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Russland: Geheimdokumente zeigen Angriffsziele für Atomwaffen in Europa


Geheimdokumente über Putins Atompläne
"Putin scheint bereit, die Eskalationsleiter hochzuklettern"


15.08.2024Lesedauer: 6 Min.
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Russische Korvetten nehmen an einer Marineparade in Sankt Petersburg teil (Archivbild): Die russische Marine hat wohl auch Angriffe auf Europa geplant. (Quelle: IMAGO/Russian Defence Ministry/imago)

Bisher geheime Dokumente von Russlands Marine zeigen, dass Europa schon lange ein Ziel für Moskau ist. Selbst Verbündete nimmt der Kreml ins Visier.

Im Juli kamen die Staatenlenker der Nato-Mitglieder in Washington zusammen, um das 75-jährige Bestehen des Verteidigungsbündnisses zu feiern. Schnell aber rückten die Feierlichkeiten wegen einer brisanten Neuigkeit in den Hintergrund: Ab 2026 wollen die USA in Deutschland Mittelstreckenwaffen wie Raketen und Marschflugkörper stationieren, verkündeten Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und US-Präsident Joe Biden.

Seither debattieren Politiker in Deutschland über die Sinnhaftigkeit der Entscheidung: Macht die Stationierung der US-Waffen Deutschland nun umso mehr zum Ziel von Russlands Streitkräften oder können die Waffensysteme einen wichtigen Beitrag zur Abschreckung von Putins expansionistischen Bestrebungen leisten?

Russland nahm schon Jahre vor dem Ukraine-Krieg Europa ins Visier

Neues Futter für die Debatte liefern nun von der "Financial Times" veröffentlichte Geheimdokumente des russischen Verteidigungsministeriums. Dabei handelt es sich um eine Präsentation für Offiziere, in der mögliche Ziele für Schläge der russischen Marine mit konventionellen und nuklearen Waffen vorgestellt werden. Die Dokumente stammen aus den Jahren 2008 bis 2014: Schon damals waren Deutschland und andere europäische Staaten offenbar legitime Ziele für Russland – und das ganz ohne hierzulande stationierte US-Mittelstreckenwaffen.

Für den Sicherheitsexperten Fabian Hoffmann von der Universität Oslo kommen die russischen Pläne, die auch er einsehen konnte, nicht überraschend. "Militärs bereiten sich immer auf alle möglichen Fälle vor", erklärt er im Gespräch mit t-online. Das dürfte übrigens auch für die Nato gelten, die als Teil ihrer nuklearen Abschreckung vermutlich russische Ziele im Visier hat.

Wichtiger aber ist laut Hoffmann mit Blick auf das russische Papier das, was aus den Dokumenten nicht hervorgeht: "Hat tatsächlich ein ranghoher russischer Militär diese Pläne in Auftrag gegeben oder handelt es sich eher um eine Art Fingerübung für einen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums?"

Die Pläne zeigen mögliche Angriffsziele für mehrere Flotten der russischen Marine auf. So finden sich nicht nur Ziele in Europa, sondern auch im Nahen Osten und in Ostasien. Auffallend ist, dass Russland auch für derzeitige Verbündete wie den Iran, China oder Nordkorea offenbar eine Auswahl an Zielen getroffen hat. Im Jahr 2014 waren diese Partnerschaften jedoch noch nicht so eng wie heute. Gänzlich neu ist das nicht: Bereits im Februar wurden Dokumente publik, die zeigten, dass Russland im Falle eines Angriffs Chinas auch taktische Atomwaffen einsetzen würde. Mehr dazu lesen Sie hier.

Hier könnten Russlands Flotten laut dem Strategiepapier zuschlagen:

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  • Die Mehrheit der markierten Ziele der baltischen Flotte Russlands finden sich in Norwegen und Deutschland. Dazu gehören etwa der norwegische Marinestützpunkt in Bergen sowie militärische Ziele wie Radaranlagen oder Einrichtungen von Spezialkräften. Mehrere Bundeswehrstandorte in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen befinden sich ebenfalls darunter.
  • Für die russische Nordflotte wählte das russische Verteidigungsministerium demnach vor allem Ziele im nördlichen Norwegen und in Großbritannien aus. Dazu gehören beispielsweise die U-Boot-Werft in Barrow-in-Furness oder ein Industriekomplex im ostenglischen Hull.
  • Der Schwarzmeerflotte sowie der Kaspischen Flotte wurden dem Bericht zufolge mehrere Ziele in Aserbaidschan, Bulgarien, dem Iran, Rumänien und der Türkei zugewiesen. Die russische Schwarzmeerflotte hat seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine rund ein Drittel ihrer Schiffe verloren – allen voran ihr Flagschiff "Moskwa". Der Iran gehört aktuell zu den Verbündeten Russlands, auch Aserbaidschan und die Türkei unterhalten weiter Beziehungen zu Moskau.
  • Für die Pazifikflotte von Russlands Marine wählte das Verteidigungsministerium wohl Ziele in Japan und Südkorea aus, darüber hinaus aber auch auf dem Territorium seiner heutigen Partner und Verbündeten China und Nordkorea.

"Deutschland und andere Länder waren schon immer Ziele für Russland"

Die Dokumente sind rund zehn Jahre alt – ob die Zielauswahl also noch immer aktuell ist, lässt sich kaum beurteilen. "Was dabei auffällt, ist, dass einige der Ziele durchaus Sinn ergeben, andere dafür überhaupt nicht", erklärt Fabian Hoffmann. Bei den "sinnvollen" Zielen handle es sich beispielsweise um wichtige Häfen oder Radaranlagen in Norwegen. "Andere Ziele hingegen sind durchaus militärische Gebäude oder solche, die mit dem Militär in Verbindung stehen – Hochwertziele für etwaige Präventiv- oder Erstschläge sind das aber nicht." Das lasse Fragen über die Bedeutung der Dokumente offen.

Fabian Hoffmann vom Oslo Nuclear Project
(Quelle: aesthesia photography – Katsis)

Zur Person

Fabian Hoffmann ist Research Fellow am Oslo Nuclear Project. In der norwegischen Hauptstadt forscht er zur Verbreitung, dem Einsatz und der Nutzung nichtnuklearer strategischer Waffen, insbesondere konventioneller Präzisionsschlagwaffen, und deren Auswirkungen auf die Nuklearstrategie und die allgemeine Nuklearwaffenpolitik.

Für Hofmann ist jedoch eines klar: "Das ist nur die Spitze des Eisbergs." Russland habe wohl Hunderte weitere Ziele in Europa und anderen Teilen der Welt ins Visier genommen. Zumal lediglich Ziele der russischen Marine in den Dokumenten zu finden sind. Auch die russischen Landstreitkräfte und die Luftwaffe verfügen aber über konventionelle beziehungsweise nuklear bestückbare Waffensysteme, die ähnliche Schläge ausführen könnten.

"Dabei ist es wichtig zu betonen, dass diese Dokumente beweisen, dass Deutschland und andere Länder schon immer Ziele für Russland waren", hebt Hoffmann hervor. "Die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen hierzulande ändert daran nichts." Politiker wie der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hatten angesichts der Entscheidung von Berlin und Washington vor der "Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation" gewarnt.

"Putin scheint bereit, die Eskalationsleiter hochzuklettern"

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hatte sich zuletzt offen für eine Debatte über die Stationierung der US-Waffen gezeigt. Diese sei wichtig, um "zu einer Haltung zu finden, mit der wir alle gut leben können", sagte Pistorius der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Wir brauchen diese öffentliche Debatte, um den Ernst der Lage klarzumachen: Einerseits erleben wir durch das aggressive Auftreten Russlands eine neue Bedrohungslage in Europa, andererseits haben wir eine Fähigkeitslücke, die wir kurzfristig nur mithilfe der USA-Verbündeten schließen können, bis wir diese Waffen selbst entwickelt haben", meinte der Verteidigungsminister.

Sicherheitsexperte Hoffmann hebt hervor, dass es Russland mit seiner nuklearen Doktrin vor allem darum gehe, psychologischen Druck aufzubauen. Früh in einem Konflikt wolle Moskau andere Länder mittels seiner konventionellen und militärischen Fähigkeiten dazu bringen, zu verhandeln. "Und Putin scheint bereit, die Eskalationsleiter hochzuklettern", fügt Hoffmann hinzu. "Einen atomaren Erstschlag Russlands halte ich jedoch für unwahrscheinlich, eher würde das Land zunächst mit konventionellen Waffen angreifen." Zumindest sieht die nukleare Doktrin Russlands einen atomaren Präventivschlag nicht vor.

In den Dokumenten, die der "Financial Times" vorliegen, erwägen die Verantwortlichen auch sogenannte Demonstrationsschläge. Das könnte der Einsatz einer Atomwaffe in einem entlegenen Gebiet sein, bevor es zu einem tatsächlichen Konflikt kommt. Damit sollen beispielsweise westliche Länder abgeschreckt werden. Offiziell ist das kein Teil der russischen Militärdoktrin.

Der Nutzen von US-Waffen auf deutschem Boden

Hier kommen die ab 2026 stationierten US-Waffen ins Spiel. Diese "verkomplizieren" Putins Pläne nämlich, erklärt Hoffmann. Wie Verteidigungsminister Pistorius hebt auch der Experte hervor, dass es in Europa derzeit eine Fähigkeitslücke bei Mittelstreckenraketen gebe. "Sobald die US-Waffen in Deutschland stationiert sind, wird der Kreml zweimal überlegen müssen, ob er tatsächlich präventiv zuschlagen will."

Aber auch die US-Waffen in Deutschland würden wohl grundlegend nichts an den möglichen Angriffszielen Russlands verändern. Die in Wiesbaden stationierte Multi-Domain Task Force (MDTF) der US Army wäre wohl eines der Hochwertziele für Putin. Die Einheit bündelt Kräfte zur elektronischen Kriegsführung, der Feldartillerie, der Flug- und Raketenabwehr sowie der Cyberkriegsführung. "Multi-Domain" bedeutet, dass der Verband in mehreren Bereichen der modernen Kriegsführung operieren kann: also etwa an Land, zu Wasser, in der Luft, im Weltraum, im Cyberspace und auch im sogenannten Informationsraum.

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An die MDTF sind auch die US-Waffen angegliedert, die hierzulande stationiert werden sollen. Dazu gehören Marschflugkörper vom Typ Tomahawk sowie Raketen des Typs SM-6, die zur Flugabwehr, aber auch zur Bekämpfung von Bodenzielen eingesetzt werden können. Dazu sollen Hyperschallwaffen kommen, die sich noch in Entwicklung befinden. Mehr dazu lesen Sie hier.

Putin droht mit Atomwaffen

Der russische Präsident hatte zuletzt seine Drohgebärden mit Blick auf das Nukleararsenal Russlands verschärft. So ordnete Putin im Mai Übungen mit taktischen Atomwaffen nahe der Grenze zur Ukraine an. Anlässlich des "Tags des Sieges" erklärte der Kremlchef zudem, die russischen Atomwaffen seien "immer in Alarmbereitschaft". Außerdem erinnerte er westliche Länder daran, dass sie "kleine, dicht bevölkerte Staaten" seien. Im Juni behauptete Putin dann, dass Europa "mehr oder weniger schutzlos" gegen russische Raketenangriffe sei.

Fabian Hoffmann widerspricht dieser letzten Darstellung Putins: "Tatsächlich sind wir sogar besser geschützt als derzeit Russland vor ukrainischen weitreichenden Waffen." Die Ukraine hatte Russland zuletzt immer wieder mit Drohnen angegriffen, manche davon sollen eine Reichweite von mehr als 1.000 Kilometern haben. Dazu kommen weitreichende US-Waffen wie die ATACMS-Raketen. "Westliche Flugabwehrsysteme wie Patriot, Iris-T oder NASAMS haben ihre Fähigkeiten zur Verteidigung in der Ukraine bereits eindrücklich zur Schau gestellt." Diese sind auch in Europa stationiert.

Verwendete Quellen
  • Telefongespräch mit Fabian Hoffmann
  • Eigene Recherche
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