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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in Nahost "Mehr Zynismus ist kaum vorstellbar"
Der Krieg in Gaza droht zum Flächenbrand zu werden. Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, äußert deutliche Kritik an Ministerpräsident Netanjahu.
Die Lage in Nahost spitzt sich zu: Nach monatelangen Kämpfen zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas in Gaza könnten weitere Regionalmächte in den Konflikt einsteigen. Besonders groß ist die Sorge vor einem iranischen Angriff.
Der frühere israelische Botschafter in Deutschland Shimon Stein hofft zwar darauf, dass alle Parteien einen Flächenbrand vermeiden wollen. Doch ausgerechnet dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu traut er zu, den Krieg lieber früher als später auszuweiten.
t-online: Herr Stein, wie gefährlich ist die Lage gegenwärtig im Nahen Osten?
Stein: Die Lage ist zunehmend unkalkulierbar geworden. Noch ist die Prämisse, dass der Iran und die Hisbollah kein Interesse an einer großen Auseinandersetzung haben. Ob das auch für Benjamin Netanjahu gilt, ist für mich eine offene Frage.
Für die Hamas jedenfalls gilt die Prämisse nicht.
Nein, denn sie hegt ein großes Interesse an einem regionalen Konflikt. Die Hamas hat schon am 7. Oktober auf eine Ausweitung des Krieges gegen Israel gehofft. Diese Rechnung ist jedoch noch nicht aufgegangen – abgesehen von der Hisbollah, die sich mit der Hamas solidarisiert, aber ihre Angriffe trotz allem begrenzt.
Eigentlich erstaunlich, dass der kleine Krieg noch nicht in einen großen mündete.
Der Grund dafür ist, dass keine der Parteien einen Flächenbrand auslösen möchte. Daher bewegen wir uns momentan noch unterhalb der Schwelle einer großen Auseinandersetzung. Die Schläge, die die Gegner zur jeweiligen Vergeltung anbringen, sollen den Gegenspieler nicht dazu provozieren, sein Verhalten grundsätzlich zu ändern. Es ist ein riskantes Spiel, sodass eine Eskalation, auch wenn sie ungewollt sein mag, jederzeit möglich ist.
Große Kriege entstanden ja oft nur deshalb, weil keiner der Gegner dabei erwischt werden will, sie zu scheuen.
Das stimmt und die Intensität nimmt ja auch zu. Von der Hisbollah, die ihre Nummer zwei verlor, erwarten wir einen Gegenschlag. Das Attentat auf Fuad Shukr, den Hisbollah-Kommandeur, war wiederum die Antwort auf den Anschlag auf ein Drusen-Dorf, bei dem zwölf jugendliche Fußballspieler ihr Leben lassen mussten.
Zur Person
Shimon Stein, geboren 1948 in Chaldera, ist ein israelischer Karrierediplomat. Mehrmals hatte er einen Posten in Deutschland inne, zuletzt als Botschafter zwischen 2001 und 2007. Er ist bekannt für seinen Freimut und sein kritisches Temperament.
Was wäre eigentlich gewesen, wenn die zwölf Kinder Juden gewesen wären?
Dann, glaube ich, wäre es da schon zu einer anderen Auseinandersetzung gekommen, wovor ich wirklich Angst habe.
Iran droht martialisch mit gewaltigen Antworten, weil der politische Anführer der Hamas, Ismail Haniyeh, mitten in Teheran getötet wurde.
Wie wenig Iran auf einen großen Krieg aus ist, zeigt sich schon daran, dass die Führung noch mit einer Reaktion abwartet, die allerdings kommen wird, so viel ist sicher. Nun wissen wir aber nicht, ob die Reaktion genauso wie im April ausfallen wird, als das Mullah-Regime Raketensalven mit Ansage auf Israel abfeuerte, die in einer konzertierten Aktion mit England, Frankreich, Jordanien und den USA abgefangen wurden.
In der Logik dieser Weltgegend muss der Iran etwas unternehmen, um ernst genommen zu werden. So war es im April und so dürfte es in Kürze wieder sein.
Damals haben die Iraner zumindest eine gewisse Abschreckung wiederhergestellt – nach dem Motto: Ihr habt uns geschlagen, jetzt schlagen wir euch und damit ist die Rechnung ausgeglichen. Ich hoffe, es bleibt dabei, dass der iranische Gegenschlag im Verhältnis bleibt. Iran muss ja damit rechnen, dass sie mit unverhältnismäßiger Härte die Amerikaner dazu zwingen würden, gemeinsam mit den Israelis das Land anzugreifen. Die Mullahs warten genauso wie Benjamin Netanjahu die Wahl am 5. November ab.
Weil Donald Trump überraschend geäußert hat, er werde einen Nuklear-Deal mit Iran anstreben?
Der Deal würde im Rahmen seiner isolationistischen Außenpolitik Sinn ergeben, um eine Auseinandersetzung im Nahen Osten zu vermeiden. Es ist ja überhaupt nicht so, dass er 2025 genauso handeln wird wie 2018. Und auch wenn Kamala Harris gewählt werden sollte, weiß niemand genau, wie sie sich positionieren wird. Wir wissen nur dies zuverlässig: Sollte Iran jetzt angreifen in einer Art und Weise, die Israel dazu zwingt, Iran noch heftiger anzugreifen, werden wir die Amerikaner an unserer Seite haben. Deshalb dürfte sich Iran Zurückhaltung auferlegen.
Und wie sieht die Lage aus Sicht Netanjahus aus?
Für Netanjahu ist Iran die große Herausforderung und die große Bedrohung. Er hält einen Krieg zwischen Israel und Iran für unvermeidlich. Da die Amerikaner noch mehr Raketen und Kriegsschiffe ins Mittelmeer schicken, ist die Zeit für einen Angriff jetzt besser als später.
Ist der Krieg zwischen dem Iran und Israel unvermeidlich?
Iran unter dem Mullah-Regime ist entschlossen, dieses zionistische Gebilde von der Landkarte des Nahen Osten zu tilgen. Es geht um das größere Bild. Iran legt einen Ring um Israel. Sie rüsten Hisbollah aus. Sie rüsten Milizen im Irak und Syrien aus. Sie sind entschlossen, in Syrien zu bleiben. Sie versuchen, Jordanien zu destabilisieren, damit sie die Palästinenser von dort aus im Westjordanland mit Waffen versorgen können. Sie haben die Huthi-Rebellen, die 2.000 Kilometer von uns entfernt sind, aufgerüstet. Sie haben die Hamas im Gaza aufgebaut. Iran besitzt eine feste Weltanschauung, in der für Israel kein Existenzrecht bleibt.
Haben Sie eigentlich geglaubt, dass der Krieg im Gaza so lange dauern würde?
Nein, und ich bin da nicht allein. Mich interessiert, wie es so weit kommen konnte, dass wir zum Beispiel vom Ausmaß des Tunnelbaus nichts ahnten. 20.000 Palästinenser kamen täglich zur Arbeit nach Israel. Wir vertrauten auf unsere Technologie entlang der Grenze. Deshalb haben wir Truppen abgezogen. Dazu kam die Schlussfolgerung, die Hamas sei geschwächt. Wir hatten ein Konzept, dass nichts passieren würde.
Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte.
Ja, und jetzt überschätzen wir unsere militärischen Fähigkeiten in der Region. Ich gehöre nicht zu den Israelis, die glauben, dass wir ohne amerikanische Unterstützung Iran herausfordern könnten. Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten auch allein angreifen. Am Ende sind unsere militärischen Kapazitäten begrenzt, mit Iran fertig zu werden.
Wie schätzen Sie den Krieg in Gaza ein?
Zehn Monate sind wir dort mit einem von Netanjahu ausgegebenen unrealistischen Ziel, nämlich die Hamas mit ihren 30.000 Terroristen auszulöschen. Erst vor wenigen Tagen ist eine Salve von Raketen aus Gaza auf unsere Ortschaften hinter der Grenze abgefeuert worden. Wir stecken in einem Sumpf, ohne klare Perspektive, wie es weitergehen soll, geschweige denn, wie es am Tag danach aussehen soll. Wer wird Hamas in Gaza am Tag nach dem Krieg ersetzen?
Herr Stein, lassen Sie uns über Sie persönlich reden. Sie sind Jahrgang 48, Sie gehörten zur ersten Generation, die in Israel geboren wurde. Sie waren Diplomat, unter anderem Botschafter in Berlin. Was bedeuten die Ereignisse für Sie?
Meine Eltern kamen aus Czernowitz in der Bukowina, einer wunderbaren Stadt, sie entstammten einer bürgerlichen deutsch-österreichischen Familie. Sie waren keine Zionisten, aber von der Hoffnung beseelt, eine sichere Heimat zu finden.
Ist die Heimat noch sicher?
Meine große Sorge ist die innere Lage Israels. Die vergangenen zwei Jahre warfen einen Schatten auf den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wollen wir jüdisch und demokratisch sein? Wie kann man jüdisch und demokratisch gleichzeitig sein? Momentan wird die Annexion der Gebiete im Westjordanland forciert. Können wir unter solchen Umständen eigentlich noch zugleich demokratisch und jüdisch sein?
Dass Sie diese Fragen stellen, deutet darauf hin, dass Ihnen die Antworten schwerfallen.
Dafür sorgt die Regierung unter der Leitung einer Person, deren politisches Überleben für sie den Vorrang vor dem Staatswohl hat.
Weil es auch mit Benjamin Netanjahu vorbei sein wird, wenn der Krieg geendet hat.
Um an der Macht zu bleiben, führt er eine Koalition aus Rassisten – von messianischen Menschen, die überzeugt sind, dass Israel alles gehört. Deshalb nutzen sie die Gunst der Stunde, weil der Premierminister erpressbar ist. Möglicherweise landet er im Gefängnis, weil er korrupt ist. Um das zu verhindern, unterwandert er zielstrebig die demokratischen Institutionen. Nach dem Vorbild von Viktor Orbán strebt er eine illiberale Demokratie an. In Israel spricht man gerade davon, dass er zum zweiten Mal dabei ist, Verteidigungsminister Joaw Gallant zu entlassen.
Aus welchem Grund?
Gallant tritt dafür ein, das Abkommen, das zur Befreiung der Geiseln führen wird, endlich abzuschließen, da es schon lange auf dem Tisch liegt. Für Netanjahu aber ist der Krieg wichtiger als die noch lebenden Geiseln in den Fängen der Hamas. Zu den Familien sagte er, die Geiseln leiden ja nur, sie sterben nicht. Mehr Zynismus ist kaum vorstellbar.
Steht Gallant allein?
Keineswegs, denn fast das gesamte militärische Establishment ist der Auffassung, dass ein Abkommen möglich ist. Nach einer Waffenpause könnten dann die Geiseln endlich freikommen und Gaza wieder aufgebaut werden, was einer riesigen Anstrengung bedarf. Am Ende könnte dann eine regionale Allianz gegen Iran geschmiedet werden, eben auch mit Saudi-Arabien, das sich mit der Existenz Israels abgefunden hat.
Israel feierte vor Kurzem die 75. Wiederkehr seiner Staatsgründung. Glauben Sie, dass es seinen 150. Geburtstag feiern kann?
Ich hoffe es. Aber ich weiß es nicht.
Ihre Hoffnung scheint nicht sonderlich ausgeprägt zu sein.
Wir sind ein zerstrittenes Volk. Gut. Wir sind heute stärker polarisiert als früher. Wir sind uns über die Zukunft des Staates nicht einig. Ich kann mir als liberaler Mensch nicht vorstellen, nur in einem jüdischen Staat zu leben, der durch die Halacha, das jüdische Gesetz, bestimmt wird. Wir müssen zwischen jüdisch und demokratisch einen Kompromiss finden, um überleben zu können.
Herr Stein, danke für dieses Gespräch.
- Gespräch mit Shimon Stein