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Krieg in Syrien: Erdoğan fällt Putin in den Rücken


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Krieg in Syrien
Erdoğan verpasst Putin schweren Schlag


Aktualisiert am 03.12.2024 - 17:15 UhrLesedauer: 6 Min.
Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin (Archivbild): In Syrien kämpfen beide Machthaber für unterschiedliche Interessen.Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdoğan (r.) und Wladimir Putin (Archivbild): In Syrien kämpfen beide Machthaber für unterschiedliche Interessen. (Quelle: imago-images-bilder)

Die Türkei verfolgt in Syrien knallharte Machtinteressen. Mit der aktuellen Eskalation im Bürgerkrieg wagt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan auch die Kraftprobe mit Kremlchef Wladimir Putin. Die Hintergründe.

Manchmal sind Sicherheitspolitik sowie die Frage nach Krieg und Frieden vergleichbar mit einem Dominospiel. Wird ein Stein instabil und fällt um, droht er auch andere Steine zu erwischen.

Im Nahen Osten war der Terrorangriff der Hamas gegen Israel im Oktober 2023 der erste Dominostein, der umgestoßen wurde und der damit eine Eskalationskette in der gesamten Region auslöste. Israel griff die Terrororganisation im Gazastreifen an und nahm dabei Zehntausende Todesopfer in Kauf. Die libanesische Hisbollah-Miliz griff den Norden Israels an und seit September 2024 kämpft die israelische Armee auch im Libanon. Aber noch weitere Steine drohen umzufallen. Der Flächenbrand im Nahen Osten breitet sich immer weiter aus.

Nun wird auch im syrischen Bürgerkrieg wieder massiv gekämpft. Eine Koalition aus verschiedenen Milizen, darunter auch Islamisten, hat es in den vergangenen Tagen geschafft, die Armee des syrischen Machthabers Baschar al-Assad zu überrumpeln. Bis auf wenige Gebäude wurde die Millionenstadt Aleppo fast vollständig von der Opposition erobert und ihre Kämpfer rücken in Richtung Hama und Homs vor. Sollte Assad diese Städte verlieren, könnte das Regime kollabieren. Einen Überblick über die militärische Lage finden Sie hier.

Der syrische Bürgerkrieg herrscht seit 2011. Aber es ist eben nicht nur die Auseinandersetzung der verschiedenen Interessengruppen innerhalb Syriens, sondern ein blutiger Stellvertreterkrieg. Das Land ist schon lange ein Spielfeld für Groß- und Regionalmächte: Sie bewegen die Steine, entscheiden maßgeblich darüber, ob und in welcher Intensität gekämpft wird. Die Opposition, Diktator Assad oder auch die kurdischen Milizen sind letztlich die Spielfiguren eines viel größeren Machtkampfes.

In Syrien könnte ein möglicher Waffenstillstand deshalb nur am Tisch mit den Mächten Türkei, Russland und dem Iran verhandelt werden. Die Türkei machte die aktuelle Eskalation möglich, indem sie der Opposition grünes Licht für die Offensive gab. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan fiel seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin in den Rücken, denn er fühlt sich betrogen und sieht in der aktuellen Eskalation eine Strafe für die Arroganz seiner Gegner.

Türkei gibt Milizen Rückendeckung

Die türkische Führung unter Erdoğan sieht sich in der Tradition des Osmanischen Reiches als Regionalmacht und reagiert aktuell vor allem auf die Schwäche anderer Regionalmächte. Das syrische Regime ist Teil der iranischen "Achse des Widerstands" gegen Israel, zu der auch die Hisbollah, schiitische Milizen im Irak und die Huthi-Rebellen im Jemen gehören.

Doch fast alle diese Gruppierungen wurden in den vergangenen Monaten extrem geschwächt. Die Hisbollah-Führung wurde von Israel ausgeschaltet, der Iran fürchtet Angriffe Israels und der USA und auch der Iran-Verbündete Russland zog Kräfte aus Syrien ab, weil Putin diese im Ukraine-Krieg benötigte.

Somit veränderte die Schwäche der Assad-Verbündeten das Machtgleichgewicht in Syrien. Die Eskalation war absehbar, aber Damaskus reagierte auf Gerüchte, die es im Vorfeld in Syrien gab, relativ überheblich. Assad nahm die Lage nicht ernst, verkürzte in den vergangenen Jahren den Wehrdienst in seiner Armee, ließ paramilitärische Gruppen demobilisieren und entmachtete verbündete Warlords, weil diese in seinen Augen zu mächtig wurden. All das sind in Summe die Gründe für die überraschenden militärischen Erfolge der Opposition.

Video | Rebellen stürmen Assads prunkvolle Villa in Aleppo
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Quelle: t-online

Doch eines liegt auf der Hand: Ohne die Rückendeckung Erdoğans wäre diese Offensive nicht möglich gewesen. Das oppositionelle Bündnis Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), welches von Islamisten dominiert wird, ist zwar nicht der Erfüllungsgehilfe der türkischen Führung. Aber die Opposition aus Idlib ist trotzdem auf eine Versorgung über die türkisch-syrische Grenze angewiesen und Erdoğan konnte sie deshalb mit der Drohung, die Grenze dichtzumachen, in der Vergangenheit gut kontrollieren. Nun hat die HTS sicherlich ein Eigeninteresse an einem Angriff auf die Assad-Truppen, weil sie eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und dem Assad-Regime befürchtete.

Während er die Angriffe der HTS nicht blockierte, verfolgt Erdoğan aber auch konkrete eigene Sicherheitsinteressen. Die Türkei ist etwa verbündet mit der Syrischen Nationalarmee (SNA), einer sunnitischen Miliz, die aktuell gegen die Kurden im Nordosten vorrückt. Sie kämpft vor allem für das türkische Interesse, die kurdischen Gebiete im Norden Syriens kleinzuhalten. Denn Ankara sieht in dem kurdischen Militärbündnis der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) vor allem einen Verbündeten der kurdischen Terrororganisation PKK in der Türkei.

Somit ist die Türkei die Regionalmacht im Zentrum dieser Eskalation – und das ist durchaus eine Überraschung. Denn die Türkei spielt vor allem auch gegenüber Russland mit den Muskeln, obwohl die türkische Regierung in die Brics-Organisation der aufstrebenden Schwellenländer aufgenommen werden möchte, in der unter anderem auch Russland und der Iran Mitglieder sind. Der Kreml gehört zu den Brics-Gründungsmitgliedern, das Mullah-Regime ist erst seit Anfang 2024 dabei.

Erdoğan nutzt Schwächephase

Was bewegt Erdoğan? Warum ist er bereit, dieses Risiko einzugehen? Für sein Vorgehen gibt es vor allem vier Gründe:

  • Erdoğan gilt seit langer Zeit als Feind von Assad. Trotzdem gab der türkische Präsident seinen Widerstand gegen einen Fortbestand des syrischen Regimes auf. Erst im Herbst bot der türkische Präsident dem syrischen Diktator Gespräche an, eine Normalisierung der Beziehungen stand im Raum. Doch Assad reagierte vor allem mit Arroganz auf die diplomatischen Vorstöße der Türkei.
  • Stattdessen gab es in den vergangenen Monaten trotz vereinbarter Waffenruhe verstärkt Luftangriffe auf Idlib oder Aleppo. Es gab kaum einen Tag, an dem in den von der syrischen Opposition kontrollierten Gebieten keine Zivilisten starben. Erdoğan fühlt sich betrogen.
  • Hinzu kommt, dass sich auch die russisch-türkischen Beziehungen verschlechtert haben. Die Türkei sprach sich für die Integrität des ukrainischen Staatsgebietes aus, während der Kreml die türkische Brics-Bewerbung zunächst einmal in die Warteschleife lenkte und auch das Getreideabkommen für die Ukraine aussetzte, was zuvor für Erdoğan ein großer außenpolitischer Erfolg gewesen war. In Ankara war die Wut darüber groß.
  • Letztlich sieht die türkische Führung die Chance, ihre Machtposition in Syrien zu verbessern. Es geht Ankara einerseits darum, die Kontrolle über den Norden des Landes zu festigen, um syrische Flüchtlinge aus der Türkei in diese Gebiete umsiedeln zu können. Andererseits ist es auch ein erneuter Angriff auf die Autonomie der Kurden im Norden Syriens.

Prinzipiell ist es für Erdoğan also beides: eine Racheaktion und der Versuch, sein Blatt im Machtpoker mit dem Iran und Russland zu verbessern. Dabei ist es durchaus möglich, dass die türkische Führung die Schlagkraft der HTS, die über lediglich 10.000 Kämpfer verfügen soll, unterschätzt hat. Unwahrscheinlich ist es hingegen, dass die Türkei der Opposition einen Freibrief gegeben hat. Denn die aktuelle Lage wird eine Reaktion der anderen Mächte auslösen.

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Putins Machtinteressen

Einerseits steht nun natürlich Putin unter Zugzwang. Der Kremlchef ordnet aktuell alles einem möglichen Sieg in der Ukraine unter. Deshalb hat Russland Kräfte aus Syrien verlegt, darunter auch Söldner, die an der Seite der syrischen Armee am Boden kämpften. Aber trotz dieser Schwächung der russischen Präsenz hat Russland das Assad-Regime nicht fallen lassen und es gilt auch als sehr unwahrscheinlich, dass es so weit kommen wird.

Der Grund dafür liegt nicht in der persönlichen Beziehung von Putin zu Assad, sondern darin, dass Russland weiterhin die Entwicklungen in Syrien maßgeblich mitbestimmen möchte. Es geht dem Kreml hier um knallharte Machtinteressen: Einerseits ist Russland mit dem Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg seit 2015 wieder ein Akteur, der nach zwei Jahrzehnten des Niedergangs infolge des Zerfalls der Sowjetunion international in geopolitischen Fragen mit am Tisch sitzt. Andererseits befindet sich der einzige russische Mittelmeerhafen im syrischen Tartus, ein wichtiger russischer Luftwaffenstützpunkt ist bei Latakia.

Sollten oppositionelle Truppen Hama und Homs erobern, wären diese russischen Stützpunkte in ernsthafter Gefahr und ein Verlust wäre ein schwerer Schlag für Putin.

Ob es Erdoğan so weit kommen lassen würde, ist fraglich. Trotzdem hat er Russland nicht nur in Bedrängnis gebracht, sondern Putin einen empfindlichen Schlag versetzt. Dennoch hat die Türkei eigentlich kein Interesse an einer unkontrollierbaren Eskalation und schon jetzt hat sich gezeigt, dass der Verlauf der aktuellen Offensive der Opposition nur schwer vorherzusehen ist.

Nun verstärkte Russland erneut seine Luftangriffe in Syrien und auch der Iran möchte Assad zu Hilfe kommen, vielleicht über verbündete schiitische Milizen im Irak. Gleichzeitig muss das iranische Mullah-Regime fürchten, dass eine noch stärkere Präsenz in Syrien israelische Angriffe provozieren könnte. Unklar ist außerdem, wie die US-Amerikaner reagieren, die im Norden Syriens ein Gebiet und im Osten mehrere Ölfelder kontrollieren.

Die Lage ist chaotisch, vor allem aufgrund der Vielzahl der Akteure, die im syrischen Bürgerkrieg indirekt oder direkt für ihre Interessen kämpfen. Doch während Russland, der Iran und selbst Israel auf die Entwicklungen vor allem lediglich reagieren, hält Erdoğan letztlich die Zügel dieser Eskalation zumindest weitestgehend in den eigenen Händen. Das ist nicht ohne Risiko, weil Interessengruppen in Syrien natürlich auch Eigendynamiken entwickeln können. Die Türkei spielt in jedem Fall mit dem Feuer.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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