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Ukrainische Gegenoffensive: Wie stehen die Chancen? Experte schätzt Lage ein


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Probleme bei Gegenoffensive
"Nun hat die Ukraine die Südfront verloren"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 10.06.2023Lesedauer: 6 Min.
Ukrainischer Soldat bei einer Übung (Archivbild): Wie die ukrainische Offensive bislang verläuft, schätzt Oberst Markus Reisner ein.Vergrößern des Bildes
Ukrainischer Soldat bei einer Übung (Archivbild): Wie die ukrainische Offensive bislang verläuft, schätzt Oberst Markus Reisner ein. (Quelle: Muhammed Enes Yildirim/reuters)

Lange war die Offensive erwartet worden, nun geht die Ukraine zum Angriff über. Wie stehen ihre Chancen für einen Durchbruch der russischen Linien? Oberst Markus Reisner schätzt die Lage ein.

Große Teile der Ukraine stehen unter russischer Besatzung, Wladimir Putins Truppen haben sich verschanzt. Nun will die ukrainische Armee mit einer Offensive den Durchbruch erzwingen. Kann ihr dies gelingen? Reichen die westlichen Waffenlieferungen aus? Und wie stark sind die russischen Befestigungen? Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer beantwortet diese Fragen im Interview.

t-online: Herr Reisner, die ukrainische Offensive ist im Gange. Wie ist die Lage an der Front?

Markus Reisner: Es hat begonnen mit Angriffen nordwestlich von Mariupol, wo drei ukrainische Bataillonskampfgruppen vorgestoßen, aber in den Gefechtsvorpostenreihen der Russen vorerst liegengeblieben sind. Fortgesetzt hat es sich dann mit Angriffen ostwärts des Dnipro-Knicks, also Saporischschja. Intensive Kämpfe gibt es bei Orichiw und Mala Tokmatschka. Am letzteren Ort kam es in der Nacht vom 7. auf den 8. Juni zum Einsatz von Leopard-Kampfpanzern, was ein klares Indiz dafür ist, dass sich dort der Schwerpunkt der Offensive befindet.

Die Experten sind sich ziemlich einig, dass das Ziel im Durchbruch ans Asowsche Meer besteht.

Ein Durchbruch ans Asowsche Meer würde aus militärischer Sicht einen großen Vorteil ergeben. Egal, ob dies nun nördlich von Melitopol oder Mariupol geschieht. Denn so würden die Russen in den besetzten Gebieten geteilt, wobei die Truppen im Raum Krim, Saporischschja und Cherson logistisch vor einer gewaltigen Herausforderung ständen. Als Landverbindung nach Russland gäbe es nur noch die Brücke über die Straße von Kertsch, die aber immer noch nicht zur Gänze nach der Explosion im vergangenen Jahr repariert worden ist. Denn der Vorstoß zum Asowschen Meer würde ebenfalls die Landeisenbahnverbindung unterbrechen. Dann hätten die Russen ein riesiges Problem – und würden möglicherweise zu Verhandlungen gezwungen.

Oberst Markus Reisner, Jahrgang 1978, ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und Kommandant des Gardebataillons des österreichischen Bundesheeres. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".

Wie stehen die Chancen für einen Erfolg der ukrainischen Armee?

Die Chancen stehen 50 zu 50. Warum? Es gibt Argumente, die für einen ukrainischen Erfolg sprechen, ebenso Argumente dagegen. Das Nichtvorhandensein einer einsatzbereiten Luftwaffe ist das größte Manko der ukrainischen Streitkräfte. Punktuell gab es zwar immer wieder spektakuläre Einsätze der ukrainischen Luftwaffe, doch es sind einfach zu wenige Flugzeuge, um den Luftraum nachhaltig über den in Besitz zu nehmenden Gebieten zu sichern. Stellen Sie sich die Landung der Alliierten 1944 in der Normandie ohne die umfangreichen Begleitmaßnahmen der alliierten Luftwaffen im Vorfeld und während der Operation vor.

Video | Kampfhandlungen zeigen Gegenoffensive
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Quelle: Glomex

Falls die Landung ohne diese überhaupt gelungen wäre, hätten die Verluste noch weit höhere Dimensionen erreicht.

Genau. Die Ukraine hat nun angegriffen und bereits in den Vorpostenlinien große Probleme. Ich spreche nun nicht vom Raum der eigentlichen Verteidigungslinien, von denen ja noch drei kommen. Wir sehen auch, dass wiederum die russische Luftwaffe offensichtlich signifikant an der Abwehr dieser Vorstöße eingesetzt ist. Etwa unter Einsatz von Luftnahunterstützungsmitteln …

… wie dem Erdkampflugzeug Suchoi SU-25 …

… oder etwa Kampfhubschraubern vom Typ Kamow Ka-52, Mi-24 und Mi-28.

Die russische Seite hat in dieser Hinsicht also einen Vorteil.

So scheint es. Die Ukraine hat versucht, Flugabwehr nach vorne zu bringen, um die Bereitstellungsräume für ihre Truppen zu sichern. Das ist ihnen auch weitgehend gelungen. Die Ukrainer bräuchten nun allerdings mitfahrende Fliegerabwehrsysteme der kurzen und mittleren Reichweite, um etwas entgegensetzen zu können. Das ist das große Problem. Aber auch nur ein Teil der Schwierigkeiten.

Bitte erklären Sie.

Genauso wie die Russen damals während ihrer sogenannten Winteroffensive im Raum Ugledar durch Minenfelder gefahren sind, müssen dies die Ukrainer nun ihrerseits tun. Hinzu kommen hochmobile Panzerabwehrlenkwaffentrupps der Russen. Hier sehen wir das Dilemma des Angreifers, der nahezu immer auf einen vorbereiteten Verteidiger trifft. Ersterer muss mindestens mit einer Überlegenheit von drei zu eins angreifen und wird trotzdem schwere Verluste erleiden.

Haben Sie eine Prognose, wie es weitergehen wird?

Man muss vorsichtig sein. Offensiven sind in den ersten Tagen immer von einem Hin und Her gekennzeichnet. Das Ziel besteht darin, einen Durchbruch zu erzielen. Dieser kann sich morgen entwickeln. Oder in zwei Tagen. Es kann aber auch passieren, dass die Ukraine sukzessive ihre Kräfte abnutzt und wieder zur Defensive übergehen muss.

Wann werden wir Genaueres über den Verlauf erfahren?

Selbstverständlich gibt es bereits einige Meldungen über Erfolge. Die derzeitigen russischen Meldungen kann man als übertrieben ansehen. Die Bilder, die uns vorliegen, zeigen aber trotzdem, dass die Ukraine zurzeit signifikante Verluste erleidet. Weder in den sozialen Netzwerken noch sonst wo werden Sie offiziell zudem lesen, dass die entscheidende Phase begonnen habe. Denn damit würde man enorme Erwartungshaltung auslösen, was die ukrainische Regierung vermeiden will.

Die ukrainische Armee hat zahlreiche westliche Waffensysteme erhalten, darunter Schützen- und Kampfpanzer. Allerdings nicht so viele, wie ihr Oberkommandierender Walerij Saluschnyj gefordert hat. Hat der Westen zu wenig geliefert für einen Erfolg?

Nach den ukrainischen Erfolgen von Charkiw und Cherson hat Saluschnyj sinngemäß gesagt, dass er noch einmal 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer, 500 Artilleriesysteme braucht, um in die Offensive zu gehen. Circa 60 Prozent dieses Bedarfs sind zum aktuellen Beginn der Offensive geliefert worden. Nun ist allerdings die geforderte Quantität nicht zur Gänze angekommen, sondern nur die besagten 60 Prozent. Wenn wir uns die Bilder aus den vergangenen Tagen ansehen, beobachten wir zudem, dass die Ukraine zum Teil mit sogenannten minengeschützten Fahrzeugen angreift. Das sind perfekte Fahrzeuge für Patrouillenaufgabe im Irak oder Afghanistan. Aber das ist kein Kampfschützenpanzer, mit dem man in den Angriff gehen sollte.

Also sind weder Quantität noch Qualität ausreichend gegeben.

Schützenpanzer vom Typ Marder oder Bradley wurden nicht in dem geforderten Ausmaß geliefert. Die vorhandenen Exemplare werden sicherlich in den Schwergewichtsräumen eingesetzt werden, so wie wir das jetzt beim Leopard sehen. Der wie der britische Challenger in seiner Qualität heraussticht.

Sind Sie angesichts dessen pessimistisch, was den Ausgang der Offensive angeht?

Nein. Die Kriegsgeschichte ist voller Beispiele, in denen ein David gegen Goliath gekämpft hat. Manchmal reicht eine einzelne Handlung für den Erfolg aus: ein Unterführer zum Beispiel, der eine Brücke in Besitz nimmt oder ein Minenfeld durchbricht. Dadurch kann es zu einer Dynamik kommen, möglicherweise gar zu einer Panik beim überlegenen Gegner. Wir müssen nun ein paar Tage abwarten.

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Ab wann könnte die Offensive denn als Erfolg gewertet werden?

Die ukrainische Seite muss signifikante Geländegewinne erzielen.

Sie sprachen von drei Verteidigungslinien, die die ukrainischen Soldaten dafür überwinden müssen.

Momentan versuchen die Ukrainer die Gefechtsvorpostenlinien zu durchzustoßen. Aufgrund der Bilder, die uns vorliegen, muss ich feststellen, dass sie offensichtlich Probleme damit haben und auch hohe Verluste erleiden.

Was erwartet die ukrainischen Soldaten danach?

Die Russen haben entlang der knapp 1.200 Kilometer langen Front massive Verteidigungsstellungen errichtet. Abhängig vom Gelände. Dieses ist im Süden sehr offen und sehr flach. Für die Verteidiger stellt sich die Herausforderung, dass der Angreifer eigene Stellungen oder Stützpunkte relativ rasch mit mechanisierten Verbänden umfahren kann. Die Russen haben ein ausgeklügeltes System errichtet, eine Kombination von Panzergräben, auch Hindernisse wie die sogenannten Drachenzähne und selbstverständlich auch umfangreiche Minenfelder. Ausgewählte Bereiche sind zusätzlich durch mobile Lenkwaffentrupps und bereitgestellte Reserven geschützt. Die Feldbefestigungen wurden an den günstigsten Vormarschrouten in Staffelung von drei Linien angelegt.

Wer könnte Ihrer Meinung nach für die Zerstörung des Staudamms von Kachowka am vergangenen 6. Juni verantwortlich sein?

Die Experten halten unisono die Russen dafür verantwortlich. Russland hat wiederholt erklärt, dass dieser Damm vermint worden sei und möglicherweise auch gesprengt werden würde. Die plötzliche Umsetzung dieses in Kombination mit der beginnenden ukrainischen Offensive spricht auch dafür. Denn nun hat die Ukraine die gesamte Südfront verloren, weil sie überschwemmt, verschlammt und unpassierbar ist.

Der Krieg spielt sich größtenteils auf dem Territorium der Ukraine ab, erst in letzter Zeit finden Kämpfe wie im russischen Belgorod, wo das sogenannte Russische Freiwilligenkorps dem Kreml den Kampf angesagt hat, auch im Westen Aufmerksamkeit.

Vorstöße in das russische Territorium gibt es schon länger. Das war auch Teil der Vorbereitung der Offensive. Diese Vorstöße waren der Versuch der Ukraine, die Russen dazu zu zwingen, die ohnehin schon 1.200 Kilometer lange Front noch einmal deutlich zu verlängern. Wenn man sich nun die Ausrüstung der Putin-Gegner in Belgorod anschaut, deutet viel auf ukrainische Unterstützung hin.

Insbesondere in Deutschland herrscht geradezu Furcht davor, dass die Ukraine russisches Territorium angreifen könnte. In völliger Verkennung, wer hier der eigentliche Aggressor ist.

Es hat etwas absolut Egoistisches an sich, der Ukraine permanent diktieren zu wollen, was sie tun und was sie lassen soll. In der Ukraine herrscht zurzeit Machiavellis Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel. Die Ukraine will diesen Krieg gewinnen und sie tut es mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Denn sie kämpft um ihre schiere Existenz. Während wir hier reden und über Schuld und Ursache diskutieren, sterben an der Front Soldaten und Soldatinnen.

Herr Reisner, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Markus Reisner via Telefon
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