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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Umgang mit Zivilisten "Das ist das zynische Kalkül der Hamas"
Israels Militär ruft die Bevölkerung im Gazastreifen auf, den Norden des Gebietes zu verlassen. Doch die Hamas drängt die Bevölkerung dazu, das zu ignorieren. Dahinter könnte ein perfider Plan stehen.
Das israelische Militär hat am Freitag die Bewohner des nördlichen Gazastreifens aufgefordert, die Region in Richtung Süden zu verlassen. Betroffen sind davon rund 1,1 Millionen Menschen. Experten rechnen damit, dass der Aufruf einen Hinweis auf eine bevorstehende Bodenoffensive Israels darstellt. Doch die Flucht aus dem betroffenen Gebiet gestaltet sich schwierig – und gerade an zivilen Opfern und schrecklichen Bildern könnte die Terrorgruppe Hamas Interesse haben.
"Ich glaube nicht, dass es technisch möglich ist, den Bereich im nördlichen Gazastreifen innerhalb von 24 Stunden zu evakuieren", sagt Nahostexperte Peter Lintl im Gespräch mit t-online. "Zumal es sich nicht um eine gezielte Aktion handelt, sondern die Palästinenser einfach dazu aufgerufen wurden, ihre Siedlungen zu verlassen."
Doch nicht nur Zeitdruck und ein unklares Ziel erschweren die Flucht. Viele Menschen wissen einfach nicht, wohin sie fliehen sollen. Rafah ist der einzige Grenzübergang vom Gazastreifen nach Ägypten, aber seit Dienstag geschlossen. Alle anderen Grenzübergänge gehen nach Israel. Aber auch Personen, die entschlossen sind, den nördlichen Teil des Gazastreifens zu verlassen, stoßen wohl auf Hindernisse. "Es gibt erste Augenzeugenberichte, die schildern, dass die Hamas Flüchtende zurückhält", so Lintl. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Berichte derzeit nicht.
Fest steht: Die Hamas tut den Evakuierungsaufruf Israels als "Propaganda" ab. Die Terrororganisation sagte am Freitag, dass Zivilisten darauf nicht "hereinfallen" sollten. Im Klartext heißt das, dass die Terrorgruppe die Bevölkerung vor Ort halten will, die offenen Warnungen Israels ignorierend und damit in Kauf nimmt, dass es zu vielen weiteren zivilen Opfern kommen kann.
"Palästinenser und entführte Israelis als menschliche Schutzschilde"
Für Experte Lintl kommen diese Schilderungen nicht überraschend. Schon an anderer Stelle habe die Hamas ähnliches Verhalten gezeigt – auch auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung. "Es ist das zynische Kalkül der Hamas. Sie benutzen Palästinenser und entführte Israelis als menschliche Schutzschilde. Die Hamas scheint zivile Opfer mehr als bereitwillig in Kauf zu nehmen."
Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen kommt auf der Nachrichtenplattform X, vormals Twitter, zu einer ähnlichen Einschätzung. Es handele sich um "das menschenverachtende Drehbuch der Hamas". "Es geht ihnen nicht um das Leben der Palästinenser", schreibt er.
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"Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Die Hamas braucht palästinensische Opfer, um ihren Terror zu rechtfertigen. Der Jubel in Teilen der arabischen Welt in den vergangenen Tagen bestärkt sie dabei", sagt Lintl.
Doch es gehe nicht nur um den Jubel, sondern auch darum, wie sich eine bevorstehende Bodenoffensive entwickeln könnte. "Die Hamas spekuliert darauf, dass eine schleppende Evakuierung auch eine mögliche Bodenoffensive der Israelis in die Länge ziehen könnte", so Lintl. "Dabei wäre die Hamas beim Häuserkampf im Vorteil, da sie die Begebenheiten kennt und sich vorbereiten konnte."
Zudem hätten die zivilen Opfer bei einer solchen Bodenoffensive eine große Bedeutung für die Hamas. "Darüber hinaus würde eine längere Offensive viele israelische Opfer fordern und damit innenpolitisch Israel unter Druck setzen. Gibt es dann noch viele palästinensische Opfer, kommt Israel zusätzlich außenpolitisch unter Druck."
Dazu passt auch, dass die Hamas am Freitag behauptete, dass bei den israelischen Luftangriffen im Gazastreifen 13 Geiseln getötet worden sein. Unabhängig können diese Angaben nicht überprüft werden. Derzeit gelten rund 150 Personen als von der Hamas verschleppt. Experten befürchten, dass sie bei einer Bodenoffensive Israels besonders in Gefahr geraten könnten, da die Hamas sie als Schutzschilde einsetzen oder ihre Morde als Racheakte inszenieren könnte.
Wie sich die Lage tatsächlich entwickeln wird, kann derzeit aber niemand sagen. "Es ist völlig unklar, wie viele Opfer es in Gaza letztlich geben wird", so Experte Lintl.
Experte: "PR-Schlacht" steht bevor
Auch deshalb appellierten die Vereinten Nationen an Israel, die Anweisung zur Evakuierung zurückzunehmen. Ansonsten könne sich eine ohnehin schon tragische Situation in eine katastrophale verwandeln. Sie befürchten viele zivile Opfer, da es "unmöglich" sei, das Gebiet kurzfristig zu evakuieren.
Nach Einschätzung von Experte Lintl keine einfache Situation. "Israel befindet sich nach dem bestialischen Terrorangriff der Hamas in einer wahnsinnig schwierigen Lage. "Mit der Ankündigung versuche Israel, die Anzahl ziviler Opfer in Gaza zu reduzieren. "Gleichzeitig heißt das aber auch: Wer dem Evakuierungsaufruf nicht folgt, wird künftig als Kämpfer eingestuft", so Lintl.
Das sei wichtig, denn der Konflikt werde nicht nur mit Raketen und anderen Waffen ausgefochten. Längst toben Desinformationskampagnen in sozialen Netzwerken und gefälschte Videos machen die Runde. "Wir können uns bereits darauf einstellen, dass es eine PR-Schlacht und eine Vielzahl an Fake News geben wird", sagt auch Lintl. "Es wird um die Hoheit der Narrative gekämpft und dabei spielt es eine wichtige Rolle, wer als Zivilist und wer als Kämpfer gilt."
Die EU hat die Gefahr von sozialen Netzwerken bei Fake News über den terroristischen Angriff auf Israel ebenfalls erkannt. EU-Kommissar Thierry Breton richtete sich am Donnerstag mit einem Brief an die chinesische Plattform TikTok (mehr dazu lesen Sie hier). Es lägen Hinweise vor, dass TikTok für die Verbreitung illegaler Inhalte und Fake News im Zusammenhang mit den Attacken auf Israel genutzt werde, schrieb Breton in einem Brief, den er am Donnerstag auf X (ehemals Twitter) veröffentlichte. Gerade weil die Plattform viel von Kindern und Jugendlichen genutzt werde, sei TikTok besonders verpflichtet, diese vor gewalttätigen Inhalten zu schützen. Zuvor hatte er auch Meta und X kontaktiert.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Peter Lintl
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters