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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rückschlag für Russland Putin erlebt ein Desaster
Die russische Armee ergreift nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad die Flucht aus Syrien. Für Wladimir Putin ist der Machtwechsel in Damaskus eine Niederlage, nun nimmt er einen anderen Stützpunkt am Mittelmeer ins Visier.
Es herrscht noch immer geschäftiges Treiben auf dem russischen Militärflugplatz Hmeimim in Syrien. Regelmäßig starten große Transportflugzeuge vom Typ Iljuschin Il-76. Vor einem Start fliegt oftmals ein russischer Kampfhubschrauber mit hohem Tempo heran und gibt den startenden Flugzeugen Geleitschutz.
Die russische Armee fürchtet offenbar, dass ihre Maschinen von Kämpfern der neuen Machthaber in Syrien beschossen werden. Diese Videos dokumentieren den geopolitischen Gesichtsverlust, den Russland in den vergangenen Wochen erlitten hat.
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Kremlchef Wladimir Putin nimmt die Beine in die Hände. Nach dem Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad ist auch Russland auf der Flucht und versucht noch möglichst viel des wertvollen militärischen Gerätes aus dem Land zu schaffen. Einiges daran erinnert an die überstürzte Flucht des US-geführten Bündnisses aus Afghanistan.
Mit einem Unterschied: Die Flucht Russlands aus Syrien ist im Vergleich aus militärischer und geopolitischer Sicht viel teurer für Putin. Russland zieht dabei seine militärische Infrastruktur ab, obwohl die künftige syrische Führung dies eigentlich nicht verlangt hatte. Mit der Verlegung seines Militärs nach Libyen setzt Putin seinen Notfallplan um, der die gesamte Mittelmeerregion vor neue Probleme stellen könnte. Denn mit dem Ausbau eines neuen Stützpunktes am Mittelmeer könnte es dem russischen Präsidenten auch um Rache gehen.
Russland lässt Waffen zurück
Der tatsächliche Schaden, den Russland durch den Sturz von Assad erlitten hat, ist noch nicht bezifferbar. Mit Assad hat der Kreml nicht nur einen seiner engsten Verbündeten im Nahen Osten verloren. Das syrische Regime zählte zu den treuesten Kunden für russische Rüstungskonzerne.
Zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 verfügte die syrische Luftwaffe über etwa 700 Kampfflugzeuge und Hubschrauber in unterschiedlichem Bereitschaftsgrad. Die Bodentruppen verfügten über etwa 5.000 Panzer, 4.000 gepanzerte Fahrzeuge, 3.400 Artilleriegeschütze, 2.600 Panzerabwehrwaffen und 600 Aufklärungsfahrzeuge. All das stammte aus sowjetischer oder teils auch russischer Produktion.
In den Kämpfen um die Rebellenhochburgen wurde viel davon zerstört. Russland lieferte zwar Waffen und Munition nach. Doch es ist gänzlich unklar, wie viele Reserven das syrische Regime noch hatte. Open-Source-Forscher konnten zuletzt lediglich dokumentieren, dass die dominierende Rebellenmiliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) 150 Panzer, mehr als 75 Artilleriegeschütze, 69 Schützenpanzer und 64 Mehrfachraketenwerfer und Flugabwehrkanonen unter ihre Kontrolle brachte, die zuvor von der syrischen Armee zurückgelassen wurden. Seither macht sich aber die israelische Luftwaffe daran, das restliche militärische Potenzial Syriens zu zerstören.
Für Moskau ist all das ein Desaster. Russische Waffen gelangten in die Hände ihrer Gegner, russische Waffen werden gestohlen oder teilweise in den Iran oder in den Libanon gebracht. Das israelische Militär schätzt, dass 60 bis 70 Prozent der Hisbollah-Waffen, die es in den ersten Tagen seiner Invasion im Herbst im Libanon erbeutete, aus russischer Produktion stammten.
In Syrien bleiben dennoch Berge von Waffen zurück, entweder von Russland oder dem Assad-Regime. Und selbst Israel wird es nicht möglich sein, jegliche Gefahr auszuschalten. Syrien wird zu einem großen Waffenbasar werden, mit zahlreichen Angeboten aus den russischen Depots. Waffen, auf deren Rechnung der Kreml nun teilweise hängen bleiben wird.
Strategisch wichtige Stützpunkte
Auch das ist eine Parallele zum westlichen Abzug aus Afghanistan. Unter den Taliban florierte der Waffenhandel: US-Waffen fanden sich in Kaschmir, Pakistan und Gaza wieder. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen der Lage Russlands in Syrien und dem Abzug der Amerikaner aus Afghanistan: Die Russen könnten ihre Waffen aktuell in ihrem Krieg in der Ukraine wirklich gut gebrauchen; die USA ließen dagegen nur wenig von ihrer besten Ausrüstung in Afghanistan zurück.
Hinzu kommt die geostrategische Bedeutung, die der Hafen in Tartus und der Militärflughafen Hmeimim für Russland hatten. Sie waren für Putin seine einzigen Stützpunkte am Mittelmeer, sein Tor zum Nahen Osten. Vor allem Hmeimim fungierte auch als logistisches Drehkreuz, um Operationen auf dem afrikanischen Kontinent starten zu können.
Deswegen überrascht es auf den ersten Blick, dass Russland seine Stützpunkte scheinbar widerstandslos aufgibt. Immerhin hatte das syrische Regime dem Kreml für Tartus 2017 einen kostenlosen Pachtvertrag über 49 Jahre gewährt. Von den neuen HTS-Machthabern heißt es aus Damaskus, dass man die Verträge mit Russland juristisch prüfen wolle. Obwohl die künftige syrische Führung und Russland im Bürgerkrieg verfeindet waren, kam bisher nicht die Aufforderung an die russischen Truppen, das Land zu verlassen.
Russland setzt auf andere Verbündete
Vorsichtsmaßnahme oder endgültiger Abzug aus Syrien? Die russische Armee scheint sich auf einen dauerhaften Abschied einzustellen, schreibt auch das US-Institut für Kriegsstudien (ISW). Das zeigt vor allem der Abzug der Luftverteidigung, die das Rückgrat der russischen Verteidigung in Syrien war.
Putin lässt damit zunächst das teuerste Gerät in Sicherheit bringen, das nicht selbst über den Luft- oder Wasserweg entkommen kann – wie Flugzeuge oder Schiffe.
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Russland hat diese Flugabwehrsysteme nach Libyen gebracht. Dem "Wall Street Journal" zufolge brachten russische Frachtflugzeuge zuletzt Ausrüstung für die Luftverteidigungsanlagen S-400 und S-300 von Syrien in den Osten Libyens. Die Faktencheck-Abteilung des britischen Senders BBC wertete Satellitenbilder aus, die eine Anhäufung von Militärfahrzeugen auf dem Flottenstützpunkt in Tartus und auf dem Militärflughafen Hmeimim zeigten.
Eine Verstärkung der russischen Präsenz in Libyen scheint nun aus russischer Perspektive logisch. Immerhin unterstützte der Kreml in den vergangenen Jahren den aufständischen General Chalifa Haftar, der im libyschen Bürgerkrieg gegen die vom Westen anerkannte Regierung kämpft. Zwar mischte sich Moskau hier eher indirekt ein und schickte Tausende Wagner-Söldner nach Libyen. Haftar kontrolliert noch immer weite Teile des Ostens von Libyen.
Luft- und Marinestützpunkte in Libyen würden den Machtverlust, den Russland in Syrien erleiden würde, nicht vollständig ausgleichen, zitierte das "Wall Street Journal" Analysten. "Grundsätzlich bietet sich Russland auch die Möglichkeit, über den ostlibyschen Machthaber Haftar einen privilegierten Zugang zum Hafen von Tobruk zu erhalten, um dort gegebenenfalls auch Munition umzuschlagen", hieß es am 11. Dezember in einer Lageanalyse des deutschen Verteidigungsministeriums, die der Nachrichtenagentur dpa vorliegt.
Übt Putin in Libyen Rache?
Aber die Verlegung von schwerem militärischen Gerät nach Libyen ist für Putin durchaus ein Risiko. Die russischen Stützpunkte dort sind weniger gut ausgebaut und Russland müsste hier viel Geld investieren. Zudem bemüht sich Haftar auch um eine Verbesserung seiner Beziehungen zum Westen. Und Eliten in Ostlibyen sehen die Nähe zu Moskau kritisch. Deshalb steht auch die russische Präsenz in Nordafrika auf wackeligen Füßen.
Doch Putin bietet sich in Libyen auch weiteres Eskalationspotenzial. Immerhin wird die libysche Regierung militärisch vor allem von der Türkei unterstützt. Mit einer stärkeren russischen Präsenz in dem Land könnte die Balance der Mächte sich zugunsten von Haftar ändern. Libyen droht zum nächsten Krisenherd zu werden, in dem sich die Türkei und Russland beharken.
Dies könnte dem russischen Präsidenten ermöglichen, Rache an seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan zu üben. Denn schließlich ist Erdoğan durch die Versorgung der syrischen Rebellen indirekt auch dafür verantwortlich, dass Russland nun aus Syrien fliehen muss.
Putin erklärte zwar auf seiner jährlichen Pressekonferenz in Moskau mit Blick auf Syrien: "Wir haben unser Ziel in Syrien erreicht." Doch das Hauptziel Russlands in Syrien war die Machterhaltung von Assad – was Russland aktuell vor den Augen der Weltöffentlichkeit verfehlt. Und das wird Putin dem türkischen Präsidenten nicht so schnell vergessen.
- wsj.com: Israel Finds Large Troves of Russian Arms in Hezbollah’s Hands (englisch)
- oryxspioenkop.com: 2024 Syrian Rebel Offensive and the Resulting Collapse of the Regime Military in Northern Syria (englisch)
- dw.com: Russian military: Moving from Syria to Libya? (englisch)
- wsj.com: Russia Withdraws Air-Defense Systems, Other Advanced Weaponry From Syria to Libya (englisch)
- derstandard.at: Russland reduziert laut Insidern Truppen in Syrien
- foreignpolicy.com: Who Lost More Weapons—Russia in Syria or America in Afghanistan? (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa