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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Polizei-Skandal im Irak Demonstranten sterben durch Kopfschuss mit Gasgranaten
Tränengas soll Demonstranten auseinandertreiben. Im Irak wird jedoch mit viel schwereren Granaten geschossen, die fürchterliche Verletzungen anrichten und Menschen das Leben kosten.
Sam Dubberley von Amnesty International hat viel Schreckliches auf dieser Welt gesehen, aber die Bilder aus dem Irak haben ihn erschüttert: Auf Videos hat er gesehen, wie Rauch aus dem gerade zertrümmerten Kopf von Menschen steigt. Bei den Massenprotesten wurde schon mehrfach scharf geschossen. Aber die Sicherheitskräfte feuern auf Menschen auch mit Geschossen, die eigentlich Schlachtfelder einnebeln sollen.
Der Brite Dubberley betreut bei der Menschenrechtsorganisation das Digital Verification Corps, bei dem 120 geschulte Freiwillige an Universitäten Videos und Fotos von Kriegsverbrechen und Gewalttaten auf Echtheit prüfen. Die Granaten-Videos aus dem Irak hat er nicht weitergeleitet an die freiwilligen Helfer. "Zu traumatisch", sagt er zu t-online.de.
Mit einem erfahrenen Kollegen hat er die Bilder selbst ausgewertet. Sie haben sie mit Bildern der Orte dort und anderen aktuellen Aufnahmen abgeglichen, CT-Aufnahmen von Kliniken bekommen und mit medizinischem Personal und Augenzeugen gesprochen. Dubberleys Fazit: "Die Beweise sind überwältigend." Die Sicherheitskräfte haben dort mit Rauchgranaten mindestens neun Demonstranten getötet.
Fälle seit dem 25. Oktober
Die ersten Bilder des tödlichen Einsatzes der Granaten stammen vom 25. Oktober. Es war ein Video, das laut Dubberley "das entsetzlichste und empörendste Video ist, das ich gesehen habe. Und ich habe schon viele gesehen." Ein Mensch stirbt, weil Sicherheitskräfte etwas auf ihn gefeuert haben. Was zunächst wie eine übliche Tränengasgranate erscheint, zertrümmert dem Demonstranten den Schädel und bohrt sich tief in den Kopf.
Ein Versehen der Sicherheitskräfte, die seit Anfang Oktober bei den Protesten landesweit im Einsatz sind? Könnte es ein Einzelfall sein? Doch drei Tage danach erreichen Dubberley weitere Videos solcher Szenen vom Wochenende, und es ist klar, dass mehr dahinter steckt. Irakische Behörden setzen bei den Protesten im Land Granaten ein, die bisher nie gegen Zivilisten genutzt wurden. Nicht nur Amnesty hat dafür Augenzeugen.
Dem ARD-Korrespondenten Carsten Kühntopp schilderte der Iraker Thaar Tareq, wie er einen Menschen sterben sah: Eine Tränengasgranate habe den Schädel des Mannes förmlich gespalten. "Sie demonstrierten und riefen gegen die Sicherheitskräfte – sie haben nur gerufen, mehr nicht. Und dann haben die Sicherheitskräfte fünfmal geschossen."
Zehnmal schwerer als Tränengasgranaten der Polizei
Von Amnesty befragte Experten aus Polizei und Medizin haben der Organisation zufolge berichtet, bei Einsätzen von Tränengas noch nie so viele Tote und noch nie eine so zerstörerische Wirkung mit so schrecklichen Verletzungen gesehen zu haben.
Dubberley zu t-online.de: "Auch normale Tränengasgranaten können todbringend sein, wenn sie direkt auf Menschen abgeschossen werden, wir haben das in der Türkei und in Venezuela gesehen." Doch die Granaten gegen die Demonstranten im Irak seien bis zu zehnmal schwerer als die Tränengasgranaten, die die Polizei sonst einsetze. Es gibt ausreichend Funde; Amnesty hat die Geschosse bestimmen: "Es sind militärische Rauchgranaten aus serbischer und wahrscheinlich bulgarischer Produktion, die genutzt werden, um Truppenbewegungen abzuschirmen", so Dubberley.
Tränengasgranaten bei Polizeieinheiten sind laut Amnesty 37 Millimeter stark und wiegen zwischen 25 und 50 Gramm. Die Demonstranten im Irak starben durch 40 Millimeter starke Geschosse, die mit 220 bis 250 Gramm viel schwerer sind. Abgefeuert werden sie mit gleicher Kraft – und sind so viel gefährlicher.
Nachdem Amnesty das Vorgehen anprangerte, hat Iraks Premierminister Adil Abd al-Mahdi inzwischen eine Untersuchung angekündigt und erklärt, Sicherheitskräfte sollten keine scharfen Kugeln oder tödlichen Waffen einsetzen. Vor allem hat er in der Erklärung aber appelliert, die Proteste angesichts von Zugeständnissen einzustellen. Zunächst richteten sie sich gegen Korruption und Misswirtschaft, inzwischen auch gegen den Einfluss des Irans.
"Darf nicht mehr in den Händen der Einsatzkräfte sein"
"Eine Untersuchung der Fälle ist gut und wichtig", sagt Dubberley, "aber vordringlich ist, dass so etwas nicht mehr in den Händen der Einsatzkräfte bei diesen Einsätzen sein darf." Denn am Wochenende starben auf diese Weise die nächsten Menschen, der Tod von vier weiteren durch die Geschosse ist laut Dubberley dokumentiert.
Nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP wurden seit Beginn der Proteste gegen die Regierung im Irak am 1. Oktober landesweit mehr als 270 Menschen getötet.
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Allein in der ersten Woche wurden einem Regierungsbericht zufolge 150 Menschen getötet, weil Scharfschützen von Dächern aus mit scharfer Munition auf die zum Teil gewalttätige Menge feuerten. In den vergangenen Tagen wurde auch wieder scharfe Munition benutzt – zusätzlich zu den todbringenden Rauchgranaten.
- Eigene Recherchen
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP