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Experte erklärt: Dann droht Deutschland der "Tschernobyl-Effekt"


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Angriff auf Atomkraftwerk
"Wissen nicht, ob das Risiko endgültig gebannt ist"


04.03.2022Lesedauer: 4 Min.
Angestellte im AKW Saporischschja (Archivbild): Die Anlage ist das größte Atomkraftwerk in Europa und eines der zehn größten der Welt.Vergrößern des Bildes
Angestellte im AKW Saporischschja (Archivbild): Die Anlage ist das größte Atomkraftwerk in Europa und eines der zehn größten der Welt. (Quelle: Dmytro Smolyenko/imago-images-bilder)
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Putins Truppen haben das größte Atomkraftwerk Europas eingenommen. Welche Risiken birgt das für die Ukraine und Europa? Ein Experte erklärt.

Beschuss und Feuer auf dem Gelände von Europas größtem Atomkraftwerk in der Ukraine: In der Nacht zu Freitag sind russische Truppen auf das Kernkraftwerk Saporischschja im Südosten der Ukraine vorgerückt. Ein Geschoss schlug in der Nähe der Reaktoreinheit ein und setzte ein Ausbildungsgebäude in Brand, wie die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO bestätigt. Dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj zufolge halten russische Truppen das Kraftwerk nun besetzt.

Mit Tschernobyl hat das russische Militär außerdem bereits früh in seinem Angriffskrieg eine stillgelegte Atomanlage im Norden der Ukraine eingenommen. Dort werden dem staatlichen ukrainischen Energiekonzern Energoatom zufolge seit einer Woche rund 100 ukrainische Angestellte gefangen gehalten und zur Arbeit auf dem Gelände gezwungen, auf dem sich immer noch strahlendes Material befindet.

Hat Russlands Präsident Wladimir Putin ein gesteigertes Interesse an den Atomanlagen in der Ukraine? Und wie groß ist die Gefahr, die von Kernkraftwerken im Kriegsgebiet ausgeht – für die Ukraine, für Deutschland, für Europa?

"Wissen nicht, ob das Risiko endgültig gebannt ist"

Experten wie der Physiker Wolfgang Renneberg sind alarmiert. Von umkämpften Atomkraftwerken gehe ein enormes Risiko aus, warnt er im Gespräch mit t-online. Renneberg ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet. Von 1998 bis 2009 war er Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium und hat 20 Jahre lang in der deutschen Atomaufsicht gearbeitet.

Er verurteilt den Beschuss des Kernkraftwerks Saporischschja – ob geplant oder nicht – als "No-Go", auch in Zeiten des Krieges. "Ein Atomkraftwerk ist eine hochkomplexe Anlage", sagte er t-online. "Es kann in solchen Fällen immer etwas passieren, auch wenn Stahlhüllen nicht zerschossen werden." Die Brennelemente, die nukleare Wärme erzeugen, müssten jederzeit abgekühlt werden. Durch Störungen könne die Kühlung rasch beeinträchtigt werden, die Brennelemente sich erhitzen und versagen – dann setze sich Radioaktivität frei.

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Das Feuer auf dem Gelände der Anlage ist Berichten zufolge inzwischen wieder gelöscht, Radioaktivität ist nach ersten Einschätzungen nicht ausgetreten. Alle radiologischen Messwerte bewegten "sich weiter im normalen Bereich", meldet das Bundesamt für Strahlenschutz.

"Das aber ist noch keine Entwarnung", sagt Renneberg. Weiterhin sei unklar, welche Schäden in der komplexen Anlage angerichtet worden seien und ob es möglicherweise Probleme bei der Kühlung gebe oder in Zukunft geben werde. "Wir wissen nicht, ob das Risiko endgültig gebannt ist."

Feuer trägt Aerosole im Störfall weit über die Grenzen

Die Folgen eines Störfalls im Atomkraftwerk wären fatal – zunächst für die direkte Umgebung, je nach Wetterbedingungen aber auch für andere Länder. Bei einem Versagen der Brennelemente würden radioaktive Stoffe in unterschiedlichen Formen entweichen, erklärt Renneberg. Besonders gefährlich seien die gasförmigen Aerosole, vor allem in Kombination mit einem Feuer in oder nahe der Anlage.

"Wenn Aerosole durch ein Feuer hochgetragen werden, haben wir den Tschernobyl-Effekt", sagt Renneberg. Die Aerosole könnten dann sehr weit getragen werden und durch Abregnen auch weit entfernte Gebiete verseuchen. "Mit einem Feuer in der Anlage hätten wir bei radioaktiven Freisetzungen rasch ein internationales Problem." Je nach Wetterlage könnte dann auch Deutschland betroffen sein – das AKW Saporischschja ist knapp 1.900 Kilometer Autofahrt von Berlin entfernt.

Vorerst Entwarnung für Deutschland

"Wir sind 2.000 Kilometer weg" – Mit diesem Satz suchte der damalige CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann die panische deutsche Bevölkerung zu beruhigen, nachdem im Frühjahr 1986 das Kraftwerk im ukrainischen Tschernobyl explodiert war. Doch dann drehte der Wind. Die Folgen der größten nuklearen Katastrophe in der Geschichte sind heute noch messbar: In den letzten Jahren wurden in Deutschland laut Umweltinstitut München noch Pilze mit einer Belastung von 2.000 Becquerel für Cäsium 137 gefunden. Der Grenzwert für Lebensmittel liegt laut dem Institut bei 600 Becquerel pro Kilo.

Der internationale Super-GAU wie in Tschernobyl droht derzeit in der Ukraine nach Einschätzung von Renneberg nicht. Wenn die gemeldeten Angaben richtig seien, das Feuer gelöscht und keine Radioaktivität ausgetreten sei, dann halte er Schutzmaßnahmen hierzulande nicht für notwendig. "In Deutschland muss man sich zurzeit noch keine Sorgen machen", sagt er. Größer sei die Gefahr für das die Anlage umgebende Gebiet: Denn auch Regen könne radioaktive Stoffe im Fall eines Versagens der Brennelemente in den Boden spülen, die Umgebung so kontaminiert werden.

Dass eine solche Verseuchung im Sinne des russischen Präsidenten ist, bezweifelt Renneberg allerdings. Die Schäden wären enorm, ganze Landstriche könnten zum Sperrgebiet werden. "Putin ist nicht an einer zerstörten Ukraine interessiert", sagt Renneberg. Die Ukraine solle schließlich Putins Machtpotenzial vergrößern. Das sei nicht möglich, wenn russische Truppen wichtige Gebiete des Landes unbewohnbar machen würden.

Renneberg warnt vor "unkontrollierter Kriegsführung"

Den Beschuss auf das Kraftwerk erklärt Renneberg sich deswegen auch weniger durch Order von ganz oben, sondern eher durch eigenwillige militärische Kommandanten im konkreten Einsatz. In ihnen sieht er auch ein besonderes Risiko mit Blick auf das Vorrücken der russischen Truppen und die weiteren drei aktiven Kernkraftwerke im Land: "Wenn es eine unkontrollierte Kriegsführung gibt – wie es sie im Fall von Saporischschja möglicherweise gab – kann es zu weiteren solcher Vorfälle kommen."

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Die Ukraine unterhält an vier Standorten Atomkraftwerke. Insgesamt werden dort 15 Druckwasserreaktoren mit einer installierten Gesamtleistung von 13,8 Gigawatt betrieben. Neben dem Kraftwerk Saporischschja mit sechs Reaktoren im Südosten des Landes stehen Anlagen bei Riwne (vier Reaktoren) und Chmelnyzkyj (zwei) im Nordwesten sowie bei Mykolajiw (drei) im Südwesten.

Stellt Putin der Ukraine jetzt den Strom ab?

Ein zentraler Streich ist den russischen Truppen mit der Einnahme des Kraftwerks Saporischschja nach Rennebergs Einschätzung allerdings bereits gelungen. Schließlich beliefert die Anlage weite Teile der Ukraine mit Strom. Sie ist wichtiger Bestandteil der kritischen Infrastruktur des Landes – und hält andere Teile der kritischen Infrastrukturen erst am Laufen. "Die Macht über die Kernkraftwerke gibt Putin die Macht über die Stromversorgung", sagt Renneberg. Das könne ein "bedeutender strategischer Faktor in der Kriegsführung" sein.

Könnte Putin also Hunderttausenden Haushalten in der Ukraine jetzt den Strom abdrehen? Experte Renneberg hält das möglich, aber für äußerst unwahrscheinlich. Der Grund dafür liegt wiederum in den Atomanlagen selbst: Die Kraftwerke sind für die Kühlung der Brennelemente selbst auf ein stabiles Stromnetz angewiesen.

Nehme man die Kraftwerke vom Netz, sei die Gefahr groß, dass es durch mangelnde Stromversorgung zu einem Versagen der Brennelemente und einem nuklearen Störfall komme. "Das Risiko halte ich für viel zu groß, als dass Putin es eingehen würde – vorausgesetzt, er kennt diese Zusammenhänge."

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Wolfgang Renneberg am 4. März
  • Mit Material von dpa
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