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Russland: Wie weit wird Putin gehen? Experte – "Sollte uns Sorgen machen"


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Experte Koschut
"Das sollte uns Sorgen machen"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 07.07.2023Lesedauer: 6 Min.
Wladimir Putin: Bis zum bitteren Ende wird Russlands Machthaber voraussichtlich nicht kämpfen, vermutet Experte Simon Koschut.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Bis zum bitteren Ende wird Russlands Machthaber voraussichtlich nicht kämpfen, vermutet Experte Simon Koschut. (Quelle: Ilya Pitalev/reuters)
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Wladimir Putin will Russland durch Krieg mächtiger machen, doch die Lage ist kritisch. Wie weit wird das Regime gehen? Und wie rational ist der Kremlchef noch? Diese Fragen beantwortet Experte Simon Koschut.

Schwach und bedeutungslos – so sah Wladimir Putin Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Nun will der russische Machthaber das Imperium mit Gewalt restaurieren, für Putin eine höchst emotionale Angelegenheit. Simon Koschut forscht zu Emotionen in der internationalen Sicherheitspolitik. Im Gespräch erklärt der Politologe, warum Putin anders tickt als wir hofften, wie das russische Regime ihm gefällige Emotionen erzeugt und die offizielle Propaganda zunehmend mit der Realität in Konflikt gerät.

t-online: Professor Koschut, welche Gefühlslage mag in Wladimir Putin geherrscht haben, als er den Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 befahl?

Simon Koschut: Für Wladimir Putin war es sicherlich ein erhebendes Gefühl. Genau wie er haben sich große Teile der russischen Elite in einer Gedankenwelt eingerichtet, in der viel von Einkreisung, Ehrverletzung und Zurückweisung durch den Westen die Rede ist. Putin verspürte also wahrscheinlich ein starkes Rachebedürfnis.

Nun befriedigt Putin entsprechende Gelüste nach "Revanche" mit dem Westen seit längerer Zeit. Der Krieg gegen die Ukraine kostet Russland aber auch gewaltige Verluste an Menschen und Ressourcen.

Mit westlichen Vorstellungen von Rationalität kommen wir an dieser Stelle nicht weiter. Putin selbst betrachtet seine Handlungen keineswegs als irrational. Im autoritären und paternalistischen Russland herrschen andere Vorstellungen als hierzulande in unserer postmodernen Gesellschaft: Die Begriffe Ehre, Stärke und Männlichkeit sind dort anders definiert und in ihrer praktizierten Form viel positiver besetzt. Gewalt und Krieg sind für Putin offensichtlich legitime Mittel zur Durchsetzung russischer Interessen.

Was er immer wieder bewiesen hat.

Die Ukraine ist nicht das einzige Opfer dieser Gewaltbereitschaft gewesen, ja. Der zweite Krieg gegen Tschetschenien oder auch der gegen Georgien waren ebenso einschlägig. Insofern hätten wir vorgewarnt sein können.

Simon Koschut, Jahrgang 1977, ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Sicherheitspolitik an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Der Politikwissenschaftler forscht unter anderem zu Emotionen in den internationalen Beziehungen und zur Rolle internationaler und regionaler Sicherheitsorganisationen.

Die Rebellion des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin überraschte wiederum den Kreml. Welche Beweggründe könnten den früher Putin-hörigen Prigoschin zur Rebellion veranlasst haben?

Prigoschin handelte aus einem Gefühl der Wut und Enttäuschung heraus. Putin als sein einstiger Förderer hatte ihn zuvor zwar nicht komplett fallengelassen, aber offensichtlich hatte der Wagner-Chef mehr Unterstützung vom Kreml in der Auseinandersetzung mit der militärischen Führung unter Sergej Schoigu erwartet. Enttäuschte Hoffnungen sind in der Politik ebenso wie im alltäglichen Leben der größte emotionale Antreiber für Wut und Rache: das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Dies ist eine mögliche Erklärung für den Aufstand. Putin wiederum war ebenso zornig damals – davon können wir ausgehen.

Im Westen gibt es immer noch Hoffnung, dass innerhalb Russlands angesichts hoher Verluste, militärischer Fehlschläge und westlicher Sanktionen Kriegsmüdigkeit oder besser noch gar Ungehorsam aufkommen könnte. Was halten Sie davon?

Bislang hat sich das russische Regime – vom Aufstand der Wagner-Söldner abgesehen – als ziemlich stabil erwiesen. Putin mag nun geschwächt dastehen, am Ende ist er noch nicht. Es gibt auch keine Garantie dafür, dass ein Nachfolger den Krieg beenden würde. Das wäre innerhalb des russischen nationalen Narrativs den Eliten und der Bevölkerung ohne einen Sieg auch schwer vermittelbar.

Das derzeitige russische Regime reklamiert innerhalb des besagten nationalen Narrativs eine besondere Mission für sich. Und zwar die Restauration des Imperiums – um jeden Preis. Bitte erklären Sie die zugrunde liegenden Mechanismen.

Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung, die aus kognitiven und emotionalen Faktoren besteht. Aus tatsächlichen Ereignissen werden generationenübergreifende Erzählungen generiert. Jede Nation verfügt über solche Erzählungen, das ist an sich keineswegs unüblich. Problematisch wird es, wenn diese Erzählung Nationalismus und Revanchismus propagiert. Die Verklärung des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland wäre ein Ereignis der jüngeren Geschichte mit Bezug auf Russland, das sich hier nennen ließe.

Ein Ereignis, das jedes Jahr in Russland am 9. Mai als "Tag des Sieges" im Sinne des Regimes zelebriert wird.

So ist es. Das zugrunde liegende Ereignis wird politisch deformiert und den Zwecken des Regimes angepasst. Ein hoher Grad an Emotionalisierung gehört dazu. Die jährlichen Feierlichkeiten rund um den "Tag des Sieges" sind ein Beispiel, die damit verbundene Zelebrierung der angeblich kollektiven Opferbereitschaft von damals passt sich bestens an die Forderung nach derselbigen in der Gegenwart ein.

Dazu gehört auch die Dämonisierung dieser demokratischen Ukraine. Putin greift hierbei weit in die nationalistische Mottenkiste des 19. Jahrhunderts.

Die kognitive Einbettung – heute nennen wir es Framing – errichtet moralische Kategorien in Form von "Gut" und "Böse". Wobei die Rollenverteilung im Sinne des Kreml klar sein dürfte: hier die "guten" Russen, dort die "bösen" Ukrainer. Leider ist ein derartiges Vorgehen höchst erfolgreich und immer wieder zu beobachten. Deutsche und Franzosen betrachteten sich über weite Teile des 19. und 20. Jahrhunderts als Erbfeinde, es gab wenig, was man sich gegenseitig nicht zugetraut hätte. Das ist ein wahrer Teufelskreis.

Russland spricht der Ukraine ab, überhaupt eine Nation zu sein, die ukrainische Führung bestehe aus "Nazis" und "Drogensüchtigen" ließ Putin verkünden. Nun kämpfen Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer seit mehr als einem Jahr gegen die russischen Soldaten, die sie ja eigentlich "befreien" sollen.

Derartige Erzählungen müssen in sich schlüssig sein. Andernfalls entsteht eine kognitive Dissonanz, wenn die Menschen abweichende Fakten wahrnehmen, die eindeutig der offiziellen Erzählung widersprechen. Dann funktioniert auch die gewünschte Emotionalisierung nicht mehr, von der Mobilisierung ganz zu schweigen. Kurzum, Putins Kartenhaus droht der Zusammenbruch.

Jewgeni Prigoschin hat Putin auf entsprechende Weise geschadet. Der Wagner-Chef hat eingestanden, dass Nato und Ukraine keineswegs einen Angriff auf Russland geplant hätten, wie es die russische Propaganda behauptet.

Das untergräbt massiv Putins Machtbasis – in Form seiner Erzählung. Denn so könnte der emotionale Rückhalt in Russland bröckeln.

In gewisser Weise belauern sich West und Ost in der derzeitigen Lage: Wir hoffen, dass der Rückhalt in Russland für den Krieg schwindet, Putin geht davon aus, dass die Bevölkerungen in den westlichen Demokratien das Interesse an der Ukraine verlieren werden.

Absolut. Bislang ist sowohl die eine wie die andere Hoffnung enttäuscht worden. In der deutschen Bevölkerung war die Unterstützung der Ukraine bislang nie umstritten, von Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer und der AfD abgesehen. Diese Haltung ist auch mittels der kognitiven Emotionsforschung erklärbar. Die Ukraine ist geografisch nicht allzu weit entfernt, uns verbinden Werte – dadurch entstehen emotionale Nähe und Solidarität.

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Nun herrschen zahlreiche kriegerische Konflikte auf dem Globus, die aber weit weniger wahrgenommen werden. Was weit weg ist, interessiert also weniger?

Leider ist das einer der Hauptgründe. Nähe, sowohl in geografischer als auch kultureller Form, erzeugt ein höheres Potenzial für Anteilnahme. Selbstverständlich spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle.

Nun hat sich der Westen zu bislang ungeahnten Sanktionen gegen Russland zusammengerauft. International ist eine Ächtung des Putin-Regimes aber nicht eingetreten. Ist die Zusammenarbeit mit Russland für Länder wie Indien, Südafrika und Brasilien zu wichtig, um den Bruch des Völkerrechts nachhaltig zu sanktionieren?

Diese Länder pflegen mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion seit langer Zeit gute und stabile Beziehungen. Beziehungen, die weit weniger konfrontativ waren als mit dem Westen. Also herrscht dort grundsätzlich ein höheres emotionales Verständnis für die Position Russlands, das den Westen ja der Einkreisung beschuldigt. Mit seiner Mär von der Nichtstaatlichkeit der Ukraine hat Putin denjenigen, die es glauben wollen, auch ein Argument an die Hand gegeben. Grundsätzlich aber sind sich fast alle Staaten der Erde einig, dass das internationale Recht Bestand haben sollte. Darunter fallen das Verbot gewaltsamer Grenzverschiebungen und die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.

Auf Letzteres beruft sich China regelmäßig, wenn es wegen seiner Behandlung der Minderheit der Uiguren kritisiert wird.

An dieser Stelle endet der gerade erwähnte Grundkonsens. Denn Menschenrechte wie Meinungsfreiheit oder der Schutz von Minderheiten werden von verschiedenen Staaten als westliche Bevormundung angesehen. Ihre Durchsetzung als Teil der liberalen internationalen Ordnung war den USA nach Ende des Zweiten Weltkriegs nur aufgrund ihrer damals ausnahmslos starken Position möglich, heute sind sie in Erosion begriffen. Das sollte uns Sorgen machen. Wir müssen hier Vertrauen zurückgewinnen.

Nun ist Vertrauen einer der Pfeiler der internationalen Ordnung. Wladimir Putin hat allerdings mit seinem Angriffskrieg bewiesen, wie unzuverlässig er ist. Sind zukünftige Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland überhaupt möglich?

Ein Vertrag ist nur dann sinnvoll, wenn die Unterzeichner darauf vertrauen können, dass sich die Gegenseite auch daran halten wird. Nun sind es Menschen, die miteinander verhandeln – und damit sind wir wieder im Bereich der Emotionen. Russland sollte jedenfalls in der Zukunft keinen Hardliner zu Gesprächen mit der Ukraine entsenden.

Dieser Krieg ist für Putin eine überaus emotionale Angelegenheit. Wie weit wird er gehen?

Putin ist kein Wahnsinniger, er wird nicht bis zur letzten Patrone kämpfen. Der Wagner-Putsch hat doch deutlich demonstriert, dass er Zugeständnisse macht, wenn die Notwendigkeit dazu besteht. In dieser Hinsicht ist er Pragmatiker, er hat durchaus den Willen zu überleben. So desillusionierend es auch sein mag: Russland können wir nicht ignorieren, wir müssen irgendwann einen Weg des Umgangs finden – allerdings nicht um jeden Preis. Auch wenn uns die politischen Akteure alles andere als sympathisch sind.

Professor Koschut, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Simon Koschut via Videokonferenz
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