Hilferuf beim ESC Interessant ist, was Selenskyj nicht gesagt hat

Der Triumph der Ukraine beim ESC war hochpolitisch. In die Freudentränen mischte sich die Sorge um die immer noch eingeschlossenen Kämpfer in Mariupol. Die Aussagen von Präsident Selenskyi dazu waren aufschlussreich.
Während die Ukraine sich erste Gedanken darüber macht, wo sie kommendes Jahr den Eurovision Song Contest ausrichten könnte, gehen vor allem im Osten des Landes erbitterte Kämpfe weiter. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einer sehr schwierigen Lage im dortigen Industriegebiet Donbass. Regionale Behörden rechnen mit neuen Angriffen russischer Truppen aus mehreren Richtungen.
Selenskyj zeigte sich nach dem Sieg der Band Kalush Orchestra beim in Turin ausgetragenen ESC entschlossen, trotz des aktuellen russischen Angriffskrieges den Pflichten als Gastgeberland nachzukommen. "Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision!", schrieb der ukrainische Präsident in der Nacht zum Sonntag in seinem Nachrichtenkanal beim Chatdienst Telegram.
Selenskyj nahm auch Bezug auf den Aufruf der Band beim ESC, die von russischen Truppen belagerte Hafenstadt Mariupol zu retten. "Wir tun alles dafür, damit eines Tages das ukrainische Mariupol die Teilnehmer und Gäste der Eurovision empfängt. Ein freies, friedliches, wieder aufgebautes!", schrieb er.
Selenskyj bleibt vage
Die ukrainischen Musiker forderten am Ende ihres viel umjubelten Auftritts die Weltgemeinschaft zur Unterstützung auf. Sänger Oleh Psjuk sagte auf der Bühne: "I ask all of you: Please help Ukraine, Mariupol, help Asovstal – right now" (Ich bitte Euch alle: Helft der Ukraine, Mariupol und den Menschen im Asow-Stahlwerk). Auch andere Musiker zeigten sich in der Show solidarisch mit der Ukraine.
Embed
Nach dem ESC-Spektakel rief auch Rapper Oleh Psjuk die Weltgemeinschaft zur Hilfe für die Kämpfer im Asow-Stahlwerk in Mariupol im Südosten des Landes auf: "Wir brauchen Hilfe, um diese Menschen freizubekommen."
Interessant ist, dass Selenskyj auf diese vielfachen Hilferufe in seiner eigenen Solidaritätsbekundung nicht eingeht. Der ukrainische Präsident spricht ganz allgemein nur von der Befreiung Mariupols. Auf die seit Monaten unter andauernden Bombardements der russischen Seite eingeschlossenen Kämpfer des ultranationalistischen Asow-Regiments geht Selenskyj nicht konkret ein. Für die Soldaten, unter ihnen sollen mehrere Hunderte Verletzte sein, bedeutet das wohl nichts Gutes.
Die ukrainische Seite schlug vergangene Woche einen Gefangenenaustausch vor, um die eingekesselten Soldaten zu retten – ohne Erfolg. Der Kreml sieht in den Asowstal-Verteidigern die sogenannten "Nazis", die man in der Ukraine bekämpfen möchte. Die ukrainische Führung dagegen hat keine wirklichen Optionen mehr und geht offenbar davon aus, dass ihre Kämpfer in dem Stahlwerk verloren sind.
Unterdessen sind die Asowstal-Verteidiger in der Ukraine zu Helden geworden. Auch deshalb bleibt der ukrainische Präsident eher vage, denn sollte der letzte Widerstand in Mariupol gebrochen werden, schwächte das die Kampfmoral im Rest des Landes. Offenbar geht die ukrainische Führung davon aus, dass Mariupol vorerst verloren gehen wird.
Offenbar die Hände gebunden
Erst kürzlich hatte Selenskyj zwar gegenüber der Onlinezeitung "Ukrajinska Prawda" gesagt, Kiew bemühe sich zwar weiterhin, alle zur Verfügung stehenden diplomatischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Rettung der Soldaten zu ermöglichen. Doch Russland zeigt sich in der Frage nach wie vor unnachgiebig. Präsident Wladimir Putin besteht auf der Niederlegung der Waffen und der Kapitulation der Asowstal-Verteidiger.
Glaubt man dem ukrainischen Präsidenten, sind seiner Armee die Hände gebunden. Selenskyj erklärte, dass man gegenwärtig nicht über die schweren Waffen verfüge, die für einen erfolgreichen Vorstoß zur Befreiung von Mariupol nötig wären.
Selbst die russischen Truppen, die das Werk von Asowstal seit Monaten belagern, nahmen unmittelbar nach dem ESC offenbar Bezug auf den Hilferuf, den die Gewinner des Gesangwettbewerbs vor den Augen der Weltöffentlichkeit absetzten. Sie verbreiteten Fotos, auf denen Kriegsgerät zu sehen ist, auf das die russischen Soldaten offenbar Botschaften geschrieben haben.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
"Help Asowstal, help Asowstal" steht auf den Bomben – eine zynische Referenz auf den Aufruf der Band Kalush Orchestra. Offenbar machen sich die russischen Invasoren mit dieser Geste über den Hilferuf der ukrainischen Künstler lustig.
Das Beschriften von Bomben mit verächtlich machenden Slogans hat nicht nur in der russischen Armee Tradition. Auch das amerikanische Militär schrieb in verschiedenen Kriegen ähnlich zynische Botschaften auf seine Bomben, etwa im Krieg gegen die Taliban in Afghanistan.
- Nachrichtenagentur dpa