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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unzählige Krisen fast schon vergessen Die unglaubliche Wiederauferstehung Italiens
Das Land wächst schneller und impft rascher als die Bundesrepublik. Politisch steht es so stabil da wie lange nicht. Von einem wunderbaren Jahr, über das selbst die Italiener nur staunen.
Nun auch noch Roberto Benigni. Der 68-jährige Regisseur und Schauspieler hatte 1997 mit seinem KZ-Film "Das Leben ist schön" gleich mehrere Oscars abgeräumt. Sogar ein Asteroid wurde nach ihm benannt. Jetzt bekam der Kino-Gott bei den Filmfestspielen in Venedig auch noch den "Goldenen Löwen" für sein Lebenswerk. Und damit hatten Millionen Italiener schon wieder Grund zum Jubeln: dieses Mal über ihren Roberto und ihr "Grande Italia".
2021 ist, bislang jedenfalls, das Jahr Italiens: Im Juli wird die Fußballelf Europameister, was der "Squadra Azzurra" seit über 30 Jahren nicht mehr gelang. Trainer Roberto Mancini und Mannschaftskapitän Giorgio Chiellini haben seitdem einen Heiligenschein.
Bei den Olympischen Spielen in Japan gewinnt – unfassbar eigentlich – ein Italiener Gold im Hundertmeterlauf. Sieger Marcell Jacobs wird von Superstar Usain Bolt persönlich zu seinem "Erben" ernannt.
Und wenige Tage später gewinnt der bis dahin eher unbekannte Jacobs noch einmal Gold, gemeinsam mit seinen Kumpels in der 4x100m-Staffel. Als "König Midas der Piste", feiert ihn die römische Tageszeitung "La Repubblica", "seine Füße verwandeln alles, was sie berühren, in Gold". Jacobs würde "sogar den Marathonlauf gewinnen", wenn er wollte.
"Sind wir das neue Jamaika?", fragte ihn ein Reporter nach dem Staffelsieg. "Was heißt neues Jamaika?", gab der Wundermann zurück, "wir sind Italien, das stärkste, das es jemals gab." Und in der Tat: die Italiener haben in Tokio 40 Medaillen abgeräumt. Die deutschen Konkurrenten nur 37, die Franzosen nur 33. Und bei den darauffolgenden Paralympischen Spielen ging es ähnlich aus: Italien vor Frankreich und Deutschland.
Boom am Strand und in der Wirtschaft
Im Frühjahr 2020, während des ersten "Lockdowns", hatten die Italiener noch verzweifelt in ihren Wohnungen gesessen und allenfalls vom Balkon aus gemeinsam mit den Nachbarn trotzig die Nationalhymne "Brüder Italiens" gesungen.
Gut ein Jahr später überzog eine fröhliche, unbeschwerte Leichtigkeit das Land. Langsam kehrte das traditionelle italienische Leben zurück. Im Sommer zog es 13 Millionen Italiener an die heimischen Strände. Über drei Millionen mehr als in den vorausgegangenen Jahren. Es störte keinen, dass auch Ausländer in großer Zahl ans italienische Mittelmeer wollten. Das Gedränge war teilweise so groß, dass Zugangsbeschränkungen eingeführt werden mussten.
Na und? "La vita è bella", sagt Benigni, "das Leben ist schön".
Auch die Wirtschaft kam gewaltig in Schwung. So liegt das langjährige Sorgenkind Italien in der ökonomischen Wachstums-Disziplin plötzlich auf Platz zwei im OECD-Raum. Hinter Großbritannien, aber vor den USA und Deutschland. Ein Zuwachs von sechs Prozent wird zum Jahresende prognostiziert. Aber das hängt natürlich auch davon ab, ob es gelingt, ohne eine neue Corona-Welle über Herbst und Winter zu kommen.
Verdrängt, aber nicht vergessen sind die finsteren Bilder aus dem Frühjahr des vorigen Jahres, als mit Särgen vollbeladene Laster von der Pandemie kündeten, die Italien früher und härter traf als den Rest Europas. Damals starben etliche Hundert Infizierte pro Tag – mehr als in China. Es fehlte an medizinischem Personal, an Medikamenten, Betten, Beatmungsgeräten, Schutzanzügen und Masken. Es fehlte an allem.
Aus Deutschland blickte man zu dieser Zeit leicht hochnäsig über die Alpen und resümierte, dass die Südeuropäer "es einfach nicht können". Tatsächlich waren die Einschränkungen dort deutlich konsequenter als etwa in Deutschland. Bis ins späte Frühjahr 2021 gab es immer wieder landesweite oder regionale "Lockdowns" mit Sperrzeiten und Ausgangsverboten, die mit hohen Strafen durchgesetzt wurden.
Das Ziel ist die Herdenimmunität im Herbst
Jetzt ist Italien im Kampf gegen die Schreckens-Viren weiter als andere EU-Staaten, als Deutschland zum Beispiel. Gut 70 Prozent der Bevölkerung haben zumindest eine Impfdosis bekommen, das sind rund zehn Prozentpunkte mehr als in der Bundesrepublik.
Nun geht es darum, möglichst zügig eine sogenannte "Herdenimmunität" zu erreichen. Dazu muss die Impfrate so hoch sein, dass die Infektionsketten schnell abbrechen und die Krankheit sich nicht weiter ausbreiten kann. Und dafür müssen mindestens 70 Prozent der Bevölkerung – manche Wissenschaftler sagen sogar: 80 bis 85 Prozent seien nötig – vollständig geimpft sein.
An dieses Ziel macht sich die römische Regierung nun heran. Ruhig, aber entschlossen. Wo es nicht freiwillig geht, auch mit Zwang.
Beim Gesundheitspersonal gibt es bereits eine Impfpflicht für alle (Ausnahme sind Corona-Genesene und regelmäßig Getestete). Jetzt sind die Lehrkräfte an den Schulen dran: Wer sich nicht impfen lässt und nicht unter die Ausnahmeregelung fällt, darf nicht in die Schule, wird nach Hause geschickt. Nach fünf Tagen "unentschuldigtem Fehlen" soll die Entlassung aus dem Schulbetrieb folgen. Junge Lehrerinnen und Lehrer, die auf einen freigewordenen Platz warten, gibt es zur Genüge.
Und auch für alle übrigen Italiener wird das ungeimpfte Leben immer schwieriger: Ob in der Kantine oder im Restaurant, im Flugzeug oder im Theater – ohne die "Green-Pass" getaufte Impfbescheinigung läuft immer weniger. Und der impffreie Lebensraum soll immer noch kleiner werden. So will es Italiens Regierungschef Mario Draghi.
Unter blauem Himmel
Natürlich gibt es Protest dagegen, von Impfgegnern und Impfskeptikern. Aber das kümmert die meisten Bürger wenig. Sie stehen hinter Draghis Kurs, denn er ist ihr Wundermann. Er redet nicht nur davon, Italien zu modernisieren, umzukrempeln, den Staatsapparat auf Vordermann zu bringen. Er macht es sogar, Schritt um Schritt.
Wie jüngst, viele haben es nicht einmal gemerkt, der ersten Teil einer Justizreform: Die ist dringend nötig, denn Prozesse dauern im Schnitt dreieinhalb Jahre und manchmal auch 20. Alle von Draghis Vorgängern haben versprochen, es anzupacken. Aber alle Ansätze sind im Gezänk der politischen Parteien hängen geblieben.
Auch der parteilose Draghi regiert mit sechs völlig zerstrittenen Parteien. Die mucken immer mal wieder auf, aber den Regierungschef kümmert es nicht besonders. Er geht seinen Weg, sollen sie ihn doch abräumen, wenn es ihnen nicht passt. Nur: Das wagt bislang keiner. Denn 70 Prozent der Bürger wollen Draghi und keinen politischen Zoff.
Da bleibt selbst Lega-Chef Matteo Salvini lieber in Deckung. Und auch der Ex-Chef der sozialdemokratischen PD, Matteo Renzi, der diese im Zorn verlassen und mit seinen Getreuen eine eigene Kleinpartei (Italia Viva) gegründet hat, sagt brav: "Wir müssen den Besten an die Spitze setzen. Und Mario Draghi ist der Beste."
Nicht nur, aber auch deshalb strahlt der politische Himmel in Italien derzeit im schönsten Blau. In Deutschland ist er dagegen eher grau. Nun ja, dort gibt es eben auch keinen Mario Draghi. Dort stehen Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet zur Wahl.
- Eigene Recherchen und Beobachtungen