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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Was die gesetzliche Regelung sagt Sterbehilfe: Diese wichtigen Fragen bleiben ungeklärt
Darf der assistierte Suizid eine Option sein? Dazu gab es 2020 eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts – doch wichtige Fragen bleiben unbeantwortet.
Letztlich ging es bei der Entscheidung um den Kern der menschlichen Existenz. Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 ein entscheidendes Urteil zur Sterbehilfe verkündet – präzise ausgedrückt: zur "geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung". Die war Ende 2015 nach langen Debatten im Bundestag unter Strafe gestellt worden.
"Geschäftsmäßig" meint hier nicht "kommerziell", sondern eine "auf Wiederholung angelegte Handlung". Vereinen, Organisationen und Ärzten drohten bislang Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren oder Geldstrafen, wenn ihre Suizidhilfe auf Wiederholung angelegt ist. Was so bürokratisch und verwaltungstechnisch klingt, regelt seitdem nichts Geringeres als eine ethische Grundsatzfrage: Bedeutet das Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Leben auch das Recht auf eine autonome Entscheidung über das Sterben?
Das Urteil besagt nun kurz gefasst: Ja. Der Staat darf sich nicht in das Recht auf selbstbestimmtes Sterben einmischen. Und das beinhalte auch die Freiheit, sich das Leben zu nehmen und dabei Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen, so das Karlsruher Gericht. Der 2015 beschlossene und seitdem heftig umstrittene Strafrechtsparagraf 217 ist also nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
Einige der Kläger sind schon verstorben
Dass Betroffene künftig selbst über ein menschenwürdiges Sterben bestimmen können, ist eine späte Erleichterung für diejenigen schwer kranken Menschen, Ärzte und Sterbehilfevereine, die vor dem höchsten Gericht in Karlsruhe gegen den Paragrafen 217 Verfassungsbeschwerden erhoben hatten. Für einige der schwer erkrankten Kläger kommt die Entscheidung jedoch zu spät – sie sind bereits verstorben.
"Leben und Sterben und der Einfluss, den jeder Einzelne von uns darauf nehmen darf, das rührt an den Grundfesten ethischer, moralischer und religiöser Überzeugungen", hatte der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle, bei der mündlichen Verhandlung über die sechs Verfassungsbeschwerden im April 2019 gesagt. "Wie wir mit dem Tod umgehen, spiegelt unsere Einstellung zum Leben."
Sterbehilfe: Es geht um die letzte Freiheit
Diese einstigen Worte von Deutschlands oberstem Richter verdeutlichen: Auch wenn es sich bei der jetzigen Karlsruher Entscheidung offiziell "nicht um die moralische oder politische Beurteilung der Selbsttötung und ihrer Folgen für die Gesellschaft" handelt, so weist das Urteil doch weit über die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit hinaus. Es geht um die letzte Freiheit, die ein Mensch vor seinem Tod hat.
Und die beschäftigt in einer zunehmend alternden Gesellschaft immer mehr Menschen. Gegner der Sterbehilfe argumentieren oft, wichtiger und menschlicher als die Suizidhilfe sei eine gute fürsorgende Begleitung für schwer kranke Patienten. So kritisierte die Deutsche Palliativ-Stiftung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts scharf: Die Erleichterung der Selbsttötung für Kranke und Lebensmüde werde damit "zur normalen Dienstleistung".
Auch die katholische und die evangelische Kirche kritisierten die Entscheidung als "Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur". Wichtig sei stattdessen eine "deutliche Verbesserung der palliativen und hospizlichen Versorgung".
Doch offenbar bezweifeln viele Menschen, ob eine gute Pflegesituation immer sichergestellt werden kann. Das zeigt auch eine aktuelle repräsentative Umfrage zum Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe. Darin sprechen sich 67 Prozent der Deutschen dafür aus, dass Ärzte bei einer Sterbehilfe für Schwerstkranke straffrei bleiben sollten.
Mediziner beklagten rechtliche Grauzone
Zudem sahen bislang viele Ärzte ihre Gewissens- und Berufsfreiheit verletzt. Die Mediziner, die in Karlsruhe geklagt hatten, beklagten schwammige Regelungen dazu, ob bei einer palliativmedizinischen Behandlung im Einzelfall eine ärztliche Sterbehilfe straffrei bleibt. Sie bewegten sich auf "juristisch unsicherem Terrain", erklärte der klagende Arzt Dietmar Beck.
Natürlich hat die jetzige Entscheidung dennoch eine Kehrseite: Missbrauch ist bei einer solchen Regelung nie auszuschließen. Die Bundesregierung kündigte nach dem Sterbehilfe-Urteil an, die Entscheidung zunächst prüfen und auswerten zu wollen.
Sicher ist, dass Fragen bleiben: Wie lässt sich verhindern, dass unentschlossene Sterbewillige von professionellen Sterbehelfern zusätzlich zu einem Suizid motiviert werden? Welche Rolle darf der Profit beim assistierten Freitod spielen? Wie soll mit Menschen mit Demenz oder psychischen Erkrankungen umgegangen werden? Und wie lässt sich sicherstellen, dass Suizidale zuerst professionelle Lebenshilfe erhalten, bevor die Suizidoption in den Vordergrund rückt?
Aktive Sterbehilfe: Vorbild Niederlande und Belgien?
Wer sich mit den Risiken befassen will, sollte sich auch die liberaleren Regelungen in den Benelux-Ländern und in der Schweiz anschauen. In den Niederlanden darf aktive Sterbehilfe unter strengen Auflagen von Ärzten ausgeführt werden. Der Patient darf keine Aussicht auf Besserung haben und muss seine Entscheidung für Suizidhilfe selbst formulieren. Belgien hat sogar die aktive Sterbehilfe für psychisch kranke Patienten legalisiert. In der Schweiz wiederum sind der ärztlich assistierte Suizid und die passive und indirekte Sterbehilfe erlaubt.
Kontrovers diskutiert werden alle diese Spielarten des Tötens auf Verlangen und es gibt niemanden, der die einzig richtige Entscheidung für sich beanspruchen kann. Am Ende muss aber jedes Argument gegen die Suizidhilfe auch Artikel 1 unseres Grundgesetzes standhalten. Und das bedeutet: Wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, darf auch einem Sterbenden nicht die Würde genommen werden.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Deutscher Bundestag
- Nachrichtenagentur dpa