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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Konflikt um die Ukraine "Militärisch anspruchsvoll, aber für Russland machbar"
US-Außenminister Blinken nennt einen Angriff Russlands auf die Ukraine ein "reales Risiko". Doch wie könnte das ablaufen? Die wahrscheinlichste Option beinhaltet weder Soldaten noch Waffen.
Es ist die Woche der Diplomatie: Sie begann mit der Reise der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock in die Ukraine und nach Russland. Sie endet mit dem Gespräch von US-Chefdiplomat Antony Blinken und seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow in Genf an diesem Freitag. Die russischen Drohgebärden nahe der ukrainischen Grenze gehen unterdessen unvermindert weiter.
Das Problem: Bedeutende Fortschritte gibt es kaum. Russland verlangt weiterhin eine Garantie, dass die Ukraine niemals Mitglied des westlichen Militärbündnisses Nato wird und keine weiteren Waffen aus dem Westen erhält. Doch niemand erwägt derzeit ernsthaft, auf diese Forderung einzugehen.
Eine Kompromisslösung scheint kaum möglich:
- Gibt der Westen nach, würde ihn das erpressbar erscheinen lassen, auch wenn ein Nato-Beitritt der Ukraine kurzfristig ohnehin kein Thema ist. Faktisch aber Russland über Mitgliedstaaten entscheiden zu lassen und damit auch das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine zu beschneiden, wäre ein verheerendes Signal für den Westen.
- Gibt Russland nach und zieht seine Truppen ohne Zugeständnisse des Westens wieder ab, käme das einem erheblichen Gesichtsverlust für Präsident Wladimir Putin gleich – international, aber auch innenpolitisch.
Wegen dieser Ausgangslage nannte US-Außenminister Blinken eine militärische Eskalation ein "reales und hohes Risiko". Hinzu kommt: Sollte Russland eine Invasion planen, wären die kommenden Wochen bis Mitte März dafür nach Ansicht von Experten am besten geeignet. Dann sind die Böden im Osten der Ukraine üblicherweise gefroren und damit für Panzer leichter befahrbar.
Ist das alles nur "russlandfeindliche Hysterie", wie Russlands Außenminister Lawrow am Freitag verkündete? Auf jeden Fall lohnt ein Blick auf mögliche Szenarien einer militärischen Eskalation. Ein Überblick über einige Varianten, die derzeit diskutiert werden:
Szenario 1: Der Zangenangriff
Es ist das Horrorszenario der Ukrainer: Russland wagt eine vollständige Invasion der Ukraine und versucht die Kontrolle über das ganze Land zu gewinnen. Dazu würde Putin seine Soldaten wohl unter anderem über Belarus im Norden, über die Krisenregion Donbass im Osten und über die bereits annektierte Halbinsel Krim im Süden einmarschieren lassen. Auch US-Außenminister Antony Blinken betonte am Freitag, dass Russland mit seiner gegenwärtigen militärischen Aufstellung die Ukraine vom Süden, Osten und Norden her angreifen könnte.
Der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck, hält das jedoch für unwahrscheinlich. "Eine Militäroperation in diesem Ausmaß wäre an sich finanziell schon sehr teuer", sagt er. Die Ukraine würde sich mit allen Mitteln wehren und den Einmarsch auch für Russland sehr blutig machen. Sei der Krieg gewonnen, komme auf Russland die ebenfalls schwierige Aufgabe zu, seine Macht gegen wohl massive Widerstände in der ukrainischen Bevölkerung zu konsolidieren. Ein Erfolg? "Kaum vorstellbar", sagt Mangott. Von den massiven Sanktionen, die der Westen verhängen würde, ganz zu schweigen.
Szenario 2: "Alliierte Entschlossenheit" – Einmarsch über Belarus
Seit Dezember steht der Plan für die Militärübung "Alliierte Entschlossenheit". Nun hat Russland Truppen in das von Alexander Lukaschenko regierte Land verlegt, um angeblich im Februar gemeinsame Manöver mit dem belarussischen Militär zu starten. Die Übungen sollen im Westen an der Grenze zu Polen und Litauen sowie im Süden an der Grenze zur Ukraine vollzogen werden. Rund 13.000 Soldaten sowie Artillerie und Militärfahrzeuge hat Russland dafür bereits verfrachtet. Einige Experten halten das für eine Möglichkeit, über Belarus in die Ukraine einzumarschieren.
Experte Mangott sagt: "Truppenübungen in Belarus sind nicht ungewöhnlich". Derartige Manöver seien schon häufiger vorgekommen und auch recht kurzfristig durchgeführt worden. In diesem Fall seien die Truppen jedoch tatsächlich so stationiert, dass auch ein Einmarsch in die Ukraine möglich wäre. Dieses Szenario hält er allerdings für "militärisch unsinnig". Die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete liegen allesamt in einem anderen Landesteil – im Osten.
Szenario 3: Angriff über die Separatistengebiete im Osten
Wahrscheinlicher erscheint also eine begrenzte militärische Eskalation im Osten der Ukraine, bei der die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete gefestigt und ausgeweitet werden könnten. So hält Mangott den Einmarsch in den Gebieten Donezk und Luhansk für möglich, die noch nicht vollständig von den Separatisten kontrolliert würden.
"Dann ist auch eine Annexion denkbar", so Mangott. Die Voraussetzungen dafür habe Russland schon geschaffen, als es die 2014 durch die Separatisten ausgerufenen Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannt habe. Möglicherweise könnte Putin den Angriff dort auch erneut als Hilfe für die russischstämmige Bevölkerung deklarieren.
Maximal denkbar ist für Mangott auch die Schaffung einer Landbrücke zwischen diesen Gebieten und der Krim, wie er in einem früheren Interview mit t-online erklärte. Eine Operation dieses Ausmaßes sei "militärisch anspruchsvoll, aber für die russischen Streitkräfte machbar".
Auch weil dieses Szenario derzeit von vielen Experten als eines der wahrscheinlicheren eingestuft wird, sorgten Aussagen von US-Präsident Joe Biden am Mittwoch für so viel Aufregung. Er suggerierte, kleinere russische Aggressionen gegenüber der Ukraine könnten entsprechend auch nur für eine mildere Reaktion des Westens sorgen. Später stellte er klar: Jegliche Form eines Einmarsches russischer Truppen stelle eine Invasion dar und werde eine schnelle, starke und geeinte Antwort der USA und ihrer Verbündeten zur Folge haben. Zu spät?
"Joe Biden hat sich sehr unglücklich ausgedrückt", meint Mangott. Doch mittlerweile sei die Situation für Russland wieder klar: Auch ein militärisches Vorgehen bei Donezk und Luhansk werde scharfe Sanktionen nach sich ziehen. Sein Fazit deshalb: "Ich halte es für unwahrscheinlich, aber würde es nicht ausschließen".
Wenn Russland aber einen Grenzübertritt seiner Truppen nicht riskieren will, wie kann Putin dennoch sein Gesicht wahren? Dafür bringt Mangott andere Szenarien ins Spiel.
Szenario 4: Destabilisierung durch Cyberangriffe und Aufrüstung
Mangott hält einen Cyberangriff auf die kritische Infrastruktur für denkbar. Davon wären möglicherweise Wasserkraftwerke, Elektrizitätswerke, Bahnlinien und auch das Bankensystem und große Unternehmen des Landes betroffen. So könne Putin seinen Forderungen gegenüber dem Westen Nachdruck verleihen, ohne einen Einmarsch seiner Truppen und die damit verbundenen Konsequenzen zu riskieren. US-Außenminister Blinken teilte bereits mit, der USA seien Pläne Russlands bekannt, die Ukraine zu destabilisieren, ohne dass es dabei zu militärischer Gewalt komme.
Eine weitere Option sieht Mangott in der Stationierung neuartiger auf Europa gerichteter nuklearer Waffensysteme. Eine solche Stationierung könnte seiner Meinung nach sowohl an der westlichen Grenze Russlands als auch im ukrainischen Donbass, Belarus oder der zwischen Polen und Litauen liegenden, russischen Exklave Kaliningrad erfolgen. Die Raketen könnten von dort aus ganz Westeuropa erreichen. Ein solches Vorgehen würde wohl auch nicht folgenlos bleiben. "Die Stationierung neuer russischer Waffen würde einen Rüstungswettlauf nach sich ziehen", so Mangott. Die Nato würde symmetrische Antworten diskutieren müssen. "Ob dazu schnell eine Einigung zwischen allen 30 Mitgliedstaaten erzielt werden kann, ist aber keineswegs sicher", sagt er.
Schlussendlich bleibt der Blick in die Glaskugel aber unzuverlässig. "Was letztlich passieren wird, ist auch für Experten schwer einzuschätzen", sagt Mangott. Nur Putin selbst wisse genau, was er vorhabe.
- Eigene Recherchen
- Gespräch mit Gerhard Mangott am 21. Januar
- mit Material der Nachrichtenagenturen Reuters und dpa
- Spiegel: Russland verlegt Soldaten nach Belarus
- Der Standard: Kriegsangst in Europas Osten