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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Rumoren über Koalitionsvertrag Giftpfeil in die Sozialdemokratie

Die Jusos schießen gegen den schwarz-roten Koalitionsvertrag, und Friedrich Merz reizt einmal mehr die Genossen. Droht der SPD-Mitgliederentscheid zu kippen?
Friede, Freude, Koalitionsvertrag? Nicht ganz. Nach mühsamen Koalitionsverhandlungen, die am Ende fast scheiterten, stehen die künftigen Koalitionäre vor der nächsten Nagelprobe: Union und SPD müssen nun ihre Parteien davon überzeugen, dass der Koalitionsvertrag nicht nur gut für Deutschland ist, sondern auch die jeweils eigene Handschrift trägt.
Die SPD hat die objektiv unangenehmere Aufgabe: Sie muss – satzungsgemäß – ihre rund 360.000 Mitglieder um Zustimmung bitten. Dass das alles andere als ein Selbstläufer wird, dürfte der SPD-Spitze spätestens jetzt bewusst werden.
Schuld daran ist der eigene Parteinachwuchs. Philipp Türmer, Chef der SPD-Jugendorganisation Jusos, sagte am Montagmorgen beim Sender n-tv, dass sich die Parteijugend klar gegen den Koalitionsvertrag positioniere: "Unser Votum lautet Ablehnung." Für die Zustimmung der Jusos bräuchte es "deutliche Nachbesserungen". Zu dieser Haltung sei der Bundesvorstand in enger Abstimmung mit den Landes- und Bezirksverbänden gekommen.
Frontalangriff der Jusos
Tatsächlich folgte die Bundesspitze damit dem Votum einiger Juso-Regionalverbände, die bereits am Wochenende ihr Nein zum Koalitionsvertrag ankündigten. Das zeigt: Die parteiinterne Skepsis über den Koalitionsvertrag ist weiter verbreitet als zunächst angenommen. Der SPD, deren Mitgliedervotum am Dienstag beginnt, stehen nun unruhige zwei Wochen bevor. Kippt das Ganze?
Vor allem das Thema Mindestlohn erzeugt Spannungen. Zwar ist im Koalitionsvertrag eine Erhöhung auf 15 Euro bis zum Jahr 2026 vorgesehen – ein Vorhaben, das die SPD im Wahlkampf massiv beworben hatte. Doch die Unionsspitze, allen voran der designierte Kanzler Friedrich Merz, interpretierte den Kompromiss im Koalitionsvertrag auf eigene Weise. Es gebe "keinen gesetzlichen Automatismus", sagte er der "Bild am Sonntag" am Wochenende.
Vermintes Gelände
Klar ist: Die Formulierung im Koalitionsvertrag lässt unterschiedliche Interpretationen zu: "Wir stehen zum gesetzlichen Mindestlohn", steht da. Für die weitere Entwicklung des Mindestlohns werde sich die Mindestlohnkommission an der Tarifentwicklung und an 60 Prozent des Bruttomedianlohns orientieren. "Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar."
"Erreichbar" ist nicht gleichbedeutend mit "wird definitiv kommen". Hat Merz womöglich nur den Stand der Dinge referiert? Oder wollte er mit seinen Äußerungen das verminte Gelände Mindestlohn tatsächlich neu vermessen – zum Ärger der Genossen?
SPD widerspricht Merz
In der SPD weist man Merz' Mindestlohn-Vorstoß am Montag geschlossen zurück. Der Wirtschaftspolitiker Sebastian Roloff kritisierte bei t-online den CDU-Chef deutlich: "Friedrich Merz ist gut beraten, sich an den Koalitionsvertrag zu halten. Es wird beim Mindestlohn eine ordentliche Erhöhung geben, hier wird nicht nachverhandelt", so Roloff, der auch Mitglied im SPD-Vorstand ist.
Das Timing von Merz' Äußerungen nennt Roloff "maximal unklug". Viele SPD-Mitglieder könnten nicht 144 Seiten Koalitionsvertrag lesen, ihr Abstimmungsverhalten sei stark geprägt von öffentlichen Äußerungen. "Wenn sich jetzt einige in der SPD von der Union hinter die Fichte geführt fühlen, weil sie fest mit 15 Euro Mindestlohn gerechnet haben, und deswegen mit 'Nein' stimmen werden, dann geht das auf das Konto von Friedrich Merz."
Auch der SPD-Generalsekretär Matthias Miersch widersprach dem CDU-Chef: "Merz hat gesagt, wir gehen beide von 15 Euro aus. Und dabei bleibt es für uns als SPD", sagte Miersch der Mediengruppe Bayern. Auf die Frage, ob der Mindestlohn von 15 Euro sicher komme, antwortete Miersch: "Er kommt."
Kernprojekt der Sozialdemokratie
Warum Merz gerade jetzt, kurz vor Beginn des SPD-Mitgliedervotums, einen Giftpfeil in die Sozialdemokratie schießt, ist den wenigsten in der SPD klar. "Ich verstehe es wirklich nicht, damit untergräbt er seine eigenen Karrierepläne", sagt ein führender Genosse.
Was der CDU-Chef, der bald Kanzler werden möchte, längst wissen müsste: Für die SPD ist der Mindestlohn nicht bloß ein Thema unter vielen, sondern ein Kernelement sozialdemokratischer Arbeits- und Wirtschaftspolitik. Der 15-Euro-Mindestlohn war für die SPD zudem ein zentrales Wahlversprechen, verbunden mit der Hoffnung, endlich wieder als Partei der Arbeiter und Angestellten wahrgenommen zu werden – ein Image, das die meisten Wähler derzeit eher der AfD zuschreiben.
Der niedersächsische SPD-Bundestagsabgeordnete Adis Ahmetović betont: "Als SPD stehen wir für die Fleißigen und Tüchtigen im Land. Leistungsträger müssen von ihrer Arbeit leben können. Ein Mindestlohn von 15 Euro ist daher sozial gerecht und zugleich arbeitsmarktpolitisch geboten."
Doch die Debatte finde auch auf einer weiteren Ebene statt, so Ahmetović zu t-online: "Ein höherer Mindestlohn und die Senkung der Steuer für niedrige und mittlere Einkommen stabilisieren auch unsere Demokratie. Alles andere wäre ein Konjunkturprogramm für die AfD."
"Nährboden für ein weiteres Erstarken der AfD"
Die Debatte über den Mindestlohn zeigt, wie unterschiedlich die kommende Koalition ihre Arbeitsgrundlage begreift: Beide eint das Ziel, die AfD durch gutes Regieren kleinzubekommen, doch bei der Wahl der Instrumente unterscheiden sich Union und SPD grundlegend. Während die Union vor allem mit einer Asyl- und Wirtschaftswende das Vertrauen der Bürger in die Politik zurückgewinnen will, sieht die SPD den entscheidenden Hebel woanders: in der Entschärfung sozialer Ungerechtigkeiten.
Der Chef der Jusos Bayern, Benedict Lang, sieht darin den entscheidenden Fehler der schwarz-roten Koalitionsverhandlungen: "Statt die in den Blick zu nehmen, die riesige Vermögen haben, führt der schwarz-rote Koalitionsvertrag vor allem zu Einschnitten bei den Schwächsten in der Gesellschaft", so Lang zu t-online. Am Wochenende hatten die bayerischen Jusos bei ihrer Landeskonferenz den Koalitionsvertrag einstimmig abgelehnt und dazu aufgerufen, beim SPD-Mitgliederentscheid mit Nein zu stimmen.
Lang sagt, er lehne eine Koalition mit der Union nicht per se ab, sondern den Koalitionsvertrag in seiner jetzigen Form. "Die zentrale Frage ist aus unserer Sicht: Ist dieses Dokument in der Lage, einen weiteren Rechtsruck in Deutschland zu verhindern? Unsere Überzeugung ist: Das ist er nicht", so der SPD-Jungpolitiker. Wer wie die Union eine Vermögens- und Erbschaftssteuer ablehne sowie aktuell die Entlastung kleinerer und mittlerer Einkommen öffentlich infrage stelle, der schaffe den "Nährboden für ein weiteres Erstarken der AfD", so Lang.
Druck auf Parteiführung
Für die SPD kommt die Debatte zur Unzeit. Gleichwohl verweisen führende Genossen darauf, dass der Juso-Vorstoß nicht den Charakter einer "NoGroKo"-Kampagne hat, mit der einst Kevin Kühnert die SPD-Spitze vor sich hertrieb. 2018 startete Kühnert als Juso-Chef eine monatelange, gut organisierte Kampagne gegen das erneute Eintreten der SPD in eine Große Koalition. Am Ende stimmte dennoch die Mehrheit der SPD-Mitglieder für die Koalition.
Und doch: Es ist nicht auszuschließen, dass es Langs und Türmers Truppen schaffen, in den nächsten zwei Wochen eine Dynamik zu erzeugen, die das Abstimmungsverhalten zahlreicher SPD-Mitglieder beeinflusst. Große Teile der SPD sehen das Bündnis mit der Union ohnehin eher als Zwangskoalition. Sollten Merz & Co. die Genossen weiter reizen, etwa indem sie Kompromisse öffentlich auffädeln, könnte ein Momentum entstehen, das die Statik der künftigen Regierung ernsthaft gefährdet.
Genug, um eine Mehrheit der rund 360.000 SPD-Mitglieder zu einem Nein zu bewegen? Eher unwahrscheinlich, da viele Sozialdemokraten keine Alternative zu Schwarz-Rot sehen. Aber eben nicht auszuschließen.
Spitzengenossen werben für Schwarz-Rot
Der Druck auf die SPD-Spitze, die Partei zusammenzuhalten, ist daher enorm. Partei- und Fraktionschef Lars Klingbeil appellierte an die staatspolitische Verantwortung der Genossen. Jedem müsse klar sein, welche Alternative es zu einer Koalition der politischen Mitte gebe, so Klingbeil am Sonntag in der ARD. Deutschland müsse in unsicheren Zeiten ein Ort der Stabilität sein. Dafür habe man einen "vernünftigen Koalitionsvertrag" vorgelegt.
Aber reichen Appelle und Zweckoptimismus, um den aufkeimenden Widerstand des SPD-Nachwuchses zu besänftigen? Wie ernst die SPD-Führung den Mitgliederentscheid nimmt, lässt sich an einer Veranstaltung am Montagabend in Hannover ablesen. Dort lud die SPD Niedersachsen zu einer "Dialogkonferenz", um zum Start des Mitgliedervotums für den Koalitionsvertrag zu werben.
Um nichts dem Zufall zu überlassen, reiste die SPD-Führung gleich mit sechs Spitzengenossen an: mit Klingbeil und seiner Co-Chefin Saskia Esken, Generalsekretär Matthias Miersch, Arbeitsminister Hubertus Heil, Verteidigungsminister Boris Pistorius und Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig.
Ob die Parteiführung ihre Mitglieder bis zur Frist am 30. April überzeugen kann, hängt jedoch nicht nur von ihr ab. In der SPD-Spitze hofft man daher hinter vorgehaltener Hand, dass der CDU-Chef sich in den nächsten zwei Wochen am besten gar nicht mehr äußert.
- Eigene Recherchen
- Gespräch mit Sebastian Roloff
- Gespräch mit Adis Ahmetovic
- Gespräch mit Benedict Lang