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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte zu Russland "Die Nato wird militärisch gar nichts tun"
Die Welt schaut gebannt auf die ukrainische Grenze zu Russland. Nato-Insider befürchten angeblich einen großen Angriff, auch gegen Nato-Staaten. Wie realistisch ist ein solches Szenario?
Die Lage an der ukrainischen Grenze bleibt angespannt. Seit Wochen zieht Russland Truppen im Grenzgebiet zusammen. Die Ukraine fürchtet einen Angriff. Das Grenzgebiet ist zum Austragungsort für einen größeren Konflikt geworden: Während Russland einen Beitritt der Ukraine zur Nato und damit dessen Heranrücken an die eigene Grenze verhindern will, pochen die westlichen Bündnisstaaten darauf, das Land selbst über einen Beitritt entscheiden zu lassen.
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Verhandlungen über eine friedliche Lösung sind ergebnislos zu Ende gegangen. Unterdessen berichtet der "Spiegel", die Nato fürchte, dass Russlands Präsident Wladimir Putin sogar über die Ukraine hinaus einen bewaffneten Konflikt mit dem Westen suchen könnte. Demnach könnte Russland Insidern zufolge seine gesteigerte Präsenz im Mittelmeer, im Nordatlantik und in der Arktis nutzen, um an mehreren Fronten zuzuschlagen – selbst gegen Nato-Staaten. Gerhard Mangott ist Politikwissenschaftler und Professor für internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. Er ordnet die Berichte ein.
t-online: Es wurde berichtet, Nato-Insider würden neben dem Angriff auf die Ukraine auch Angriffe gegen andere Länder, auch Nato-Mitgliedstaaten, befürchten. Für wie realistisch halten Sie ein solches Szenario?
Gerhard Mangott: Ich halte einen Mehrfrontenangriff für ein relativ absurdes Szenario. Die baltischen Staaten wird Russland nicht angreifen, weil das den Bündnisfall im nordatlantischen Bündnis auslösen würde. Das würde bedeuten, dass die Nato tatsächlich gegen russische Truppen kämpft. So ein direktes militärisches Aufeinandertreffen ist weder von der westlichen noch von russischer Seite gewollt. Niemand kann wissen, ob eine solche Auseinandersetzung nicht nuklear eskaliert. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Russland Streitkräfte an der Grenze zu den baltischen Staaten konzentriert. Dasselbe gilt für einen Angriff auf Polen.
Wahrscheinlicher ist nach wie vor also ein Konflikt mit der Ukraine. Wie würde ein russischer Angriff konkret aussehen?
Da ist die ehrliche Antwort: Das wissen wir nicht. Das weiß nur Putin allein. Ich bin mir sicher, dass nicht einmal die Verhandler, die die Gespräche diese Woche geführt haben, genau wissen, was Putin ultimativ vorhat. Ich rechne aber nicht mit einer großflächigen Invasion der Ukraine. Dafür sind auch die Truppen vor Ort zu klein. Es könnte eine begrenzte militärische Operation begleitet von einer Cyberoperation gegen die kritische ukrainische Infrastruktur sein. Eine Ausweitung des Gebietes, das die Separatisten in Donbass kontrollieren, kommt infrage. Das Maximum, was ich mir vorstellen kann, wäre die Schaffung einer Landbrücke zwischen Donbass und der Krim.
Wie kommen die zitierten Nato-Insider denn überhaupt zu ihrer Einschätzung, ein Angriff Russlands stehe bevor?
Das ist schwer nachzuvollziehen. Zur Verfügung stehen Informationen über die aufgefahrene Gerätschaft und die mobilisierten Soldaten. Daraus wird abgeleitet, ob und vor allem welche militärische Operation damit möglich wäre. Um diese Informationen zu gewinnen, gibt es regelmäßige Aufklärungsflüge der USA über der Ukraine. Auch Satellitendaten sind Teil dieser Aufklärung.
Was allerdings nicht eindeutig ermittelbar ist, sind die politischen Intentionen Russlands. Da können wir nur zur Kenntnis nehmen, dass Russland im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen mit einer militärischen Antwort gedroht hat. Diese martialische Rhetorik hat Russland schon die letzten zwei Monate benutzt – vermutlich, um den Forderungen gegenüber dem Westen Nachdruck zu verleihen. Ob Putin aber jetzt tatsächlich Ernst macht, wenn er mit seinen Forderungen scheitert – und das wird er – das weiß nur er. Vielleicht ist die Entscheidung auch noch gar nicht gefallen.
Sie sagen, die Gefahrenlage wird anhand der Truppenpräsenz vor Ort eingeschätzt. Es wurde von über 100.000 Soldaten berichtet, aber zwischenzeitlich auch wieder von Abzügen. Was sind denn die aktuellen Zahlen?
Die Schätzungen gehen von 95.000 bis 115.000. Die ukrainische Regierung hat heute früh gemeldet, es seien 106.000. Es befindet sich in dieser Schwankungsbreite.
Und was hätte die Nato dem im Angriffsfall entgegenzusetzen?
Die Nato wird militärisch gar nichts tun, auch wenn Russland die Ukraine großflächig angreifen sollte. Es gibt den zynischen Spruch: Die Nato wird die Ukraine bis zum letzten ukrainischen Soldaten verteidigen. Kein Nato-Staat und schon gar nicht die Allianz selbst wird Truppen in die Ukraine entsenden, um die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen. Darin besteht die sehr volatile Sicherheitslage der Ukraine.
Im Falle einer Invasion würden aber wohl, wie angekündigt, massive Wirtschaftssanktionen verhängt. Darüber hinaus würde die Nato auch ihre Truppenpräsenz und die militärische Infrastruktur in den osteuropäischen Mitgliedstaaten verstärken.
Wie ist Ihre Prognose? Kommt es tatsächlich zu einer militärischen Auseinandersetzung oder handelt es sich nur um Säbelrasseln Russlands, um in eine starke Verhandlungsposition zu kommen?
Wenn die Nato den Forderungen Russlands nicht entspricht, ist die Frage, was macht die russische Seite? Gibt sich Putin mit dem Versuch zufrieden und geht zur Tagesordnung über? Dann verliert er sein Gesicht nach innen und nach außen. Die Alternative wäre die militärische Eskalation. Als Beobachter kann man nur sagen: Die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Eskalation ist hoch. Ich würde sie deshalb bei etwa 75 Prozent ansiedeln.
- Interview mit Gerhard Mangott am 14.01.2022
- Spiegel: "Nato-Insider fürchten russischen Angriff an mehreren Fronten" (kostenpflichtig)