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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Psychologin "Ändert sich das Schlafmuster, ist das ein Warnzeichen"
Auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, ist extrem wichtig, sagt Psychologin Ulrike Scheuermann. Im Interview erklärt sie, was andernfalls passieren würde und welche Rolle andere Menschen bei der Selbstfürsorge spielen.
Im Alltag immer auf sich und die eigenen Bedürfnisse zu achten, fällt vielen Menschen schwer. Dabei gibt es ein paar Tricks, wie das gelingen kann. Ulrike Scheuermann, Psychologin und Autorin aus Berlin, verrät sie im Interview mit t-online.de. Zudem erzählt sie, was Selbstfürsorge bewirken kann und was sie von Selbstoptimierung unterscheidet.
t-online.de: Was bedeutet Selbstfürsorge?
Ulrike Scheuermann: Der Begriff erklärt sich ein wenig selbst: Es geht darum, gut für sich selbst zu sorgen. Das hat viel damit zu tun, im guten Kontakt mit sich zu sein – sowohl körperlich als auch emotional. Dafür muss man die eigenen Kraftgrenzen und überhaupt Grenzen merken. Viele, die nicht mehr gut für sich sorgen, sind erschöpft. Und auch das Selbstwertgefühl spielt bei der Selbstfürsorge eine Rolle: Nur wenn man es sich selbst wert ist, auf sich zu achten und gut für sich zu sorgen, kann man auch besser für sich sorgen. Und das wiederum stärkt das Selbstwertgefühl.
Wer gut auf sich schaut, merkt direkt positive Effekte. Welche?
Man kann das am Ausgeschlafensein ganz gut erklären: Wer chronisch übermüdet ist, aber dann im Urlaub mal so richtig ausschläft, der merkt ganz deutlich den Unterschied: Er fühlt sich gut bei Kräften, ist psychisch in einer guten Stimmung und emotional ausgeglichen. Wie von selbst ist eine positivere Grundgestimmtheit da. Von so einem Standpunkt aus geht vieles leichter, man kann leichter Entscheidungen treffen und besser in Kontakt mit anderen Menschen treten.
Und auf der anderen Seite: Was passiert, wenn man die Selbstfürsorge komplett vernachlässigt, nicht mehr auf sich achtet?
Das führt zu Erschöpfung, Burn-out und Verausgabung. Jemand, der nicht gut für sich sorgt, lässt zudem zu viel mit sich machen. Er setzt zu wenige Grenzen. Regeneration – also Pausen oder auch genug Schlaf – ist aber die Grundlage, um gut durchs Leben zu gehen.
Kommen viele Menschen zu Ihnen, denen es so geht?
Ja, zum Beispiel kommt eine sehr leistungsorientierte und perfektionistische Frau zu mir ins Coaching, die da richtig tief drinsteckt beziehungsweise dringesteckt hat. Mittlerweile wird es etwas besser. Früher wollte sie bloß keine Fehler machen, alles perfekt hinkriegen. Sie hat extrem über ihre eigenen Grenzen gearbeitet. Auch, was ihre Arbeitszeiten angeht: Sie hat früher 110 bis 120 Stunden pro Woche gearbeitet. Das war ihr selbst peinlich.
Wie konnte sie das durchstehen?
Sie konnte das durchhalten, weil die Angst davor, etwas falsch zu machen, so massiv war. Sie war stärker als alle Gefühle von Erschöpfung, von Ich-kann-nicht-mehr, von Was-verlangen-die-hier-von-mir. Ohne eine so starke Angst im Hintergrund würde man das nicht schaffen. Dann wäre man irgendwann einfach so müde und ausgelaugt, dass man sich krankschreiben ließe oder einfach nach Hause gehen würde.
Ulrike Scheuermann, Jahrgang 1968, ist Diplom-Psychologin und Autorin zahlreicher Sachbücher. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Woher kommt eine solche Angst?
Das ist sehr individuell. Meist stecken frühere Erfahrungen dahinter. Bei meiner Klientin war es so, dass sie als Kind von ihrer Familie sehr gedrillt worden ist, vor allem von ihrer Mutter. Es durften einfach keine Fehler passieren. Aber es sind natürlich ab und zu Fehler passiert und darauf hat ihre Mutter extrem hart und abwertend reagiert. Die Erfahrung war so schockierend und so schambehaftet für sie, dass sie als Kind offensichtlich beschlossen hat, dass ihr nie wieder Fehler passieren. Zum Glück gibt es gute Methoden, um damit umzugehen. Ich arbeite zum Beispiel mit Logosynthese.
Wie funktioniert Logosynthese?
Das ist eine moderne Methode, die im Unbewussten wirkt. Das Interessante daran ist, dass man nicht mit den Symptomen arbeitet. In dem genannten Fallbeispiel ist das Symptom die Angst, Fehler zu machen. Stattdessen sucht man nach den Auslösern für diese Angst.
Wie setzt man sich mit diesen auseinander?
Man arbeitet bei Logosynthese mit Worten. Man setzt den Auslöser in drei immer gleiche Sätze ein und bringt dadurch wieder Energie in Fluss. Bei meiner Klientin war das zum Beispiel der Satz "Meine Mutter will nicht, dass ich Fehler mache." Wenn man den richtigen Auslöser getroffen hat, kann man diesen neutralisieren. Und dann ist er einfach nur noch eine Erinnerung und löst heute nichts mehr aus. Das ist ein Prozess, der im Unbewussten stattfindet, im Mandelkern des Gehirns. Dort werden Erfahrungen gespeichert und mit bestimmten Reaktionen verknüpft. Und diese Verknüpfung löst man.
Wie muss ich mir das vorstellen: Habe ich einen Satz, den ich immer mantramäßig aufsage?
Nur einmal, dann ist die Verbindung gelöst. Das ist das Tolle daran: Es handelt sich nicht um Affirmationen, das gibt es ja auch, sondern man nutzt die Kraft der Worte, um im Unbewussten eine bestehende Verbindung zwischen Auslöser und Reaktion zu lösen. Die Worte braucht man nur einmal zu sagen und danach ist etwas anders. Es ist nicht immer gleich eine Riesenwirkung, es ist auch keine Wundermethode. Aber irgendwas ist anders hinterher. Und damit kann man eventuell weiterarbeiten. Man guckt im nächsten Durchgang: Was ist jetzt da? Die eine Erinnerung ist nun nicht mehr so wichtig. Aber vielleicht taucht ein einschränkender Glaubenssatz wie "Ich darf keine Fehler machen" auf. Anschließend arbeitet man damit weiter.
Die Frau, von der Sie sprachen, hat ja vermutlich über Jahre hinweg so viel gearbeitet. Damit es bei anderen nicht so weit kommt: Was können erste Anzeichen sein, an denen man erkennen kann, dass man mehr auf sich achten sollte?
Wenn sich das Schlafmuster verändert, ist das ein Warnzeichen: wenn jemand plötzlich immer weniger schläft, nicht mehr einschlafen oder nicht mehr durchschlafen kann oder ganz früh aufwacht. Das kann sogar ein Anzeichen für eine Depression sein. Ein weiteres Symptom ist, wenn einem das, was man tut, gar keine Freude mehr macht. Oft gehört auch ein Sinnlosigkeitsgefühl dazu. Hinzu kommt häufig, dass Menschen sich zurückziehen. Das war bei meiner Klientin auch so, sie hatte überhaupt keine sozialen Kontakte mehr.
Wie findet man heraus, was man als Selbstfürsorge für sich selbst machen kann, wo die eigenen Bedürfnisse liegen?
Ich arbeite mit sieben Feldern, auf denen man etwas verändern kann: Körper, Gefühle, Schlaf, Raum, Verbundenheit, Gedanken und Seele. Man sollte in dem Bereich beginnen, auf den man am meisten Lust hat. Alle sieben Bereiche schafft man vermutlich nicht auf einmal zu verändern.
Welche Rolle spielen bei der Selbstfürsorge andere Menschen?
Beziehungen sind enorm wichtig für gute Selbstfürsorge. Das erste ist, mitzuteilen, wie es einem geht und wo es einem eben auch nicht so gut geht. Das ist immer die Basis. Viele erzählen nichts darüber, wenn es ihnen nicht gut geht. Sie denken: "Ich erzähle anderen immer das Gleiche, ich jammere nur. Die können das doch auch schon nicht mehr hören." Aber es ist wichtig, sich wirklich zu öffnen und mitzuteilen, wie es einem innerlich geht und um Hilfe zu bitten. Das können viele nicht so gut. Dabei bewirkt es ganz viel und andere Menschen freuen sich zudem, wenn sie helfen können.
Manchmal stehen aber moralische Erwartungen oder die eigene Hilfsbereitschaft ein bisschen im Weg, um auf sich selbst zu achten. Wie kann man damit gut umgehen?
Die Basis, um anderen zu helfen, ist, dass man erstmal gut sich selbst helfen kann. Selbstfürsorge wird manchmal verwechselt mit Egoismus. Dabei handelt es sich um genau das Gegenteil. Man kann anderen nur helfen, wenn man selber gut bei Kräften ist. Sonst wäre es ein Helfersyndrom und würde noch mehr zur Erschöpfung führen. Wer nicht genug für sich selbst bekommt, kann auch anderen nicht geben.
Wie schaffe ich es denn, auch mal Nein zu sagen?
Für viele ist das Neinsagen schwierig, weil sie andere nicht enttäuschen wollen. Es ist aber möglich, durch Kommunikation etwas dafür zu tun, damit die andere Person nicht enttäuscht sein muss. Wenn jemand unbedingt enttäuscht sein will, wird er es trotzdem sein. Viele meiner Kollegen sagen: "Nein ist eben nein, das muss man nicht begründen." Ich finde aber: Es ist gut, das Nein zu begründen, weil die andere Person so mehr Verständnis entwickeln und auch merken kann, dass es nichts mit ihr zu tun hat. Wenn jemand sagt "Nee, das mache ich nicht", ist das einfach sehr schroff. Dann fühlen sich viele zurückgewiesen oder persönlich abgewiesen. Man kann stattdessen begründen, warum man es nicht schafft. Man kann zudem noch etwas dazu sagen wie: "Ich freue mich, dass du mich fragst." Denn es ist ja auch eine Wertschätzung, für irgendetwas gefragt zu werden. "Dennoch kann ich es im Moment nicht, weil…" und dann kommt eine Begründung.
Kann man sich auf diese Weise auch ein bisschen von Schuldgefühlen befreien?
Ja, ich glaube, das kann Schuldgefühle mildern. Man könnte demjenigen, dem man absagt, auch eine Alternative anbieten: "Ich kann es im Moment nicht machen, aber ich kenne viele Kollegen, die dazu auch gut etwas sagen könnten, zum Beispiel XY." Wenn jemand in solchen Fällen Schuldgefühle entwickelt, gibt es dafür meist auch einen Hintergrund. Vielleicht durfte jemand früher nie nein sagen. Sonst waren die Eltern beleidigt oder was auch immer.
Alle diese Dinge, die man sich als Selbstfürsorge vornehmen kann – länger schlafen, gesünder essen oder auch öfter Sport machen – hören sich gut an. Aber es hapert oft an der Umsetzung. Wie schaffe ich es, solche Vorsätze durchzuziehen?
Ich bin gar nicht so für Disziplin, weil das meiner Erfahrung nach langfristig nicht gut hält. Ich finde es total wichtig, dass man Dinge tut, die einem Freude machen oder von denen man auf irgendeine Weise etwas hat. Wer sich ins Fitnessstudio quält, wird irgendwann damit aufhören. Aber vielleicht gibt es eine Form, wie Sport Spaß machen kann, zum Beispiel, indem man sich dafür verabredet oder indem man dabei draußen in der Natur ist. Es tut einem gut, wenn man eine Form findet, bei der man nicht so stark gegen den Widerstand arbeiten muss.
Kann man damit dennoch eine dauerhafte Verhaltensänderung erzielen?
Ja, auf jeden Fall. Ich laufe zum Beispiel fast jeden Tag. Ich mache das gerne. Ich laufe im Park und genieße morgens die frische Luft und habe hinterher einen positiven Effekt, weil es mir gute Laune macht. Dadurch habe ich jeden Tag diese positive Verstärkung. Und ich merke einen Unterschied, wenn ich das mal nicht mache. Das ist wirklich Verhaltenstherapie. Man lernt ein neues Verhalten, indem man für dieses hinterher belohnt wird. Das ist schon eine tolle Art, sich ein neues Verhalten zuzulegen.
Aber wie schaffen es Personen, die die ganze Zeit nur arbeiten, sich die Zeit für solche positiven Dinge einzuräumen?
Bei meiner Klientin haben wir es darüber geschafft, dass wir mit der Angst vor Fehlern gearbeitet haben. Das hat sich jetzt alles gelockert. Die Vorstellung, dass sie etwas falsch machen könnte oder dass jemand das nicht gut finden könnte, was sie macht, ist nicht mehr so existenziell für sie. Dadurch ist sie wie von selbst auf Ideen gekommen, wie sie effizienter vorgehen könnte bei der Arbeit. Da ist sie vorher gar nicht drauf gekommen. Es musste einfach bei allem die Maximalvariante sein.
Können Sie eine Beispielübung zur Selbstfürsorge nennen?
Ich finde den Zugang über den Körper immer schön. Viele Menschen sind so stark im Kopf. Sie haben alles schon durchdacht. Sie wissen, woran es liegt. Das bringt sie aber trotzdem nicht weiter. Da ist es wirklich besser, über den Körper zu gehen und in einen guten Kontakt mit dem eigenen Körper zu kommen: Über den Atem klappt das besonders einfach. Da muss man gar nicht so große Atemübungen machen, sondern einfach nur – und das klingt total banal, aber die Leute machen es nicht – auf den eigenen Atem achten. Man muss also nicht einmal den Atem verändern, sondern einfach nur drei Atemzüge lang darauf achten. Und schon ist man im Kontakt mit sich selbst. Das sollte man idealerweise mehrmals wiederholen, immer mal wieder. Wenn man ein bisschen mehr Zeit investieren kann, kann man auch noch nachspüren: Wie fühlt sich mein Körper gerade an? Was sagt mir mein Körper? Welche Emotion ist da?
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Jetzt haben wir alle schon versucht, uns selbst zu optimieren und haben alle volle To-do-Listen. Ist Selbstfürsorge nicht eine weitere Art der Selbstoptimierung und erzeugt dadurch zusätzlichen Druck?
Ich hoffe, dass es nicht so verstanden wird, aber man kann es natürlich so verstehen. Alle Arten von Tipps bergen die Gefahr, dass jemand sie liest und denkt: "Oje, jetzt muss ich das auch noch machen." Dann zählt es einfach nur noch auf die Liste ein. Ich wünsche mir, dass es anders verstanden wird, und ich glaube, das hat mit der Grundhaltung zu tun: Selbstfürsorge ist etwas Liebevolles und Sanftes, damit nimmt man sich sozusagen selbst an die Hand. Da kann man auch mal nicht joggen gehen, weil es einem wichtiger ist, zur Ruhe zu kommen. Es ist anders als Fitness-Tracking und Gesundheits-Apps. Stattdessen sind die Intuition und der eigene Körper der wichtigste Kompass. Selbstoptimierung hingegen ist ja sehr hart: Da muss man noch sein Trainingsprogramm absolvieren, komme was wolle.
Gelingt Ihnen die Selbstfürsorge denn immer?
Nein, auch nicht immer. Ich bin eben auch nicht optimal selbst optimiert, und das ist auch gut so. Es gibt Zeiten, in denen es mal besser gelingt, und es gibt auch Zeiten, wo es schlechter gelingt. Das gehört zur Selbstfürsorge dazu, das ist in Ordnung. Das sollte man sich nicht übelnehmen. Es ist eben kein Programm, das man zackig absolviert. Es muss auch immer zur aktuellen Lebenssituation passen. Bei uns in der Patchworkfamilie ist gerade jemand gestorben und meinen Eltern ging es plötzlich sehr schlecht. Das war super stressig und ich war damit voll beschäftigt. Da habe ich nicht sonderlich auf Selbstfürsorge geachtet. Jetzt pendelt sich langsam ein neues Gleichgewicht ein. Selbstfürsorge ist nichts Gleichmäßiges. Und man darf sich das nicht übelnehmen. Sonst wäre es doch Selbstoptimierung. Das brauchen wir alle nicht. Das haben wir schon genug.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Scheuermann.