Aserbaidschan startet Militäreinsatz Worum geht es im Konflikt um Bergkarabach?
Aserbaidschan hat mit Militäreinsätzen in der Region Bergkarabach begonnen. Schon länger kursieren Warnungen vor ethnischen Säuberungen in der Region. Ein Überblick.
Aserbaidschan hat nach eigenen Angaben mit Militäreinsätzen in der Region Bergkarabach begonnen. Mehrere Städte der Kaukasus-Region sind am Dienstag nach Angaben örtlicher Behördenvertreter Aserbaidschans angegriffen worden. Mehr zu den aktuellen Entwicklungen lesen Sie hier.
Worum aber geht es in diesem Konflikt? Ein Überblick:
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Worum geht es im Konflikt um Bergkarabach?
Der Konflikt ist einer der ältesten der Neuzeit. Die Führung der Sowjetunion sprach das überwiegend armenisch bewohnte Gebiet 1921 Aserbaidschan zu. Dagegen gab es in Bergkarabach immer wieder Proteste, bis Ende der 1980er-Jahre ein blutiger Konflikt ausbrach, in den schließlich auch Armenien einstieg und gemeinsam mit der Armee Bergkarabachs die Region unter ihre Kontrolle brachte.
2020 startete Aserbaidschan eine Offensive, um die Region zurückzuerobern. Bergkarabach sieht sich selbst als unabhängig und bezeichnet sich als Republik Arzach, in einer UN-Resolution wurde das Gebiet bis zu einer endgültigen Lösung des Konflikts Aserbaidschan zugesprochen.
Seitdem war Bergkarabach nur noch über eine Straße direkt von Armenien zu erreichen, den sogenannten Latschin-Korridor. Seit Ende 2022 aber blockiert Aserbaidschan diese Straße. Zunächst behauptete die Regierung, es handle sich um Klimaaktivisten, die die Straße sperren, weil Armenier illegalen Bergbau betreiben würden. Es wurde aber schnell offensichtlich, dass die Blockade von der Regierung organisiert wurde. Zunächst durften noch Hilfskonvois des Internationalen Rote Kreuzes den Korridor passieren, seit dem 11. Juli hat Aserbaidschan auch das untersagt.
In der Region fehlt es in der Folge an Medikamenten, Lebensmitteln und anderen Alltagsgütern. Laut Hilfsorganisationen hat sich die humanitäre Lage enorm verschlechtert. Mehr dazu lesen Sie hier. Nun hat Aserbaidschan dort offenbar einen größeren Militäreinsatz gestartet.
Wie rechtfertigt Aserbaidschan seinen Militäreinsatz?
Laut dem aserbaidschanischen Verteidigungsministerium handelt es sich um "Anti-Terror-Einsätze". Der Mitteilung zufolge dient der Militäreinsatz dazu, den nach dem letzten Bergkarabach-Krieg 2020 im Waffenstillstand festgeschriebenen Rückzug armenischer Truppen aus dem Gebiet durchzusetzen.
Das Ministerium behauptet, es habe in den vergangenen Monaten "systematischen Beschuss" sowie Verstärkung von Angriffsstellungen armenischer Kräfte gegeben. Aserbaidschan setze nun "Hochpräzisionswaffen" ein, um Kampffahrzeuge und "militärische Ziele" der armenischen Truppen anzugreifen, heißt es weiter in einer Mitteilung des Verteidigungsministeriums.
Der frühere Regierungschef der international nicht anerkannten Republik Arzach in Bergkarabach, Ruben Wardanjan, berichtete hingegen auf seinem Telegram-Kanal von massivem Artilleriefeuer auf das Gebiet und bestreitet, die Waffenruhe gebrochen zu haben. Gegham Stepanyan, der Menschenrechtsverteidiger von Bergkarabach, warf Aserbaidschan zudem vor, auch zivile Ziele unter Beschuss zu nehmen.
Experten befürchten eine ethnische Säuberung – warum?
Die humanitäre Lage in Bergkarabach verschlechtert sich seit Monaten. Den 120.000 Einwohnern droht der Hungertod, es gibt Berichte, dass bereits Menschen an Mangelernährung gestorben seien, vor allem Kinder. Genozid-Forscher der International Association of Genocide Scholars beobachteten zudem, dass Aserbaidschans Präsident und seine Propaganda die Armenier zunehmend entmenschlichen. So bezeichnet Ilham Alijew Armenier etwa als Hunde, die es fortzujagen gilt.
In den vergangenen Monaten häuften sich deswegen die Warnungen, dass Aserbaidschan in Bergkarabach ethnische Säuberungen vorbereitet. Der frühere Chefankläger am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, sagte t-online im August: "Ein Völkermord ist es jetzt schon. Und den müssen wir verhindern." Mehr dazu lesen Sie hier.
Diplomaten gehen davon aus, dass Aserbaidschans autoritäre Führung zuletzt ausnutzte, dass Armeniens Schutzmacht Russland mit dem Krieg gegen die Ukraine beschäftigt ist.
Was ist die Rolle Russlands?
Laut der Waffenstillstandsvereinbarung von 2020 sollten 2.000 russische Soldaten für Ordnung in der Region sorgen – eigentlich. Denn seitdem Russland die Ukraine überfallen hat, sind dort nicht nur die Kräfte gebunden. Russlands Ruf als starke Führungsmacht in der Region ist zudem angeschlagen. Die Truppen schauen der Blockade größtenteils tatenlos zu.
Zwar sieht sich Kremlchef Wladimir Putin noch immer als Vermittler zwischen den Ex-Sowjetrepubliken. Doch in Armenien wird sich immer offener und lauter über die Schutzmacht empört.
Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan bezeichnet es mittlerweile offen als Fehler, sich in Sicherheitsfragen zu abhängig von Russland gemacht zu haben. Das Land unterhält zudem enge Verbindungen in den Iran und wendet sich nun verstärkt auch den USA zu. Mitte September hatten die armenische und US-Armee ein gemeinsames Manöver durchgeführt. Der Kreml zeigte sich besorgt. Mehr dazu lesen Sie hier.
In der aktuellen Situation wandte sich Armenien nun sowohl an Russland als auch an die Vereinten Nationen und forderte Maßnahmen, die den Militäreinsatz beenden. Es seien "klare und eindeutige Schritte zur Beendigung der aserbaidschanischen Aggression" nötig, heißt es in einer von armenischen Medien verbreiteten Mitteilung des Außenministeriums.
Welche Rolle spielt die Türkei?
Das Nato-Land Türkei ist die Schutzmacht von Aserbaidschan. Nicht zuletzt dank türkischer Drohnen siegte das Land im vergangenen Krieg 2020 mit Armenien und konnte umfangreiche Teile der umstrittenen Gebiete erobern. Laut einer Mitteilung des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums hat der türkische Verteidigungsminister in einem Telefonat am Dienstag seinem Amtskollegen zugesagt, dass die Türkei immer an der Seite Aserbaidschans stehen werde.
Was ist die Rolle der EU?
Die EU beteiligt sich an den Verhandlungen um ein Friedensabkommen, der armenische Ministerpräsident Paschinjan und Aserbaidschans Präsidenten Alijew trafen sich mehrfach in Brüssel. Zudem schickten die EU Beobachter in die Region. In offiziellen Stellungnahmen vermied die EU es bislang, Aserbaidschan klar zu verurteilen und hielt sich neutral.
Außenministerin Annalena Baerbock hatte sich Ende August erstmals umfangreicher geäußert und an Aserbaidschan und Russland appelliert, humanitären Helfern den Zugang nach Bergkarabach zu ermöglichen.
Die EU unterhält enge wirtschaftliche Beziehungen zu Aserbaidschan. Die Gas-Lieferungen Aserbaidschans sind ein wichtiger Baustein des Vorhabens Europas, die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen aufzulösen.
Stephan Malerius, Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung, forderte kürzlich in einem Gastbeitrag bei t-online, Europa müsse sich nun politisch bereit zeigen, als konstruktive Ordnungsmacht in der Region aufzutreten und Russland zu ersetzen. Allerdings scheine dazu der politische Wille zu fehlen.
- euractiv.de: "Armenischer Premierminister: Abhängigkeit von Russland war ein Fehler"
- Mit Material der Berichterstattung von t-online
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
- mod.gov.az: "Defense Ministers of Azerbaijan and Türkiye had a telephone conversation" (englisch)