Union nimmt AfD-Zustimmung in Kauf Führt er Deutschland auf die "Rutschbahn"?
Die Union bringt am Mittwoch umstrittene Anträge und am Freitag einen Gesetzesnentwurf für eine Verschärfung der Migrationspolitik in den Bundestag. Erstmals könnte dabei die AfD das Zünglein an der Waage sein.
Inhaltsverzeichnis
- Was war der Auslöser für die neue Migrationsdebatte?
- Worüber genau soll im Bundestag abgestimmt werden?
- Warum nimmt Merz die Zustimmung der AfD in Kauf?
- Wie stehen die Chancen bei den Abstimmungen?
- Wo kann man die Abstimmung live verfolgen?
- Was können Anträge überhaupt bewirken?
- Welche Kritik gibt es?
- Was sagt die AfD?
- Steht die Union hinter Friedrich Merz?
Eine Woche nach dem Messerangriff von Aschaffenburg mit zwei Toten stehen heute im Bundestag (ab 14.15 Uhr) harte Debatten und Abstimmungen über eine verschärfte Migrationspolitik an. Die Union will zwei Anträge zur namentlichen Abstimmung stellen. Zuvor beabsichtigt Kanzler Olaf Scholz (SPD), eine Regierungserklärung abzugeben.
Sozialdemokraten und Grüne warnten die Union und deren Kanzlerkandidat Friedrich Merz eindringlich davor, mit der AfD gemeinsame Sache zu machen. Diese hatte angekündigt, einem der Anträge und auch einem Gesetzentwurf, der am Freitag zur Abstimmung steht, zuzustimmen. Mehr dazu lesen Sie hier.
Sollten die Anträge der Union an diesem Mittwoch und der Gesetzesentwurf am Freitag mit Stimmen der AfD den Bundestag passieren, wäre das ein Novum. Noch nie war die in Teilen rechtsextreme Partei seit ihrem Einzug in das Bundesparlament das Zünglein an der Waage – weil die anderen Parteien jegliche Zusammenarbeit vermieden und Anträge so verfassten, dass sie für die AfD nicht zustimmungsfähig waren. Bis zu diesem Mittwoch.
Fällt nun die Brandmauer der Union, die eigentlich eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschloss? Worüber genau wird in dieser Woche im Bundestag abgestimmt? Und wie stehen die Chancen, dass Merz' Vorstoß Erfolg hat? t-online gibt einen Überblick.
Was war der Auslöser für die neue Migrationsdebatte?
Ein offenbar psychisch kranker Mann aus Afghanistan hatte am Mittwoch vergangener Woche einen zweijährigen Jungen mit marokkanischen Wurzeln aus einer Kindergartengruppe mit einem Messer getötet. Auch ein 41 Jahre alter Familienvater, der sich zwischen Angreifer und Kinder stellte, starb. Weitere Menschen wurden schwer verletzt, darunter ein zwei Jahre altes Mädchen syrischer Abstammung.
Der 28 Jahre alte Angreifer war ausreisepflichtig, er befindet sich in einer psychiatrischen Einrichtung. Der Tat ging eine Reihe anderer Attacken voraus, bei denen ebenfalls Ausländer unter Tatverdacht stehen.
Worüber genau soll im Bundestag abgestimmt werden?
Ein Antrag dreht sich um den von Unionsfraktionschef Friedrich Merz vorgelegten Fünf-Punkte-Plan. Gefordert werden dauerhafte Grenzkontrollen zu allen Nachbarländern, ein Einreiseverbot für alle Menschen ohne gültige Einreisedokumente, auch wenn sie ein Schutzgesuch äußern. Ausreisepflichtige sollen inhaftiert werden und Abschiebungen müssten täglich erfolgen.
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Der Bund soll die Länder beim Vollzug der Ausreisepflicht unterstützen – es sollen Bundesausreisezentren geschaffen werden. Ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder sollen in einem unbefristeten Ausreisearrest bleiben, bis sie freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren oder die Abschiebung vollzogen werden kann.
Der zweite Antrag trägt den Titel "Für einen Politikwechsel bei der Inneren Sicherheit". Die Unionsfraktion listet hier 27 Punkte auf, etwa Mindestspeicherfristen für IP-Adressen, mehr technische Befugnisse für Ermittler etwa zur elektronischen Gesichtserkennung, einen verbesserten Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden, eine Stärkung der Nachrichtendienste sowie härtere Strafen für Angriffe auf Polizisten, Rettungskräfte und Helfer. Über beide Anträge wird an diesem Mittwoch abgestimmt.
Schließlich steht am Freitag das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz der Unionsfraktion zur finalen Abstimmung. Die Neuregelung soll unter anderem den Familiennachzug zu Geflüchteten mit eingeschränktem Schutzstatus beenden. Die Bundespolizei soll, wenn sie in ihrem Zuständigkeitsbereich Ausreisepflichtige antrifft, aufenthaltsbeendende Maßnahmen durchführen dürfen.
Warum nimmt Merz die Zustimmung der AfD in Kauf?
Der Vorstoß von Merz wirbelt den Wahlkampf zur Bundestagswahl auf – und der CDU-Chef will sich davon nicht mehr abbringen lassen. Die Union werde sich weder von der SPD noch von den Grünen, "ganz sicher auch nicht von der AfD, sagen lassen, welche Anträge, welche Gesetzentwürfe wir im Deutschen Bundestag zur Abstimmung stellen", sagte Merz am Montag. "Das, was in der Sache richtig ist, wird nicht falsch dadurch, dass die Falschen zustimmen."
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Merz verteidigte am Dienstag die geplanten Abstimmungen über härtere Migrationsregeln im Bundestag. Außerdem weist er eine Zusammenarbeit mit der AfD trotz ihrer wahrscheinlichen Zustimmung zurück. "Die Zeit für Gespräche, für Arbeitskreise und für Diskussionsgruppen ist jetzt vorbei. Das ist jetzt die Zeit für Entscheidungen", sagte der CDU-Chef vor einer Sitzung der CDU/CSU-Abgeordneten in Berlin. "Unsere Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Es muss gehandelt werden, und zwar jetzt."
"Ich weiß dabei die ganz große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland in dieser Frage hinter uns, hinter mir und hinter der Union", sagte Merz. Die Union habe den Fraktionen von SPD, Grünen und FDP am Wochenende die entsprechenden Anträge zur Verfügung gestellt, "der AfD natürlich nicht", wie er betonte. "Mit denen diskutieren wir über solche Themen nicht." Die FDP habe mitgeteilt, dass sie sich den Anträgen anschließen werde, die Grünen hätten der Union heute eine Absage erteilt. "Von der SPD gibt es keine Antwort. Keine Antwort ist auch eine Antwort", sagte Merz.
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Er sehe "in der Partei und in der Bundestagsfraktion eine große Zustimmung und Übereinstimmung, diesen Weg zu gehen", sagte Merz. Auch in den Sitzungen der Landesgruppen der Unionsfraktion am Montagabend habe es von Schleswig-Holstein bis Bayern uneingeschränkte Zustimmung gegeben. Das ist wohl nur die halbe Wahrheit. Wie mehrere Medien am Dienstag übereinstimmend berichteten kündigte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther Widerstand im Bundesrat gegen das geplante Zustrombegrenzungsgesetz an, sollte die AfD ebenfalls dafür stimmen. Mehr dazu lesen Sie hier.
Wie stehen die Chancen bei den Abstimmungen?
Sollte es bei CDU/CSU (196 Sitze), FDP (90 Sitze), AfD (76 Sitze) und BSW (zehn Sitze) am Ende keine Abgeordneten geben, die sich enthalten, dagegen stimmen oder nicht anwesend sind, käme man bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf zusammen auf 372 Stimmen. Der Bundestag hat aktuell 733 Abgeordnete. Es würde also reichen.
Sollten nicht alle Abgeordneten dieser Parteien mit Ja stimmen, käme es womöglich auf das Abstimmungsverhalten der neun Fraktionslosen an. Sieben von neun Fraktionslosen gehörten früher der AfD-Fraktion an. Ein weiterer vertritt den Südschleswigschen Wählerverband, hinzu kommt Verkehrsminister Volker Wissing, der nach dem Ampel-Aus die FDP verlassen hatte.
SPD, Grüne und Linke tragen keines der drei Vorhaben mit. Die AfD hingegen will zumindest einem der Unionsanträge zustimmen: dem Fünf-Punkte-Plan von Merz. Dem Antrag zur Inneren Sicherheit wolle seine Fraktion jedoch nicht zustimmen, sagte AfD-Co-Chef Tino Chrupalla dem "Tagesspiegel". Dieser enthalte einerseits Punkte, durch die die Grundrechte deutscher Bürger eingeschränkt werden könnten. "Andererseits würden die außenpolitischen Maßnahmen der CDU/CSU einen baldigen Frieden in Europa verhindern", fügte Chrupalla hinzu. Den Fünf-Punkte-Plan will auch die FDP mittragen.
Ebenso hat sich das Bündnis Sahra Wagenknecht festgelegt: Die zehn BSW-Abgeordneten im Bundestag wollen sich bei der Abstimmung über den Fünf-Punkte-Plan von Merz zur Migration enthalten. Dies teilte Parteichefin Sahra Wagenknecht auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. Damit wird es für Merz sehr schwierig, mit AfD, FDP und Fraktionslosen eine Mehrheit zu bekommen.
Wagenknecht bekräftigte, dass das BSW den ebenfalls von Merz vorgelegten Plan mit 27 Punkten zur Inneren Sicherheit ablehnen wird. Auch dafür ist demnach eine Mehrheit unsicher.
Am einfachsten könnte es für den Gesetzentwurf am Freitag werden. Diesem wollen neben Union auch AfD, FDP und BSW zustimmen. Eine Mehrheit ist somit wahrscheinlich. SPD, Grüne und Linke lehnen die Unionspläne ab.
Wo kann man die Abstimmung live verfolgen?
Die Abstimmung, Debatte und Regierungserklärung des Kanzlers werden auf den einschlägigen Nachrichtensendern wie Phoenix, Welt und n-tv zu sehen sein. Auch t-online wird die Debatte live zeigen. Am Nachmittag gibt es einen Livestream sowie einen Ticker mit allen wichtigen Informationen und Hintergründen. Die ARD hat außerdem für die Liveübertragung aus dem Plenarsaal sogar ihr Programm geändert. Mehr dazu lesen Sie hier.
Was können Anträge überhaupt bewirken?
Auch wenn die Anträge am Mittwoch durchkämen, hätten sie nur appellatorischen Charakter und würden nicht direkt in ein Gesetz gegossen. Kanzler Scholz sagte am Dienstagabend bei einer Wahlkampfveranstaltung in Berlin, sie würden "erst mal gar nichts bewirken". Umso mehr sei es "empörend", dass die Union entgegen früherer Aussagen in Kauf nehme, dass eine Mehrheit nur mit Stimmen der AfD zustande komme, sagte der SPD-Kanzlerkandidat. Scholz warnte zugleich vor einer schwarz-blauen Mehrheit im Bundestag nach der Wahl.
Dem Gesetzentwurf müsste nach der Abstimmung am Freitag wegen der Verlagerung von Länderbefugnissen auf die Bundespolizei auch der Bundesrat zustimmen. Er würde in der Länderkammer voraussichtlich erst am 21. März behandelt – also nach der Bundestagswahl. Bisher zeichnet sich dafür aber auch keine Mehrheit im Bundesrat ab.
Welche Kritik gibt es?
SPD-Chef Lars Klingbeil sagte in der ZDF-Sendung "Wie geht's, Deutschland?", er sei "bestürzt", dass wahrscheinlich erstmals in der Geschichte des Landes Union und AfD gemeinsame Sache im Parlament machen. "Das wird unser Land verändern", sagte Klingbeil.
Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck appellierte via Instagram an seinen Konkurrenten von der Union: "Tun Sie es nicht, Herr Merz." Habeck sprach von einem "Scheideweg in der politischen Kultur unseres Landes". Die Union begäbe sich in die Fänge der AfD. "Dieses Verhalten jetzt macht Europa kaputt."
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Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe: "Dass Friedrich Merz just in Zeiten, in denen Europa eigentlich zusammenstehen muss, unsere europäischen Nachbarn vor den Kopf stößt, schadet Deutschland massiv."
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz vorgeworfen, mit der möglichen Abstimmung zusammen mit der rechtspopulistischen AfD am Mittwoch etwas in Deutschland ins Rutschen zu bringen. "Jeder Versuch, mit der AfD hier im Deutschen Bundestag abzustimmen, wird uns und wird unser Land auf eine Rutschbahn bringen. Und das weiß auch Herr Merz", sagte der SPD-Politiker am Dienstag in Berlin vor der Sitzung der Bundestagsfraktion. Er sprach dem CDU-Vorsitzenden die charakterliche Eignung ab, Bundeskanzler zu werden. Dafür seien "Integrität und Berechenbarkeit" nötig. "Und wenn man das nicht hat, dann kann man auch ein Land nicht führen, zumindest nicht das beanspruchen", sagte Mützenich.
Was sagt die AfD?
AfD-Co-Chefin und -Spitzenkandidatin Alice Weidel sieht sich mit der Union auf einer Linie. Sie sagte in der ZDF-Sendung "Wie geht's, Deutschland?", der Antrag mit fünf Punkten sei "von der AfD abgeschrieben" und enthalte Forderungen, die ihre Partei bereits seit Jahren vorgebracht habe.
AfD-Partei- und Fraktionschef Tino Chrupalla sieht den Kurs seiner Partei der vergangenen Jahre durch den Merz-Vorstoß bestätigt. Chrupalla nannte am Dienstag einzelne Punkte aus den Unionsvorlagen, wie dauerhafte Grenzkontrollen und eine generelle Zurückweisung aller Asylsuchenden an den deutschen Grenzen. Das seien "ganz neue Töne der CDU" und Forderungen, die die AfD seit Jahren gestellt habe. "Dem werden wir uns nicht verschließen, dem werden wir auch zustimmen."
Laut einem vorab bekannt gewordenen Entwurf steht in besagtem Unionsantrag auch die Passage: "Die AfD nutzt Probleme, Sorgen und Ängste, die durch die massenhafte illegale Migration entstanden sind, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren und Verschwörungstheorien in Umlauf zu bringen." Die AfD sei kein Partner, sondern politischer Gegner. Auf die Frage, wo bei der AfD die Schmerzgrenze sei, einem solchen Antrag trotzdem zuzustimmen, sagte Chrupalla: Die AfD sei Schmerz gewohnt und werde auf "solche Scharmützel nicht hereinfallen".
Steht die Union hinter Friedrich Merz?
Die Vizechefin der CDU, Karin Prien, verteidigte ihren Parteichef hingegen. "Ich stehe in der Sache an der Seite von Friedrich Merz", sagte Prien, die dem liberalen Lager der Partei angehört, dem "Stern". "Nur wenn eine Mitte-Rechts-Partei wie die CDU das Migrationsproblem in Deutschland gelöst bekommt, kann das die Erosion unserer Demokratie und den Aufstieg radikaler Kräfte noch abwenden", sagte sie.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte der "Rheinischen Post", das Land brauche eine "Kehrtwende in der Migrationspolitik" und vor allem einen Stopp der illegalen Migration. Er betonte zugleich: "Ich werde nicht eine Sekunde mit der AfD oder ihren Verantwortlichen zusammenarbeiten. Sonst bin ich nicht mehr hier. Das gilt auch für Friedrich Merz."
CSU-Chef Markus Söder verteidigte ebenfalls Merz' Kurs und das Vorgehen der Union gegen Kritik, für eine Mehrheit Stimmen der AfD in Kauf zu nehmen. Es gehe im Bundestag nun um eine sachlich gebotene Entscheidung. "Es ist auch keine Zusammenarbeit, deswegen wird auch keine Brandmauer fallen", sagte der bayerische Ministerpräsident in der ARD-Sendung "Maischberger".
- Nachrichtenagentur dpa
- Eigene Recherche