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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in Nahost "Die Situation an den US-Unis ist angespannt"

Wie sieht die Zukunft für Israel und Gaza aus? Die brisante Lage spitzt sich mit Trumps Vorschlägen zu. Ein Experte beleuchtet die Situation und mögliche Wege zu einer Lösung.
Die Lage im Nahen Osten bleibt angespannt: Der Gaza-Krieg geht weiter, Israel setzt darauf, die Geiseln zu befreien, die von der Terrororganisation Hamas verschleppt wurden. Gleichzeitig mischt sich US-Präsident Donald Trump ein – und will im Gazastreifen eine "Rivieria des Nahen Ostens" errichten. Ein Vorschlag, der international Bestürzung ausgelöst hat.
Gibt es noch Hoffnung auf Freilassung der restlichen Geiseln? Und ist die militärische Eskalation der richtige Weg? Der Politikwissenschaftler Remko Leemhuis ordnet die Lage ein – und bewertet Donald Trumps Israel-Politik. Auch Forderungen an die neue Merz-Regierung stellt Leemhuis auf.
t-online: Herr Leemhuis, Israel hat seine Offensive im Gazastreifen zuletzt erneut ausgeweitet. Warum?
Remko Leemhuis: Die Hamas hält weiterhin Geiseln fest. Die israelische Regierung glaubt, dass militärischer Druck die Hamas unter Zugzwang setzt – das hat schon in der Vergangenheit funktioniert und auch in den vergangenen Tagen nach Aufnahme der Militäroperationen hat die Hamas wieder Bereitschaft angedeutet. Zwar wäre es auch in Israel allen lieber, die Geiseln anders zu befreien. Aber der 7. Oktober 2023 hat gezeigt: Die Hamas hat kaum Interesse an politischen Lösungen.
Gibt es überhaupt noch Hoffnung, dass weitere Geiseln lebend freikommen?
Die Hoffnung bleibt. Aber vieles deutet darauf hin, dass ein Teil der Geiseln nicht mehr lebt. Gesicherte Informationen gibt es nicht – das macht die Lage umso schwieriger.
Ist es richtig, den militärischen Druck zu erhöhen – trotz hoher Opferzahlen unter Zivilisten?
Niemand in Israel will zivile Opfer. Aber die Hamas zwingt Israel in dicht bewohnten Gebieten zu Kämpfen mit entsprechenden Konsequenzen. Und die Hamas legt alles darauf an, dass es zivile Opfer gibt, weil es ihrer Propaganda hilft. Das israelische Militär hingegen versucht, zivile Opfer so gut es geht zu vermeiden. Und im Übrigen sollte auch mit den Zahlen vorsichtig umgegangen werden. Erst vor zwei Tagen hat die Hamas die Zahl der Toten um 3.400 Tote reduziert und gleichzeitig eingestanden, dass zwei Drittel der Opfer im kampffähigen Alter sind.
In der israelischen Regierung gibt es teils sehr radikale Stimmen – besonders am rechten Rand. Widerspricht das nicht dem Anspruch, Zivilisten zu schützen?
Man muss unterscheiden zwischen Regierung und Militär. Es gibt einzelne Politiker, deren Äußerungen wir kritisieren – auch öffentlich. Aber diese Personen haben keinen operativen Einfluss auf das Kriegsgeschehen. Sie repräsentieren auch nicht die israelische Gesellschaft. Ich war mehrfach vor Ort, auch in Gesprächen mit Zivilisten. Mein Eindruck: Die große Mehrheit in Israel will keinen Rachefeldzug, sondern unterscheidet klar zwischen Hamas und der palästinensischen Bevölkerung.
Kann es mit der aktuellen israelischen Regierung denn eine Friedenslösung geben?
Diese Frage wird in Europa oft auf den Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu reduziert. Aber wenn es um die Sicherheit und Existenz des Landes geht, gibt es in Israel zwischen den Parteien fast keinerlei Differenzen. Auch Oppositionsführer wie Jair Lapid haben den aktuellen Kurs unterstützt. Gleichzeitig fehlt es auf der palästinensischen Seite an einem ernsthaften Gesprächspartner. Mahmud Abbas etwa hat seit dem 7. Oktober kaum Gesprächsbereitschaft erkennen lassen. Und solange Israel sich im Kriegszustand befindet, ist es schwer, für eine Friedenslösung eine gesellschaftliche Mehrheit im Land zu finden.
In Gaza gab es zuletzt Proteste gegen die Hamas. Kann von dort ein Umbruch ausgehen?
Das wäre wünschenswert – aber ich bin skeptisch. Wer sich in Gaza offen gegen die Hamas stellt, riskiert sein Leben. Es braucht neue Sicherheitsstrukturen abseits der Hamas, etwa durch arabische Staaten, um eine andere Verwaltung im Gazastreifen überhaupt denkbar zu machen. Die gibt es nur leider nicht.
Donald Trump hat angekündigt, die USA könnten den Gazastreifen kontrollieren – um daraus eine "Riviera" zu machen. Die Palästinenser müssten in der Konsequenz Gaza verlassen. Die internationale Gemeinschaft fürchtet eine Zwangsvertreibung. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Diese Idee hat für viel Verwirrung gesorgt – auch in den USA selbst. Es ist unklar, wie eine solche Kontrolle aussehen soll. Und wichtiger noch: Sie trägt nichts zur Lösung der Geiselfrage bei. Entscheidend ist hier jedoch: Keiner darf gezwungen werden, Gaza zu verlassen. Immerhin hat Trumps Vorstoß scheinbar Bewegung in die Frage über die Zukunft Gazas gebracht – arabische Staaten haben erstmals eigene Vorschläge zur Lösung präsentiert. Bemerkenswert ist allerdings, wie wenig arabische Staaten bisher bereit sind, Menschen aus Gaza aufzunehmen.

Zur Person
Dr. Remko Leemhuis ist seit September 2019 Direktor des American Jewish Committee (AJC) Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Antisemitismus, Islamismus und Sicherheitsfragen. Leemhuis studierte Politikwissenschaft und Orientalistik an der Philipps-Universität Marburg und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er über die deutsche Nahostpolitik der 1960er- und 1970er- Jahre.
Wie bewerten Sie den Kurs der aktuellen US-Regierung gegenüber Israel?
Die neue US-Regierung ist erst seit Kurzem im Amt. Einige Maßnahmen begrüßen wir ausdrücklich – etwa die erneute Einstufung der Huthi-Miliz als Terrororganisation oder die härtere Haltung gegenüber dem Iran. Vieles knüpft an die erste Amtszeit von Trump an. Die großen Linien sind aber noch schwer zu erkennen.
In Trumps Umfeld gibt es Unterstützer der AfD. Macht ihn das zu einer Gefahr für die Demokratie – auch in den USA?
Wir sollten generell zurückhaltender sein, wenn es darum geht, politische Akteure in anderen Ländern öffentlich zu bewerten – genauso umgekehrt. Wer diese Partei unterstützt, sollte genau wissen, mit wem er sich da gemein macht. Wenn ich mir allerdings ansehe, was über die AfD in den USA gesagt wird, bezweifle ich, dass es dort viel faktisches Wissen gibt.
Aber gefährdet Trump die Demokratie in den USA?
Trump war schon einmal Präsident. Die Institutionen haben gehalten – auch wenn es besorgniserregende Entwicklungen gab. Die USA bleiben eine funktionierende Demokratie. Man muss mit der Regierung arbeiten, die gewählt wurde, und sie dort kritisieren, wo es nötig ist.
Auftritte wie der von JD Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz lassen viele an der Partnerschaft zweifeln. Ist Amerika noch ein verlässlicher Verbündeter?
Solche Auftritte sind provokant – keine Frage. Aber es gibt, abseits dessen, reale politische Konflikte, die man nicht beiseitewischen kann. Etwa die Forderung nach mehr europäischer Verteidigungsfähigkeit. Und grundsätzlich sind die USA immer mehr als ein Präsident oder Senator. Es gibt viele wirtschaftliche Interessen und Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen, die weiter Bestand haben.
American Jewish Committee (AJC)
Das 1906 gegründete American Jewish Committee ist eine der ältesten jüdischen Organisationen in den USA. Es setzt sich weltweit für Menschenrechte, Demokratie und gegen Antisemitismus ein.
Seit 1998 ist das AJC mit dem Berlin Ramer Institute dauerhaft in Deutschland vertreten. Das Institut fördert den transatlantischen Dialog, organisiert Konferenzen und berät Politik und Diplomatie – insbesondere zu Antisemitismus, Nahost und transatlantischen Beziehungen.
Im Sommer vergangenen Jahres veröffentlichte das AJC Berlin eine Broschüre, in der es auf 60 Seiten vor der AfD warnte – Leemhuis nannte sie in seinem Vorwort eine "völkisch-rechtsextreme Partei".
Trump setzt zunehmend auf kulturelle Polarisierung – auch mit Blick auf Universitäten. Forscher wie Timothy Snyder verlassen das Land. Ist das nachvollziehbar?
Die Situation an den US-Unis ist angespannt. Es gab antisemitische Vorfälle, auf die Universitäten oft zu spät oder gar nicht reagiert haben. Dass jüdische Studierende besseren Schutz fordern, ist legitim. Maßnahmen gegen Professoren oder Studierende müssen aber immer rechtsstaatlich abgesichert sein.
In den USA werden Universitäten nun mit dem Entzug von Fördergeldern unter Druck gesetzt. Wäre das auch ein Modell für Deutschland?
Das ist kaum vergleichbar – die meisten US-Unis sind privat, in Deutschland ist das anders. Hierzulande gibt es vor allem rechtliche Mittel. Ich gehe davon aus, dass Klagen jüdischer Studierenden gegen ihre Hochschulen Erfolg hätten, da die Institutionen systematisch dabei versagt haben, sie zu schützen und dabei gegen landes- und bundespolitische Antidiskriminierungsrichtlinien verstoßen haben.
Auch in Deutschland gibt es Forderungen nach Abschiebung ausländischer Studenten nach antisemitischen Vorfällen. Hielten Sie das für gerechtfertigt?
Nur, wenn es rechtsstaatlich sauber geprüft wurde – etwa bei Straftaten oder Verstößen gegen universitäre Regeln. Es darf nie darum gehen, Menschen wegen ihrer politischen Meinung auszuweisen.
Trump tritt als großer Freund Israels auf, umgibt sich aber mit Leuten aus antisemitischen Milieus. Ist das glaubwürdig?
Ich halte wenig davon, über seine Motive zu spekulieren. Klar ist: In den USA waren fast alle Präsidenten ein enger Partner Israels seit der Gründung im Jahr 1948. Auch Trump hat das betont – etwa mit dem Umzug der Botschaft nach Jerusalem. Aber es gab auch Spannungen mit der israelischen Regierung. Das Bild ist weniger eindeutig, als es scheint.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH oder englisch ICC, Anm. d. Red) hat einen Haftbefehl gegen Israels Premier Netanjahu erlassen. Sollte er in Deutschland festgenommen werden, wenn er einreist?
Nein. Der ICC hat in diesem Fall keine Zuständigkeit. Palästina ist kein anerkannter Staat und kann dem Gericht keine Rechte übertragen, die es selbst nicht besitzt. Zudem hat Israels Justiz eine funktionierende Struktur – sie ermittelt, wenn nötig, gegen eigene Soldaten oder Politiker. Die Vorwürfe gegen Netanjahu halte ich für politisch motiviert.
Aber Deutschland hat das Römische Statut unterzeichnet. Muss man sich dann nicht an Verfahren des ICC halten – unabhängig vom Fall?
Natürlich muss sich Deutschland an rechtsstaatliche Grundsätze halten. Aber es gibt auch die Verantwortung, dass der Gerichtshof nicht als politisches Instrument missbraucht wird. In diesem Fall geht es um etwas anderes als in früheren Prozessen gegen Kriegsverbrecher auf dem Balkan. Es gibt keinen Genozid in Gaza.
Blicken wir nach Deutschland: Friedrich Merz dürfte bald Kanzler werden. Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung außenpolitisch?
Ich hoffe, dass sie sich stärker auf Sachfragen der Zusammenarbeit konzentriert – und dabei weniger öffentlich kommentiert. Besonders im Zusammenhang mit Hilfslieferungen nach Gaza war die deutsche Kommunikation in der Vergangenheit oft unausgewogen.
Ach ja?
Israel wurde regelmäßig kritisiert, ohne die komplexe Lage vor Ort zu berücksichtigen und auch die Bemühungen, Hilfe nach Gaza zu bringen. Wichtig wäre außerdem, dass die militärische Zusammenarbeit wieder verlässlich und geräuschlos funktioniert. Ebenso hoffen wir darauf, dass sich endlich das Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen ändert. Deutschland sollte dort künftig klarer und konsistenter auftreten, gerade, wenn es um Resolutionen mit Bezug auf Israel geht.
Merz will sich auch bei Rüstungsexporten klarer zu Israel bekennen. Ist das der richtige Weg?
Ja, das ist absolut richtig – und im Übrigen ist diese Kooperation nicht so einseitig wie oft dargestellt. Nehmen Sie das Arrow-3-System: Israel liefert hier ein zentrales Bauteil für Europas künftige Luftverteidigung. Dafür braucht es gegenseitiges Vertrauen und Verlässlichkeit. Rüstungspolitik ist in den deutsch-israelischen Beziehungen keine Einbahnstraße – sie funktioniert nur, wenn beide Seiten aufeinander zählen können. Gerade in einer Zeit zunehmender sicherheitspolitischer Instabilität ist eine enge Zusammenarbeit mit Israel von strategischer Bedeutung für Deutschland und Europa.
Herr Leemhuis, vielen Dank für das Gespräch.
- Eigene Recherche
- Persönliches Gespräch mit Remko Leemhuis