Zwei Jahre nach Austritt "Die dümmste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe"
Weniger Personal und unterbrochene Lieferketten: Die Briten bekommen nun zu spüren, was der Brexit wirklich bedeutet. Er spaltet auch heute noch die Gesellschaft – doch immer mehr Leuten dämmert die Tragweite des Austritts.
Für die blaue Flagge mit den gelben Sternen war der 31. Januar 2020 kein guter Tag. Auf dem Parliament Square in London traten einige erbitterte britische Gegner der Europäischen Union sie mit Füßen, während andere zu Hause trauerten. Im EU-Parlament sang man "Auld Lang Syne" und ließ die Briten ziehen.
Zwei Jahre ist es nun her, dass Großbritannien die EU verlassen hat – seine Bevölkerung so gespalten wie wohl nie zuvor. Wie denken die Briten, deren Premier um sein politisches Überleben kämpft, 24 Monate und einen Handelspakt später über den Brexit? Ein Streifzug durch die britische Hauptstadt.
"Es gibt einen riesigen Mangel"
"Ich wünschte, wir wären noch in der EU", sagt Carol Christofi aus den Surrey Hills, die mit ihrem Mann über den Platz am Covent Garden schlendert. Sie hat gegen den Brexit gestimmt und sorgt sich um ihre Töchter (17 und 21), die am liebsten international Karriere machen wollen. Wohnen und arbeiten, wo man will, ist für Britinnen und Briten nur noch mit entsprechendem Visum möglich – und das ist teuer und aufwendig.
Das Gleiche gilt für EU-Bürger, von denen früher viele nach Großbritannien zum Arbeiten kamen. Heute fällt Christofi auf: An allen Ecken und Enden wird Personal gesucht, ob Gastronomie oder Handel, überall hängen Schilder.
Das beschäftigt auch Amanda Hitchcock, die sich auf der Straße in der Londoner City schnell eine Zigarette gönnt. Die Britin schließt Verträge mit Reinigungs- und Securityfirmen für ein größeres Geschäftsgebäude – oder versucht es zumindest. "Ich kann beim besten Willen keine Putzkräfte oder Security-Mitarbeiter finden. Es gibt einen riesigen Mangel", erzählt sie.
Hitchcock meint, dass ihre Regierung den Austritt aus der EU nicht richtig umgesetzt hat. "Damit haben sie uns ganz schön in Bedrängnis gebracht." Sie ist eine von jenen, die beim Referendum 2016 zu Hause geblieben sind. "Ich bin ziemlich unparteiisch", erzählt sie.
"Dafür zu stimmen, war die dümmste Entscheidung"
Damit ist Hitchcock eher die Ausnahme. Hört man sich unter den Briten um, haben die meisten eine klare Meinung – in einigen Fällen hat sich diese allerdings drastisch geändert. "Für den Brexit zu stimmen, war die dümmste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe. Ich bereue es zutiefst", bekennt Sam, der in London im Kultursektor arbeitet und seinen vollen Namen nicht öffentlich machen will. Freunde und Kollegen, die er erst in den vergangenen Jahren kennengelernt hat, wissen nicht, dass er 2016 für den Austritt gestimmt hat.
Er habe nicht den "Lügnern" wie Boris Johnson oder Nigel Farage zugehört und könne deshalb nicht sagen, er sei angelogen worden, schreibt Sam per E-Mail. Vielmehr habe er Kritik an der Agrarpolitik der EU oder der Austeritätspolitik gegenüber Griechenland verfolgt und sich gedacht: "Bei allem, was ich weiß, will ich ein Teil davon bleiben? Der junge Radikale in mir dachte, Nein sagen zu müssen und von etwas Besserem zu träumen."
Heute sind die Träume ausgeträumt. "Ich habe nicht darüber nachgedacht, wer für den Austritt aus der EU verantwortlich sein würde, wie peinlich und clownesk sie sein würden, wie ignorant und uninteressiert daran, wie die EU tatsächlich funktioniert."
Mehr als die Hälfte bewerten Brexit negativ
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Opinium bewerteten vor einigen Wochen mehr als sechs von zehn Briten den Brexit als negativ oder schlechter als erwartet. Dem "Observer" zufolge, der die Umfrage in Auftrag gab, haben sogar 42 Prozent derjenigen, die beim Brexit-Referendum für den Austritt gestimmt hatten, eine negative Meinung.
"Wir sehen nun, dass eine signifikante Minderheit der "Leave"-Wähler sagt, dass die Dinge schlecht laufen oder zumindest schlechter als erwartet", äußert der Meinungsforscher Adam Drummond von Opinium. Statt zwei verhärteter Fronten aus Befürworten und Gegnern des Brexits sei sogar die Gruppe der "Leave"-Wähler selbst mittlerweile gespalten.
Seit gut einem Jahr ist auch die Brexit-Übergangsphase vorbei, seitdem bekommt man in Großbritannien langsam zu spüren, was der Brexit bislang wirklich bedeutet – weniger Personal, weniger Auswahl an europäischen Produkten und unterbrochene Lieferketten.
Selbst der Londoner John Jones, der im Brexit durch Handelsverträge große Chancen sieht, muss einräumen, dass diese bislang noch nicht zum Tragen gekommen sind. Der erhoffte Handelsdeal mit den USA ist in weiter Ferne, die bisher geschlossenen Verträge machen kaum einen Unterschied für die Wirtschaft. Jones' Erklärung: "Der Brexit ist von Covid blockiert worden."
Auch positive Stimmen: "Wir sind frei von den Zwängen Europas"
Nigel Hanbury, der im Londoner Finanzzentrum für eine Versicherung arbeitet, ist dagegen schon jetzt zufrieden. "Ich denke, es läuft richtig gut", sagt der 64-Jährige. "Unser Geschäft floriert, aber noch wichtiger ist, dass wir frei von den Zwängen Europas sind." Er sei wirklich froh darüber, "raus" zu sein. "Aber es liegt noch viel Arbeit vor uns", räumt er ein.
Die Regierung müsse schnellstmöglich Regularien entfernen, die noch aus EU-Zeiten stammen. Angst, dass der in aller Welt renommierte Londoner Finanzsektor von Amsterdam oder Frankfurt abgehängt werden könne, hat der Brite nicht. "Wir haben ohnehin nie viel profitables Geschäft mit Europa gemacht."
Arbeit an der Rückkehr in die EU
Während man sich in London auf die eine oder andere Weise mit dem Schicksal des Landes arrangiert, wird im Norden schon an der Rückkehr in die Union gearbeitet. "Der Brexit hat Schottlands Wirtschaft und unserer offenen Beziehung mit Europa geschadet", schreibt der Aktivist Michael Gray, der für ein unabhängiges Schottland eintritt. "Die britische Regierung mag eine Weile damit durchkommen, das auf Covid-19 zu schieben, aber irgendwann wird die Realität durchsickern, dass wir durch den Brexit ärmer und isolierter sein werden."
Eine Rückkehr Schottlands zur Europäischen Union gilt als unwahrscheinlich, da es für ein Referendum Hürden gibt und die Schotten ziemlich gespalten sind. Geht es aber nach Gray und Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, sollte ihr Land schon im nächsten Jahr abstimmen, ob es sich vom Königreich abkoppeln will. Nächster Halt: EU.
- Nachrichtenagentur dpa