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Ukraine: Selenskyj kämpft mit Personalproblemen – und zieht Notbremse


Probleme der ukrainischen Armee
Selenskyj zieht die Reißleine


Aktualisiert am 26.06.2024Lesedauer: 5 Min.
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Ein ukrainischer Soldat vor einem Zielfernrohr: Die Ukraine kämpft aktuell mit Personalproblemen.Vergrößern des Bildes
Ein ukrainischer Soldat vor einem Zielfernrohr: Die Ukraine leidet aktuell unter Personalproblemen. (Quelle: IMAGO/Dmytro Smolienko/imago-images-bilder)

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj entlässt mitten im Krieg einen führenden General. Doch was steckt dahinter? Der Vorfall zeigt, welches Problem die Ukraine im Krieg gegen Russland derzeit besonders umtreibt.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist auch ein permanenter Kampf um Ressourcen. Besonders in diesem Jahr zeichnet sich das Bild eines blutigen Abnutzungskrieges ab, den viele Militärexperten bereits Mitte 2022 befürchtet hatten. Russlands Präsident Wladimir Putin geht nach wie vor davon aus, mittelfristig mehr Soldaten, mehr militärisches Gerät und mehr Munition ins Feld schicken zu können. Auch deshalb hält der Kreml an seinen Kriegszielen fest und ist damit kaum verhandlungsbereit. Und die Ukraine?

Kiew ist nach wie vor von Rüstungsgütern aus dem Westen abhängig, um sich gegen Russland verteidigen zu können. Als bis ins Frühjahr 2024 die Hilfspakete der USA von den Republikanern blockiert wurden und auch viele EU-Staaten nicht ausreichend liefern konnten, stellte das die ukrainische Armee vor massive Probleme. Doch nun erreichen das Land wieder mehr westliche Waffenlieferungen und die Verteidiger sind wieder in der Lage, russische Angriffe mit Artillerie abzuwehren. Das verschafft der Ukraine etwas Luft und die russische Offensive im Osten konnte deutlich verlangsamt werden.

Aber die Lage für die Ukraine bleibt prekär.

Der Mangel an Munition und militärischem Gerät war lediglich das dringlichste Problem, das ein anderes Dilemma in den vergangenen Monaten überdeckte: Der Ukraine fehlen zunehmend Soldaten, und Kiew sucht nach Strategien, um die lange Front auch künftig verteidigen zu können. Vor diesem Hintergrund ist auch die Entlassung eines ukrainischen Generals durch Präsident Wolodymyr Selenskyj zu sehen. Selenskyj musste die Reißleine ziehen, da es aus ukrainischer Perspektive nicht wie bisher weitergehen konnte.

Selenskyj feuert Kommandanten

Am Montag wurde bekannt, dass Generalleutnant Jurij Sodol seinen Posten als Kommandeur der Vereinigten Kräfte räumen muss. Er war Befehlshaber einer ukrainischen Militäreinheit im umkämpften Osten des Landes, die nun laut Selenskyj von Brigadegeneral Andrij Hnatow übernommen wird. Gründe für die Entlassung nannte er am Montag nicht, doch in den vergangenen Wochen war Sodol massiv in die Kritik geraten.

So hatte der Stabschef der umstrittenen Asow-Brigade, Bohdan Krotewytsch, Medien zufolge Anzeige gegen den Generalleutnant erstattet. Er warf dem Kommandeur fahrlässige Befehle vor, die zu großen Verlusten geführt hätten. "Er hat mehr ukrainische Soldaten umgebracht als irgendein russischer General", schrieb Krotewytsch auf Facebook, ohne Sodols Namen zu nennen. Zugleich verlangte er, den Generalleutnant auch auf eine mögliche Kollaboration mit Russland hin zu überprüfen.

Medien zufolge gab es auch in der Obersten Rada, dem Parlament in Kiew, Vorwürfe gegen Sodol: Er habe ukrainische Soldaten schlecht auf Einsätze vorbereitet – zum Beispiel in der umkämpften Region Charkiw. Das Präsidialamt in Kiew veröffentlichte ein Dekret Selenskyjs zum Personalwechsel bei den Vereinigten Kräften. Der ukrainische Präsident hat in der Vergangenheit schon mehrfach Spitzenpositionen in der Militärführung neu besetzt.

Doch während die Entlassung des ehemaligen Armeechefs Walerij Saluschnyj im Februar auch in der Armee für Kritik sorgte, dürfte Sodols Absetzung beim ukrainischen Militär positiv aufgefasst werden.

Russland und der Ukraine fehlt es an Soldaten

Der Grund dafür ist klar: während Putin seine Soldaten teilweise als Kanonenfutter benutzt, geht die Ukraine viel sorgsamer mit ihren Kräften um. Das muss sie zwangsläufig auch, denn die russische Bevölkerung ist knapp viermal so groß wie die ukrainische. Das ermöglicht es Putin auf längere Sicht, noch weiter in der Bevölkerung Soldaten zu mobilisieren.

Die Verluste sind allerdings auf beiden Seiten hoch. Derzeit kämpft die Ukraine mit etwa 900.000 Soldaten und sie hat noch 1,2 Millionen Reservisten. Russland dagegen soll 1,3 Millionen aktive Soldaten haben und rund zwei Millionen Reservisten.

Das sieht auf dem Papier nach vielen Soldaten auf beiden Seiten aus, aber die Front ist über 1.000 Kilometer lang. Die Folge ist, dass Russland und die Ukraine ihre Offensiven derzeit nur mit wenig Infanterie begleiten können. So werden Schützengräben teilweise nur von einer Handvoll Soldaten verteidigt oder es kämpfen nur wenige Hundert ukrainische Soldaten wie in Wowtschansk im Raum Charkiw. Sie schaffen es zwar, die russischen Kräfte langsam aus der Stadt zu drängen, aber das liegt auch daran, dass Russland hier personell nicht besser aufgestellt ist.

An einigen Frontabschnitten ist der russische Angriffskrieg daher fast zum Krieg der Geister geworden.

Deshalb spielen Artillerie, Luftangriffe, Drohnen oder Panzer eine immer größere Rolle in diesem Krieg, denn damit können beide Kriegsparteien der Gegenseite massive Verluste zufügen, ohne große eigene Verluste zu riskieren.

Neues Mobilisierungsgesetz ist in Kraft

Die Ukraine kann sich also keinen Kommandanten leisten, der seine Soldaten verheizt. Schon jetzt tobt im Hintergrund auf beiden Seiten eine zähe Suche nach neuen Soldaten. Russland soll versuchen, Soldaten auf dem afrikanischen Kontinent zu rekrutieren. So gab der ukrainische Verteidigungsgeheimdienst (HUR) am 28. Mai bekannt, "dass Russland seine Versuche intensiviert hat, Afrikaner für den Kampf" zu gewinnen, schrieb das britische Verteidigungsministerium in seinem täglichen Update am 10. Juni auf dem Kurznachrichtendienst X. Die Bemühungen sollen sich auf Länder wie Ruanda, Burundi, Kongo und Uganda konzentrieren und Putin soll mögliche Rekruten mit Pässen und Geld locken.

Die ukrainische Führung wiederum muss Soldaten aus ihrer eigenen Bevölkerung gewinnen. Zwar kämpfen auch einige Söldner aus europäischen Staaten an der Seite der Ukraine, aber kein Nato-Staat möchte Kampftruppen in den Konflikt schicken, um einen Krieg zwischen der Nato und Russland zu verhindern.

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Für Kiew geht es nicht nur darum, Tote und Verletzte in der ukrainischen Armee zu ersetzen: Viele Soldaten kämpfen seit Kriegsbeginn fast ohne jede Pause an der Front, die Ermüdung nimmt zu und das schwächt die eigene Verteidigungsfähigkeit. Deswegen fährt Selenskyj eine Strategie, die die Anzahl der eigenen Soldaten kurzfristig erhöhen soll. Sie besteht aus mehreren Säulen:

  • Die Ukraine schont die eigenen Kräfte, indem sie möglichst Risiken für Soldaten auf den Schlachtfeldern für Soldaten minimiert. Dabei helfen moderne westliche Panzer oder der Einsatz von Drohnen.
  • Für den Militärdienst eingezogene Rekruten erhalten eine mehrmonatige Ausbildung, damit die Soldaten überhaupt kampffähig werden.
  • Teilweise greift Kiew auf Söldner und Insassen von Gefängnissen zurück. Doch es sollen keine Schwerverbrecher eingezogen werden.
  • Außerdem trat ab April 2024 ein neues Mobilisierungsgesetz in Kraft. Davon erhofft sich die ukrainische Führung bis zu 500.000 weitere Soldaten.

Doch was steckt in diesem neuen Mobilisierungsgesetz? Einerseits wurde das Einzugsalter von Wehrdienstleistenden, die in den Kriegseinsatz geschickt werden, von 27 auf 25 Jahre heruntergesetzt. Andererseits sieht das Gesetz vor, dass sich Wehrpflichtige zwischen 18 und 60 Jahren innerhalb bestimmter Fristen bei den Militärkommissariaten registrieren lassen müssen. Alle Männer ab 18 Jahren sollen einen Grundwehrdienst absolvieren.

Für Selenskyj sind diese Entscheidungen äußerst heikel, und er zögerte viele Monate, weil er gesellschaftlichen Gegenwind fürchtete, wenn er das Einzugalter herabsetzt. Doch er hatte keine andere Wahl. Die russische Propaganda nutzt nun Videos von Ukrainern, die auf der Straße gegen ihren Willen rekrutiert werden, um das Narrativ des Kremls zu befeuern: Die Ukrainer wollen eigentlich nicht kämpfen.

Doch das stimmt nicht. In Umfragen spricht sich nach wie vor eine deutliche Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer dafür aus, ihr Land gegen Russland zu verteidigen. Dieser Abnutzungskrieg ist vergleichbar mit einem Schiff, das immer mehr Lecks bekommt. Es geht für Putin und Selenskyj immer darum, diese Löcher zu stopfen. Keines davon ist bisher so groß, dass Russland oder die Ukraine zeitnah den Krieg deshalb verlieren könnten. Oft gibt es Trends, denen beide Seiten entgegenwirken müssen. Putin holt sich Munition aus Nordkorea, Selenskyj hat Kampfjets aus dem Westen erhalten und stockt die Zahl seiner Soldaten auf. Ebendiese Maßnahmen zeigen, wo die Not aktuell am größten ist. Eine Momentaufnahme.

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