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Wut in Chemnitz: "Manche Kränkung kann keine Demokratie kompensieren"


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Chemnitz und die Wut
"Diese Kränkung kann keine Demokratie kompensieren"

  • David Ruch
InterviewVon David Ruch

Aktualisiert am 04.09.2018Lesedauer: 7 Min.
"Recht auf Zukunft": Teilnehmer der Pro-Chemnitz-Kundgebung, an der auch zahlreiche Rechtsextremisten teilnahmen.Vergrößern des Bildes
"Recht auf Zukunft": Teilnehmer der Pro-Chemnitz-Kundgebung, an der auch zahlreiche Rechtsextremisten teilnahmen. (Quelle: Boris Roessler/dpa)
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In Chemnitz gingen Tausende Bürger nach dem Mord an einem 35-Jährigen auf die Straße. Neonazis und Rechtsextremisten griffen Journalisten und Migranten an. Was sind das für Menschen und woher kommt ihre Wut? Fragen an den Landesbeauftragten der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sachsen, Joachim Klose.

Herr Klose, sind das alles Nazis und Rechtsextreme, die da in Chemnitz bei „Pro Chemnitz“, AfD oder Pegida demonstrieren?

Joachim Klose: Natürlich nicht. Aber wir haben es in Sachsen – und nicht nur dort im Osten – mit einer Gesellschaft zu tun, die in Schieflage geraten ist, die leicht empfänglich ist für Parolen vom rechten Rand. Vor drei Jahren brach sich das schon in Dresden Bahn, jetzt in Chemnitz. Aber das rechtfertigt natürlich nicht das Unanständige. Dass man mit Rechtsextremen mitmarschiert, dafür kann es kein Verständnis geben.

Was konkret ist da in Schieflage geraten?

Wir haben im Osten eine Gesellschaft, die nach der von gewaltigen Umwälzungen begleiteten Zeit der Wende zur Ruhe kommen wollte. Das konnte sie aber nicht. Hinzu kam, dass sich die Transformation mit großer Geschwindigkeit vollzog. Die Menschen hätten dieses Tempo gern abgebremst und zurückgefahren. Doch dann kam es zu Prozessen, die neue Unruhe in die Gesellschaft trugen.

Welche waren das?

Die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die Veränderung der Medienlandschaft. Es entstanden Zukunftsängste. Neiddebatten brachen los, die sich nicht nur gegen Ausländer richteten. Die älteren Menschen sahen, wie die jüngere Generation in den Genuss von Dingen kam, die ihnen immer verwehrt blieben. Daraus entstand eine Haltung, jede Form von Veränderung intuitiv abzuwehren. Und die negativen Effekte der Veränderungen wurden zur Lunte an einem Pulverfass.

Warum äußert sich das in Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit?

Es gibt einen Ressentiment-getränkten Nährboden in den neuen Bundesländern. Schon zu DDR-Zeiten waren Vorbehalte gegen Andersdenkende und Fremde weit verbreitet. Die Auseinandersetzung mit dem Abweichenden gehörte nicht zur Normalität.

Joachim Klose hat Physik, Theologie und Philosophie studiert. Er war wissenschaftlicher Referent am Deutschen Hygienemuseum in Dresden und Gründungsdirektor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen. Seit 2007 ist er Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für den Freistaat Sachsen. In seiner Arbeit befasste er sich unter anderem mit Ethik und Werten, mit Religion und Kirche, sowie intensiv mit der DDR-Geschichte und den neuen Bundesländern.

Und das wurde mit der Wende noch stärker?

Bereits vor dem politischen Umbruch gab es etwa in Sachsen eine relativ starke rechte Skinheadszene. Nach der friedlichen Revolution trafen dann die NPD, die Republikaner und andere rechte bis rechtsextreme Gruppen auf eine Gesellschaft in Orientierungslosigkeit. Sie suchten einen Nährboden für ihre Ideologie und fanden ihn im Osten.

Warum vermissten so viele Menschen damals Orientierung?

Schauen Sie sich nur einmal den Beruf der Verkäuferin an. In der DDR war diese Tätigkeit mit einer gewissen Macht, nämlich der Verteilung von Gütern in einer Mangelgesellschaft, verbunden. Das Brach mit der Wende selbstverständlich weg. Und solche Erfahrungen eines individuellen Verlustes von Macht und Ansehen, des Nicht-mehr-gewürdigt-Seins, erlebten viele Menschen. Diese narzisstische Kränkung kann keine Demokratie kompensieren.

Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping beklagte jüngst in einem Interview, dem Freistaat sei durch die Abwanderung nach der Wende eine ganze Generation abhandengekommen. Wie groß war dieser Einschnitt?

Sachsen hat seit Beginn der friedlichen Revolution in der DDR rund eine Million Menschen durch Flucht oder Abwanderung verloren. Das ist ein Fünftel der gesamten Bevölkerung. Vor allem junge Leute gingen weg, zurück blieb eine überalterte Gesellschaft. Chemnitz ist heute die Großstadt mit dem höchsten Durchschnittsalter in Europa, 50 bis 51 Jahre.

Und noch etwas kommt hinzu. In der Mehrzahl waren es junge Frauen, die den Freistaat verließen. Wir haben einen Männerüberschuss in Sachsen von elf Prozent. In Johanngeorgenstadt beträgt er 30 Prozent. Vor allem im ländlichen Raum finden junge Männer weder eine Arbeit noch eine Partnerin. Und dann greifen sie die Meinungen der älteren, durch die Wende enttäuschten und frustrierten Menschen auf.

Hat dieser Frust auch mit dem DDR-Erbe zu tun?

Die DDR hat bei der Zerschlagung von Vereinen und Verbänden ganze Arbeit geleistet. Sie hat diese durch gleichgeschaltete Strukturen ersetzt. Diese wurden wiederum im Zuge der Wiedervereinigung als ideologische Altlast aufgelöst. Heute fehlen diese Bezugspunkte, sie müssen erst wieder aufgebaut werden. 1945 waren 95 Prozent der Sachsen christlich, 1988 noch 44 Prozent. Doch dieser Prozess setzte sich nach der Wende fort. Heute geben noch 25 Prozent in Sachsen an, christlich zu sein. Woran orientieren sich die Menschen, was macht ihren Lebenssinn aus? Es fehlt vielerorts im Osten an einer reichen Kultur- und Vereinslandschaft. Der Einzelne steht der Politik und den Behörden dort oft allein gegenüber.

Und wendet sich von den demokratischen Institutionen ab.

Im Osten fehlt es massiv an politischer Beteiligung. Nur 0,75 Prozent der Ostdeutschen engagieren sich in Parteien. Politisch gesehen ist das ein Notstandsgebiet. Sie müssen mit diesen Leuten aber Politik machen.

Man gewann zuletzt den Eindruck, dass das in Sachsen ein besonders großes Problem sei. In vielen Medien wurde auf die Sachsen eingedroschen.

Auf komplexe Situationen gibt es keine einfachen Antworten. Die Sachsen bieten nun mal eine ideale Projektionsfläche. Sie stehen stellvertretend für Ostdeutschland schon aufgrund des singulären Dialekts. Außerdem brauchen sie eine gewisse Bevölkerungsdichte, um Unmut sichtbar zu machen. Hinzu kommt, dass die Sachsen stolz sind auf ihr Land. Ich kenne Dresdner, die würden die Stadt nie verlassen. Sie identifizieren sich mit den Prozessen in der Stadt und diskutieren intensiv jede Veränderung. Sie werden jetzt als Sündenböcke dargestellt für Fehlentwicklungen im ganzen Land. Manche Glosse, die in den vergangenen Tagen etwa im "Spiegel" erschien, war wirklich unerträglich und überhaupt nicht hilfreich für die Menschen, die vor Ort in Sachsen den Dialog voranbringen wollen.

Dieser Dialog war zuletzt sehr aufgeheizt. Er ging einher mit einer wachsenden Ablehnung der Demokratie im Osten – obwohl die Menschen Diktatur am eigenen Leib erfahren haben. Warum?

Wesentlich ist das unterschiedliche Zeiterleben in Demokratien und in Diktaturen. Die Geschwindigkeit von Prozessen ist ganz anders. In geschlossenen Gesellschaften können Entscheidungen einfach und schnell durchgesetzt werden, das Zeiterleben hingegen ist wie eingefroren, da sich wenig verändert. In der Demokratie hingegen verbreiten sich Informationen sehr schnell, gibt es ständig Prozesse von Veränderung. Aber politische Entscheidungen und die Veränderung des Volkswillens vollziehen sich sehr langsam. Parlamentarische Prozesse dauern ihre Zeit, und am Ende stehen eben Kompromisse.

Die Wahlergebnisse zeigen: Die Wähler im Osten tendieren weit stärker zu den Rändern als jene im Westen. Warum?

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Es geht doch um die Frage: Wie sehr sind wir bereit, andere Meinungen auszuhalten? Dass Streit um bestimmte Fragen in der Demokratie notwendig ist, dass Kompromisse notwendig sind, dass demokratische Prozesse viel Zeit brauchen, haben viele in dieser unruhigen Gesellschaft bis heute nicht verinnerlicht. Das dürfte ein Grund für die Stärke der Linken und der AfD in den östlichen Ländern sein. Die Ostdeutschen sind radikalisierter und aufgrund der eigenen Demokratieerfahrung weniger kompromissbereit. Außerdem stellen sie immer die Systemfrage, während in den alten Bundesländern eher die Frage nach konstruktiven Lösungen im Vordergrund steht.

Was hat die Politik seit der Wende versäumt?

Beim Aufbau der neuen Länder und ihrer demokratischen Institutionen war sie sehr erfolgreich. Aber sie hat die Frage ignoriert, wie sie mit dem Verlust von Sinnstrukturen in einer Gesellschaft umgeht. Das sah sie auch nicht als ihre vorrangige Aufgabe. Ohne Zweifel gibt es die blühenden Landschaften. Aber bei den weichen Faktoren hat die Politik gar nicht reagiert. Sie hat ignoriert, was die Menschen emotional bewegt. Jetzt, viele Jahre später, taucht das plötzlich auf.

Was taucht da konkret auf?

Solange die Menschen mit dem eigenen Aufbauprozess beschäftigt waren, hatten sie etwas, das für sie Sinn stiftet. Die Gründung einer eigenen Familie, einer eigenen Firma, der Bau des eigenen Hauses. Irgendwann sind diese Strukturen fertig und man stellt sich grundsätzliche Fragen: Wozu das alles? Was hält uns in der Gesellschaft, in Europa zusammen? An diesem Punkt sind wir jetzt. Und darauf war die Politik zu wenig vorbereitet.

Das führt zu der Diskussion um den Begriff Heimat.

In der Tat. Viele Menschen im Osten erlebten den Wendeprozess als Heimatverlust. Wer sich aber nicht beheimatet fühlt, der kann auch nicht selbstbewusst in die Zukunft gehen. Wenn dieser Rückhalt erodiert, dann hängt man in der Luft und kann sich nicht – um im Bild zu bleiben – in die Zukunft abstoßen. Dann beginnen die Menschen, sich rückwärts zu wenden und ihre Antworten in der Vergangenheit zu suchen. Schon wenn der Begriff Heimat in der Debatte auftaucht, ist es eigentlich zu spät. Dann ist schon etwas verloren gegangen, hat die Rückwärtsgewandtheit bereits eingesetzt.

Können Sie den Heimatverlust genauer beschreiben?

Heimat ist mit konkreten Orten verbunden. Wenn diese sich etwa baulich zu schnell verändern, fühlen wir uns nicht mehr beheimatet. Im Zuge der Wende passierte das vielerorts im Osten. Es ist der negative Effekt eines eigentlich positiven Prozesses. Heimat ist aber auch mit einem Sozialraum verbunden. Die jungen Menschen würden sagen, dass einzig der Sozialraum ihre Heimat sei. Wenn sie dann aber die Region verlassen, stellen sich die älteren, die vereinsamt zurückbleiben, die Frage nach dem Sinn ihrer Lebensleistung. Letztlich gehören zur Beheimatung auch die sinnstiftenden Bilder. Mit dem Sozialismus ist auch eine Utopie zusammengebrochen, die für viele Religionsersatz war.

Ist Heimat nicht auch gefühlter Raum?

Zur Heimat gehören bestimmte Narrative. Nach den Vorkommnissen von Chemnitz wird jetzt nach mehr politischer Bildung gerufen. Aber es geht hier auch um Grundfragen, wie etwa unsere Erzählung von Heimat lautet. Solche Debatten führen wir im Osten nun seit einigen Jahren. Im Westen, wo auch die Abwanderung aus dem Osten die Auswirkungen des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels temporär etwas abgemildert hat, tauchen jetzt die gleichen Fragen auf. Unsere Erfahrung damit zeigt, dass diese Prozesse von Anfang an moderiert werden müssen. Sonst besteht die Gefahr, dass man sie den Rechten überlässt.

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