedarf. Zudem muss die CSU digitaler werden und sich etwa die Frage stellen, wie man Wahlkampf im 21. Jahrhundert führt. Man hat das Gefühl, dass sie da noch fremdelt. Nicht zuletzt sollte sie Neubürgern aus dem übrigen Deutschland, aber auch aus dem Ausland, bessere Angebote machen. Das schöne Bayern, das die CSU sozusagen im Wappen trägt, verändert sich mit großer Geschwindigkeit. Parteien, die diese Veränderungen nicht nachvollziehen können, werden den politischen Preis dafür zu zahlen haben.
Wie steht es mit den Muslimen, die in Bayern leben?
Gerade hier sollte die CSU Positionen überdenken und sich um Wählerinnen und Wähler bemühen, die sich zum Islam bekennen. Hier gäbe es sicher Berührungspunkte bei bestimmten Werten oder auf dem Feld der Familienpolitik.
Welche Veränderungen empfehlen Sie der CSU noch?
Aus meiner Sicht fehlen der CSU mehr und mehr die ruhigeren, auf Ausgleich bedachten Politiker, die als Kit einer immer heterogeneren Partei dringend nötig sind neben den Polarisierern und Scharfmachern. Die Partei wird sich in jedem Fall personell erneuern müssen, auch wenn das vermutlich ein schmerzhafter Prozess sein wird.
Die CSU ist nicht nur eine bayerische Landespartei, sie übt auch erheblichen Einfluss in Berlin aus. Welche Auswirkung wird das Wahlergebnis auf die Bundespolitik der CSU haben?
Das ist schwer zu sagen und hängt sehr von den politischen Konstellationen in Berlin ab. 1949 ist die CSU mit lediglich 29 Prozent der bayerischen Wählerstimmen in den Bundestag eingezogen. Weil die CDU allerdings auf die Stimmen der Abgeordneten aus Bayern angewiesen war, konnte die CSU sehr viel für sich und den Freistaat herausschlagen. Und den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer zu dessen Leidwesen trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche immer wieder ärgern.
Eine letzte Frage: Ist mit einem großen Comeback der CSU in den nächsten Jahren zu rechnen?
Der volatil gewordene Wählermarkt des 21. Jahrhunderts bietet sowohl große Chancen als auch Risiken. Schauen Sie auf das jetzige Wahlergebnis der Grünen. Ich rate jedenfalls davon ab, die CSU totzusagen.
Herr Schlemmer, vielen Dank für das Gespräch!