Fragen und Antworten Droht Europa eine Flüchtlingskrise wie 2015?
Tausende Menschen drängen sich an der türkisch-griechischen Grenze – die Lage ist unübersichtlich.
Die Bilder erinnern an die Szenen aus dem großen Flüchtlingssommer 2015: Menschen, die verzweifelt versuchen, in die EU zu gelangen. Die Aufnahmen an der Grenze zu Griechenland sehen Sie oben im Video oder hier. Ist Europa heute besser vorbereitet? Fragen und Antworten im Überblick.
Sind Europas Grenzen heute dichter als 2015?
Ja. Die EU hat sich – auch weil es bei der Verteilung nicht voran ging – auf den Grenzschutz und restriktive Maßnahmen gegen Asylbewerber konzentriert. So wurde unter anderem beschlossen, die Grenzschutztruppe Frontex auf 10.000 Beamte aufzustocken – allerdings erst bis 2027. Auch die Balkanroute, über die damals viele Menschen nach Zentraleuropa kamen, ist weniger durchlässig geworden, vor allem für Migranten, die nicht über viel Geld für Schlepper verfügen.
Ungarn hat seine Grenze zu Serbien komplett mit einem Metallzaun abgeriegelt. Kroatiens Grenzpolizei schiebt irreguläre Grenzgänger, die sie ertappt, brutal nach Bosnien zurück. Slowenien übergibt ertappte irreguläre Migranten an Kroatien, das sie ebenfalls ungefragt nach Bosnien zurückschiebt. Aktuell ist Bulgariens gesamte grüne Grenze zur Türkei durch Drahtzäune samt Thermokameras viel besser geschützt als bei der Flüchtlingskrise 2015. Der Grenzschutz wurde schon am Freitag durch Gendarmerie verstärkt. Zudem wurden Soldaten in Bereitschaft versetzt, bei Bedarf einzugreifen.
Wäre Deutschland heute besser vorbereitet?
Wenn tatsächlich erneut mehr als eine Million Asylsuchende ins Land kämen, würde dies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und die Kommunen wohl an die Belastungsgrenzen oder darüber hinaus bringen – der Dauerbetrieb ist eben etwas anderes als der Krisenmodus. Und der Rückstau an noch offenen Asylanträgen vermindert sich nur ganz allmählich, auf rund 57.000 Anträge zum Jahreswechsel. Auch die Verwaltungsgerichte halten die Folgen des Flüchtlingsandrangs der Jahre 2015 und 2016 auf Trab, da viele Asylbewerber gegen einen ablehnenden Bescheid klagen.
Deutschland hat allerdings auch die Asylgesetze verschärft. "Subsidiär Schutzberechtigte" – in diese Gruppe fallen die meisten syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge – können nur sehr schwer Angehörige aus dem Ausland nachholen. Abschiebungen wurden erleichtert. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob die Bundesregierung die Grenzen wie 2015 offen halten und die Menschen ins Land lassen würde. Der politische Gegenwind wäre heute jedenfalls heftiger als damals.
Die Hauptankunftsländer Italien und Griechenland fühlten sich 2015 vom Rest Europas allein gelassen. Was hat sich seither getan?
Seit Jahren wird in der EU im Streit um die Verteilung von Asylsuchenden verhandelt, gestritten – und wenig entschieden. Die Reform der sogenannten Dublin-Regeln, nach denen meist jener EU-Staat für einen Asylantrag zuständig ist, auf dessen Boden ein Schutzsuchender zuerst europäischen Boden betreten hat, ist gescheitert. Länder wie Ungarn, Polen, Tschechien und Österreich wollen sich nicht zur Aufnahme verpflichten lassen. Mit Blick auf eine dauerhafte Regelung zur Verteilung Schutzsuchender waren es verlorene Jahre. So lange das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei hielt, ist das nicht so sehr aufgefallen. Nun gerät die EU jedoch unter Druck. Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen will schon bald einen neuen Reform-Anlauf wagen.
Darf Griechenland sich einfach weigern, Asylanträge entgegenzunehmen?
"Kein Land ist verpflichtet, die Grenzen generell zu öffnen. Die griechische Regierung handelt nicht per se rechtswidrig, wenn sie die Einreise verhindert", sagte der Völkerrechtler Daniel Thym der dpa. "Anders ist die Lage, sobald jemand faktisch eingereist ist." Ob Zurückschiebungen möglich sind, sei nicht abschließend geklärt.
So entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Februar, dass Spanien in seiner Exklave Melilla zwei Migranten bei ihrem Grenzübertritt umgehend nach Marokko zurückweisen durfte. Die beiden Männer hätten sich selbst in eine rechtswidrige Situation gebracht, als sie mit vielen anderen Menschen über einen Grenzzaun geklettert und damit bewusst nicht über einen legalen Weg eingereist seien. Eine generelle Erlaubnis der "Push-backs" oder Sammelausweisungen an den EU-Grenzen hat der EGMR damit aber nicht ausgesprochen – am Ende entscheiden die Richter stets Einzelfälle.
Thym betont aber: "Die griechische Regierung irrt jedoch, wenn sie so tut, als ob sie beliebig Gewalt anwenden und das Asylrecht aussetzen könnte."
Was sagen Politiker in Deutschland und Europa?
In Brüssel hält man sich mit Kritik an Griechenland zurück und zeigt größtmögliche Solidarität. "Die Herausforderung, der Griechenland jetzt gegenübersteht, ist eine europäische Herausforderung", sagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Stattdessen wandte sich ein Sprecher an die Türkei: Man erwarte, dass das Land seinen Zusagen des Abkommens mit der EU gerecht werde. Bislang habe niemand das Abkommen offiziell gekündigt.
In Deutschland lautet der Tenor, das Jahr 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Das ist als Ansage nach innen und außen zu verstehen. Denn eine erneute, weitgehend unkontrollierte Einreise zahlreicher Migranten und der Anblick sichtbar überforderter Behörden würde der AfD sicher Wähler in die Arme treiben, was die anderen Parteien unbedingt verhindern wollen.
Bei den Geflüchteten wiederum, die sich auf den Weg nach Westeuropa machen, soll keinesfalls der Eindruck entstehen, sie würden von Bürgern und Politikern freudig empfangen werden. "Unser Ziel ist es und bleibt es: anhalten und nicht durchwinken", unterstrich Österreichs Innenminister Karl Nehammer (ÖVP). Friedrich Merz, Bewerber um den CDU-Vorsitz, macht es noch deutlicher: "Gleichzeitig müssen wir ein Signal an die Flüchtlinge dort geben: Es hat keinen Sinn, nach Deutschland zu kommen", betonte er.
Ist der Flüchtlingspakt mit der Türkei am Ende?
Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert will es so nicht ausdrücken. "Wir erleben sicherlich im Moment eine Situation, die nicht im Geiste dieses Abkommens ist, aber wir erleben auch keine Aufkündigung dieses Abkommens", sagte er. "Dieses Abkommen hat seinen Wert."
Wahr ist aber auch: Der Pakt wurde nie so umgesetzt, wie er auf dem Papier steht. So hat Griechenland kaum Migranten zurück in die Türkei geschickt, obwohl die Regierung es theoretisch könnte – die Asylverfahren ziehen sich stattdessen in die Länge. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan beklagt, dass das zugesagte Geld zu langsam fließe. Und nun hat er auch noch die Grenzen Richtung EU für offen erklärt – im Widerspruch zur Vereinbarung. Ein Sprecher der EU-Kommission betonte am Montag hingegen, bislang seien von den zugesagten 6 Milliarden Euro 4,7 Milliarden vertraglich vergeben worden. 3,2 Milliarden Euro seien bereits ausgezahlt worden.
Was will Erdogan?
Der türkische Präsident Erdogan will mit dieser Strategie zum einen den Druck auf die EU erhöhen. Er hatte schon früher mit der Öffnung der Grenzen gedroht, sollte die Türkei bei der Versorgung der Millionen Flüchtlinge nicht besser unterstützt werden. Da geht es zum einem um Geld. Die Türkei gibt immer wieder an, rund 40 Milliarden für die Versorgung der Migranten ausgegeben zu haben.
Andererseits wünscht sich die Türkei Unterstützung für ihre Syrien-Politik. Lange warb Ankara etwa für eine hoch umstrittene sogenannte Sicherheitszone in Syrien, in die sie Flüchtlinge umsiedeln will. Derzeit geht es Erdogan vor allem um die Situation in der letzten großen Rebellenhochburg Idlib, wo Hunderttausende Menschen vor Angriffen des syrischen Militärs und dessen russischen Unterstützern in Richtung türkische Grenze fliehen. Erdogan fordert ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft und einen Waffenstillstand.
Das Durchwinken der Flüchtlinge Richtung Europa ist aber auch eine Botschaft nach innen. Der Türkei geht es wirtschaftlich schlecht. Die Akzeptanz für die Flüchtlinge schwindet, Erdogan steht unter Druck.
Gibt es keine Aussicht zur Rückkehr nach Syrien für Geflüchtete?
Vorerst nicht. In Syrien tobt weiterhin der Bürgerkrieg, zumal dort inzwischen auch Russland und die Türkei auf unterschiedlichen Seiten mitmischen. Die syrischen Regierungstruppen hatten im Dezember – unterstützt von russischen Luftangriffen – eine Offensive auf die Stadt Idlib im Nordwesten des Landes begonnen. Die Menschen fliehen vor den Bombardements um ihr Leben. 950.000 der drei Millionen Einwohner der Region sind nach UN-Angaben auf der Flucht. Hilfsorganisationen sind kaum noch in der Lage sie zu versorgen.
- Nachrichtenagentur dpa