Sittenwächter im Iran "Wir versuchen, ganz mutig an ihnen vorbeizugehen"
Indem sie dem Kopftuchzwang trotzen, protestieren zahlreiche Frauen im Iran gegen das Regime. Unter den Augen der internationalen Gemeinschaft versucht sich dieses an einem Balanceakt.
Es ist glühend heiß in Teheran, mit etwas Glück weht eine Brise in der Metropole am Fuße des Elburs. Viele Frauen tragen offene Haare oder luftige Kleider. Vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen in der Islamischen Republik Iran. Nach den Protesten im Herbst ignorieren immer mehr Frauen die strengen Kleidungsvorschriften, auch als Zeichen des stillen Protests gegen das islamische Regime – und das, obwohl dieses sein Vorgehen gegen die Frauen zuletzt wieder öffentlich verschärft hatte.
Nach den Demonstrationen gegen die politische und religiöse Führung im vergangenen Herbst erklärte das Regime zwischenzeitlich, die sogenannte Sittenpolizei abschaffen zu wollen – "reine Propaganda", wie Iran-Expertin Gilda Sahebi einordnete. Vor wenigen Wochen kündigte das Regime dann an, die Sittenwächter zurück auf die Straßen zu schicken und etwa die Hidschab-Pflicht wieder strenger zu kontrollieren. Zuvor hatten konservative Hardliner seit Monaten auf ein strengeres Vorgehen des Regimes gedrängt.
Viele Menschen in der Bevölkerung des Irans hatten das erwartet. Doch scheinen die Sittenwächter nun offenbar deutlich vorsichtiger vorzugehen, wie Recherchen der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zeigen.
Sittenpolizei lackierte offenbar Vans um
So sollten nach offiziellen Angaben diesmal angeblich keine Vans mehr für die Kontrollen eingesetzt werden. Videos, die nun von Vans in Verbindung mit den Sittenwächtern in Umlauf gebracht würden, seien "gefälscht oder alt", zitiert Amnesty International einen Kommandeur unter Berufung auf die staatliche Nachrichtenagentur Tasnim. Laut ihm solle kein Van mehr zu sehen sein, der die Aufschrift der Sittenpolizei trägt.
Das aber stimmt nur teilweise, denn laut einem Bericht von Amnesty International sind die Sittenwächter nach wie vor in Vans auf den Straßen – diese sind jedoch umlackiert. Statt mit der Aufschrift der Sittenpolizei und den Streifen an den Seiten der Autos sind sie nun als bloße weiße Laster unterwegs.
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"Die Behörden machen niemandem etwas vor, indem sie die Abzeichen der 'Sittenpolizei' von den Uniformen und Streifenwagen entfernen", sagt Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. Demnach werde die Kontrolle der sogenannten Sittenpolizei zudem weiterhin durch Überwachungskameras verschärft.
Frauen bekommen Warnungen per SMS
Offiziellen Angaben zufolge hätten so seit dem 15. April 2023 mehr als eine Million Frauen eine SMS erhalten, in der sie gewarnt wurden, dass ihre Fahrzeuge beschlagnahmt werden könnten, nachdem sie ohne Kopftuch gefilmt worden waren. Darüber hinaus wurden zahllose Frauen von Universitäten suspendiert oder ausgeschlossen, durften keine Abschlussprüfungen ablegen und hatten keinen Zugang zu Finanzdienstleistungen oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Hunderte von Geschäften wurden zudem zwangsweise geschlossen, weil sich Frauen darin nicht an die Hidschab-Pflicht hielten.
"Die Islamische Republik will zeigen, dass sie bei der Durchsetzung der Zwangsverschleierung bis zum Äußersten gehen kann", sagt eine Frau aus Isfahan über das Vorgehen des Regimes zu Amnesty International. Für mehrere Tage soll ihr demnach verboten worden sein, ihr Auto zu nutzen, nachdem sie ohne Hidschab gefilmt worden war. "Sie wollen der internationalen Gemeinschaft gegenüber den Eindruck erwecken, dass sie sich von der Gewalt abwenden, aber in Wirklichkeit führen sie diese Maßnahmen diskret durch. Sie schaffen wirklich Angst um unsere Existenz", sagt sie.
Und auch Kimia, eine 18-Jährige aus Teheran, sagt, die Ankündigung, dass die Kontrollen wieder verschärft werden sollen, habe sie nicht beunruhigt. "Selbst wenn wir die Polizei oder Sittenwächter auf den Straßen sehen, setzen wir kein Kopftuch auf. Wir versuchen, ganz mutig an ihnen vorbeizugehen, weil es unser natürliches Recht ist, uns zu kleiden, wie wir wollen."
"Am Anfang habe ich mich gefürchtet"
Doch trotz der strengen Verfolgung protestieren viele Frauen weiter gegen das islamische Regime. "Am Anfang habe ich mich gefürchtet, als ich das erste Mal ohne Kopftuch nach draußen gegangen bin. Jetzt nicht mehr", erzählt Mina aus Teheran. Gleich am Tag der Rückkehr der berüchtigten Sittenwächter der iranischen Polizei wurde die Frau, die eigentlich anders heißt, mit ihrer Freundin das erste Mal seit Monaten wieder verwarnt.
Im schlimmsten Fall droht den Frauen dafür eine gewaltsame Verhaftung. So wie Jina Mahsa Amini, deren Tod im September vergangenen Jahres zum Auslöser der Proteste wurde. Die 22-jährige iranische Kurdin war von der Sittenpolizei gewaltsam festgenommen worden und in Haft der Regimekräfte gestorben.
Gegen die Proteste ging das Regime rigoros vor. Mehr als 20.000 Menschen wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Activists News Agency (HRANA) verhaftet, mehr als 500 von Regimekräften erschossen. Offiziell ließ das Regime zudem sieben Demonstranten hinrichten. Laut HRANA könnten es noch mehr sein. So würden nicht alle Hinrichtungen offiziell angekündigt.
Zwei Journalistinnen stehen vor Gericht
Zwei iranische Journalistinnen, die als Erste über den Fall Aminis berichtet hatten, stehen an diesen Tagen wieder vor Gericht: Nilufar Hamedi und Elaheh Mohammadi. Der Geheimdienst des islamischen Regimes wirft ihnen aufgrund ihrer Berichterstattung Staatsverrat vor, seit mehr als 300 Tagen sind sie nun in Haft.
Ein Richter des Regimes, Abolghassem Salawati, der in der Vergangenheit zahlreiche Todesurteile gegen Demonstranten verhängte, soll das Urteil sprechen. Wann das sein soll, ist unklar. Die Gerichtsprozesse werden von Menschenrechtlern regelmäßig als "Scheinprozesse" kritisiert, da sie häufig ohne Zugang zu einem Anwalt und auf Grundlage von Zwangsgeständnissen ablaufen. Mehr zu den Gerichtsverfahren und Todesurteilen im Iran lesen Sie hier.
"Sie haben verstanden, dass wir keine Angst mehr haben"
Doch von den drohenden Konsequenzen wollen sich viele Frauen nicht mehr einschüchtern lassen. "Sie haben verstanden, dass wir keine Angst mehr haben", sagt Mina. Und es sind nicht nur Frauen, die wie im Herbst für ein selbstbestimmtes Leben kämpfen. Vereinzelt sind Männer zu sehen, die Shorts tragen. Damit verstoßen sie ebenfalls gegen die islamischen Bekleidungsregeln. Mina erzählt von Bekannten, die heute entschieden eingreifen würden, wenn Sittenwächter Frauen kontrollieren. "Eine Gesellschaft, die sich einmal in Bewegung gesetzt hat, macht keinen Schritt zurück mehr", sagt die 34-Jährige.
In vielen Einkaufszentren wohlhabender Gegenden sind die Gegensätze sichtbarer denn je. Entweder tragen Frauen gar kein Kopftuch – oder verhüllen sich strenger. Locker sitzende Hidschabs auf dem Hinterkopf wie zu früheren Zeiten sind selten geworden. Fern der Großstädte und in traditionellen Gegenden wird die Kopftuchpflicht mehr eingehalten.
Der renommierte Reformpolitiker Abbas Abdi vermutet, dass die Rückkehr der Sittenwächter mit dem nahenden Jahrestag der Proteste am 16. September zusammenhängt. Der Staat wolle den gesellschaftlichen Veränderungen nicht nachgeben, sagt der Intellektuelle. "Wenn die Zahl der Frauen ohne Hidschab in den Städten zunimmt, ist es ein Symbol gegen die Regierung oder das System." Das Kopftuch gehöre zur Identität der Islamischen Republik.
- Nachrichtenagentur dpa
- amnesty.de: Pressemitteilung und Analyse vom 26.07.2023
- Eigene Recherche