Leben "in der Hölle" Familien fordern Freilassung der Geiseln um jeden Preis
Die Verhandlungen über ein Abkommen zur Freilassung der im Gazastreifen verbliebenen Geiseln stagnieren. Auch für ihre Angehörigen ist das eine Tortur. Ein Vater kämpft, damit sein Sohn überlebt.
Ein Lebenszeichen von Sagui Dekel-Chen haben seine Angehörigen seit Monaten nicht erhalten. Zuletzt wurde der im Gazastreifen festgehaltene Israeli im Herbst von anderen, inzwischen freigelassenen Geiseln in den Tunneln der Hamas gesehen, erzählt sein Vater, Jonathan Dekel-Chen, der Deutschen Presse-Agentur.
Die Familie lebte bis zum 7. Oktober im Kibbuz Nir Oz. Jonathan Dekel-Chen war eigenen Angaben nach auf dem Weg in die USA, als Terroristen den Ort nahe dem Gazastreifen überfielen. Sein Sohn habe versucht, sie abzuwehren. Saguis schwangere Frau und die gemeinsamen zwei kleinen Töchter hätten sich derweil im Schutzbunker ihres Hauses versteckt. "Es ist ein großes Glück, dass sie überlebt haben", sagt Dekel-Chen.
Nir Oz wurde beim Massaker der Hamas komplett zerstört. Terroristen ermordeten dort offiziellen Angaben zufolge 51 Menschen. Sagui Dekel-Chen und etliche andere entführten sie in den Gazastreifen. Während seiner Geiselhaft wurde der 35-Jährige zum dritten Mal Vater. Aber ob er seine Tochter jemals kennenlernen wird, ist ungewiss.
Kein Durchbruch bei Geisel-Verhandlungen in Aussicht
Ihre älteste Tochter frage jeden Tag nach ihrem Vater und ob er zurückkommen werde, sagt Avital Dekel-Chen israelischen Medien zufolge. Sie müsse funktionieren, aber ihr Herz sei zerrissen, so die Frau.
"Es ist eine unmögliche, schreckliche Situation, wenn ein Mensch, den man liebt, in der Hölle lebt", so Jonathan Dekel-Chen, der Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrt. Die Geiseln im Gazastreifen lebten nur von einem Augenblick zum nächsten, ist sich der Vater sicher.
Er versuche, Hoffnung zu bewahren – auch wenn derzeit ein Durchbruch bei den indirekten Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der Terrororganisation Hamas nicht absehbar sei. Eine andere Möglichkeit, um alle Geiseln zu befreien, sehe er nicht. Auch ein Sprecher der Armee sagte jüngst in einem Interview, es sei nicht möglich, alle im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln durch Armee-Einsätze zu retten.
Der Führung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu macht Dekel-Chen, der wie sein Sohn Sagui auch US-Bürger ist, schwere Vorwürfe. "Sie ist verantwortlich für diese fulminante Katastrophe. Ich erwarte von der Regierung, dass sie den Geiseln Priorität einräumt." Er fordert ein Abkommen mit der Hamas um jeden Preis – selbst wenn dies bedeutet, dass die terroristische Islamistenorganisation nicht besiegt wird und weiter besteht. Die Hamas will einem Abkommen nur zustimmen, wenn Israel den Krieg vollständig beendet. Israels Regierung lehnt dies bislang ab.
Schlimme Befürchtungen
Insgesamt verschleppten palästinensische Terroristen 253 Menschen aus Israel in das Küstengebiet. Ein Teil von ihnen kam durch einen Gefangenenaustausch frei, vereinzelt konnten Geiseln von der israelischen Armee befreit werden. Teils unter hohen Kosten für die palästinensische Zivilbevölkerung bei diesen Militäreinsätzen, für die Israel international in der Kritik steht.
120 Menschen werden noch in der Gewalt der Terroristen vermutet. Das "Wall Street Journal" berichtete zuletzt unter Berufung auf Vermittler bei den indirekten Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien, dass die Zahl der noch lebenden Geiseln bei nur 50 liegen könnte.
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Jonathan Dekel-Chen kämpft mit allen Mitteln dafür, dass sein Sohn nach Hause zurückkehren kann. Dafür trifft er unter anderem hochrangige Vertreter der US-Regierung und spricht mit Medien weltweit, um die internationale Aufmerksamkeit auf das Thema Geiseln zu lenken. "Sie sind nicht nur irgendwelche Gesichter auf Postern", betont der Vater.
Angehörige entscheiden sich für drastische Maßnahme
Die Entführten seien echte Menschen, mit Träumen und Angehörigen, die auf sie warteten, drückt es ein anderer Vater einer Geisel in israelischen Medien aus. Vielleicht bräuchten die Entscheidungsträger in Israel und der Welt jede mögliche Erinnerung daran, mutmaßt der Mann. Dass er, seine Frau und weitere Eltern vor wenigen Tagen der Veröffentlichung eines Videos zustimmten, das die brutale Verschleppung ihrer Söhne zeigt, ist auch Ausdruck der Verzweiflung der Angehörigen, die seit Monaten um das Leben der Geiseln bangen.
Auf den Aufnahmen, die von der Hamas stammen, ist zu sehen, wie die drei Israelis blutüberströmt auf die Ladefläche eines Pickups gezwungen werden. Einem Mann wurde durch Granaten der Terroristen ein Teil des Arms abgerissen. Ein weiterer soll Berichten zufolge durch die Angriffe seine Frau verloren haben. Auf dem teils unscharfen Clip ist zudem zu sehen, wie die jubelnden Entführer während der Fahrt in den Gazastreifen die Köpfe der Männer an deren Haaren hochziehen und sie in die Kamera halten.
Berichte über Folter und sexualisierte Gewalt in Geiselhaft
"Ich hoffe, dass mein Sohn lebend zurückkommt", sagt Dekel-Chen der dpa weiter. Nach der andauernden Folter, die er seit fast neun Monaten erlebe, stehe Sagui ein langer und schwerer Weg zurück ins Leben bevor. Ehemalige Geiseln berichteten nach ihrer Befreiung von Demütigungen, Gehirnwäsche, Folter und sexualisierter Gewalt während ihrer Geiselhaft. "Wir haben Geschichten gehört, die alles übersteigen, was man sich vorstellen kann", zitierte das "Wall Street Journal" kürzlich einen Arzt, der mehrere Geiseln behandelt hat.
"Sie leben noch immer in einem Alptraum", sagt Dekel-Chen über die ehemaligen Entführten aus Nir Oz, die er eigenen Angaben zufolge regelmäßig trifft. Auf einer Demonstration für die Freilassung der Geiseln in Tel Aviv berichtete eine junge Frau: "Jeden Tag, wenn ich aufwache, werde ich immer noch als Geisel gehalten." Sie war im Rahmen eines Abkommens Ende November freigekommen. "Die Leute fragen mich, wie es mir geht und ob ich es schaffe, das Erlebte zu verarbeiten. Die Antwort ist: Ich kann es nicht." Ihre beste Freundin befinde sich noch immer Geiselhaft. "Bis Arbel und alle anderen nach Hause zurückkehren, können wir nicht einmal anfangen, über Rehabilitation zu sprechen."
Pläne und Angebote für die Rehabilitation der Geiseln gibt es bislang nach Auskunft eines Arztes noch nicht. Die Medizinerinnen und Mediziner könnten derzeit kein Programm entwickeln, um den traumatisierten Israelis zu helfen, das Erlebte zu verarbeiten.
- Nachrichtenagentur dpa