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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chirurg erläutert Vorgehen Debatte über Organspende: "So jemand steht nie wieder auf"
Etwa 9.500 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Viele von ihnen warten vergeblich, wie Helmut Arbogast im Interview mit t-online.de sagt.
Am Donnerstag entscheidet der Bundestag über eine neue Lösung für die Organspende in Deutschland. Im Gespräch mit t-online.de erklärt der Chirurg Dr. Helmut Arbogast, warum er sich für die Widerspruchslösung ausspricht – und wie eine Organspende überhaupt abläuft.
t-online.de: Wer kann überhaupt Organe spenden?
Dr. Helmut Arbogast: Es ist ganz klar: Das Todeskriterium ist der Hirntod – nur wenn der festgestellt ist, kann eine Organspende stattfinden. Bei vielen Patienten ist tatsächlich die Organschädigung bereits so weit fortgeschritten, dass keine Organspende mehr möglich ist. Unsere Spender werden immer älter – sind häufig über 65 Jahre alt. Diese Generation ist die, die am häufigsten zur Spende kommt. Sie haben meistens Gefäße, die im Hirn platzen, oder ein Aneurysma oder Bluthochdruck, der zu einer Hirnblutung führte. Wichtig ist: Die Alternative zur Organspende ist nicht, lebendig das Krankenhaus zu verlassen. Die Alternative ist, mit den Organen begraben zu werden. Dann dienen ihre Organe nur noch den Würmern – und ich sage immer, ich bin Menschenfreund und kein Wurmfreund. Wenn die Alternative wäre, gesund zu werden, würde man niemals eine Hirntoddiagnostik machen. Diese Patienten sind Patienten, bei denen die Intensivmedizin am Ende ist und bei denen der Arzt abschalten würde. Da ist das Leben zu Ende.
Wann wird entschieden, ob Organe gespendet werden können?
Diese Entscheidung fällt mit der Diagnose des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls. Ein relativ sperriger Ausdruck, der heutzutage gewählt wird, weil man den Begriff Hirntod in dieser Form nicht mehr gebrauchen möchte. Es sagt letztendlich nichts anderes, als dass das Hirn in allen Bereichen so geschädigt ist, dass eine Erholung völlig ausgeschlossen ist. Das wird von zwei von der Transplantation unabhängigen Ärzten immer auf einer Intensivstation – denn nur dort kann der Patient zum Spender werden – untersucht. Das dauert eine ganze Weile, manchmal zwei Stunden oder länger. Das ergibt ein hundertprozentiges Ergebnis.
Wie genau wird festgestellt, ob jemand wirklich hirntot ist? Wie sicher ist die Diagnose?
Wenn im Schädel eine Drucksituation entsteht, beispielsweise durch eine Blutung, dann kann das Gehirn nicht ausweichen, sondern wird förmlich erdrückt. Und dieser Druck sorgt auch dafür, dass das Blut der versorgenden Gefäße, die das Hirn mit Sauerstoff versorgen müssen, nicht mehr ankommt. Es gibt verschiedene zulässige Methoden: Die klassische Methode ist die Angiographie – also eine Gefäßdarstellung. Wenn man da sehen kann, dass kein Blut mehr ins Gehirn fließt, dann kann man nach fünf Minuten bereits sicher sein, dass eine Hirnschädigung eintritt, die nicht wieder gutzumachen ist. Und nach zehn Minuten ist das Gehirn komplett erledigt. Eine Todesfeststellung dieser Art beinhaltet meistens auch ein Zwei-Stunden-EEG – wo dann eine Elektroenzephalografie gemacht wird, die über längere Zeit eine Nulllinie bringen muss. Dort ist dann nichts mehr am Leben. So jemand steht nie wieder auf.
Können bei dieser Untersuchung Fehler auftreten?
Natürlich sind Fehler immer da möglich, wo Menschen arbeiten, aber die einzigen Fehler, die bislang bekannt sind, sind Dokumentationsfehler, oder dass ein Formular falsch ausgefüllt wurde oder ein Formblatt fehlt. Aber an der Hirntoddiagnostik selbst ist mir kein einziger Fall bekannt, wo ein Fehler gemacht worden ist und ein nicht hirntoter Patient zum hirntoten erklärt worden ist. Andersherum ist es leider viel häufiger: Es werden viele hirntote Patienten leider nicht als Spender behandelt. Und hier haben wir das Problem in Deutschland: Wir könnten bis zu vier- bis fünffach mehr Spender haben.
Wenn der Patient keinen Organspendeausweis hat – wer entscheidet dann über die Spende?
In der momentanen Entscheidungslösung ist es so, wenn zu Lebzeiten ein Patient entschieden hat, dass er Organspender sein möchte – beispielsweise durch das Tragen eines Organspendeausweises, auf dem "Ja" angekreuzt ist –, dann ist er Organspender. Hat er das nicht, geht man von seinem "mutmaßlichen Willen" aus. In diesem Fall werden die Angehörigen befragt. Die nächsten Angehörigen, das sind in der Reihenfolge: Ehepartner, Lebenspartner oder Verwandte ersten Grades wie Eltern und Kinder.
Und wie läuft dann die Organspende ab?
Zunächst einmal kann nur von einer Intensivstation aus eine Organspende erfolgen – nirgends sonst. Weder in einer Notaufnahme noch im Hubschrauber oder Notarztwagen ist eine Organspende möglich. Stellt der Intensivarzt fest: Der Patient hat vermutlich einen irreversiblen Hirnfunktionsausfall, meldet er den Patienten bei der Organspendezentrale. Zunächst einmal also bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Diese organisiert dann zwei mit der Transplantation nicht verbundene Ärzte – meist Neurologen oder Intensivmediziner –, die dann den Hirntod feststellen. Die Krankenhäuser mit Intensivstationen haben meistens auch einen OP-Saal. Ein regionales Entnahmeteam, organisiert von der DSO, kommt dann dorthin. Bei Herz und Lunge ist es so, dass das jeweilige Empfängerzentrum ein Team entsendet und diese Teams müssen koordiniert werden. Das ist eine logistische Meisterleistung. Ein Herz hat zum Beispiel nur vier Stunden von der Entnahme, bis es wieder schlagen muss. Ein Computer bei Eurotransplant in den Niederlanden berechnet schließlich, für wen das Organ passt. Der hat für acht Länder Empfänger gelistet. Dort wird nach einem unbestechlichen Punktesystem jedes Organ vergeben. Die jeweiligen Zentren werden dann informiert. Es kann durchaus sein, dass Organe von Passau nach Amsterdam oder Zagreb, Wien oder Belgien verteilt werden.
Wenn ich nun einer Organspende zugestimmt habe, wie kann ich sicher sein, dass im Falle des Falles trotzdem alles getan wird, um mein Leben zu retten?
Das können Sie zu hundert Prozent deshalb, weil schlecht behandelte Patienten niemals gute Organe spenden könnten. Da beißt sich buchstäblich die Katze in den Schwanz. Denn wenn Sie schlecht behandelt werden, werden auch die Organe, die Sie spenden sollen, schlecht behandelt. Und dann kann man sie auch gar nicht mehr transplantieren. Und es sind ohnehin nur wenige Menschen, die überhaupt für die Spende in Frage kommen. Wäre keine Hirntoddiagnostik möglich, wäre die Alternative, dass die Geräte sofort abgestellt würden. Also dass der Intensivmediziner allein entscheidet: Hier ist das Leben zu Ende. Bei einem Organspender ist es eigentlich genau andersherum, der wird nicht kürzer behandelt, sondern über den Tod hinaus, damit die Organe, die gespendet werden, auch noch in einem guten Zustand gespendet werden. Deshalb muss der Kreislauf aufrechterhalten werden, so lange, bis die Organe im OP entnommen worden sind.
Wie werden die Angehörigen des Spenders beraten – können sie einer Spende noch widersprechen, wenn ein Organspendeausweis vorliegt?
Theoretisch könnte das passieren, das ist auch gelegentlich der Fall. Allerdings ist es leider nur bei einer Minderheit der Fälle überhaupt so, dass ein Organspendeausweis vorliegt. Nur bei sieben Prozent aller in Frage kommenden Patienten findet man überhaupt einen solchen Ausweis. Dennoch werden die Angehörigen immer informiert und es wird klargemacht, dass der mutmaßliche Wille des Verstorbenen zählt. Wir haben natürlich viele Fälle, bei denen das nicht dokumentiert ist. Und dann haben die Angehörigen ein doppeltes Leid zu tragen: Sie müssen nicht nur das Ableben des lieben Angehörigen zur Kenntnis nehmen, sondern auch noch für ihn die Entscheidung fällen, wie er zu Lebzeiten über die Organspende gedacht hätte. Das ist besonders schwer, wenn man nie darüber gesprochen hat. Denn das Thema Sterben wird häufig tabuisiert.
Ist dem Leichnam nach einer Organspende anzusehen, dass Organe entnommen wurden?
Eine Organentnahme ist wie eine große Operation. Der Patient wird sehr pietätvoll behandelt und Sie haben am Schluss nichts anderes als eine verschlossene Narbe beziehungsweise Wunde, die zugeklammert und mit einem Pflaster versehen wird. Der Patient kann auch genauso aufgebahrt werden.
Wie erfährt der Empfänger von der Spende und wonach wird er ausgewählt?
Wenn ein Organ von Eurotransplant zugeteilt wird, wird das entsprechende Transplantationszentrum informiert. Dann wird der Empfänger dorthin einbestellt und dort wird die Operation vorbereitet. In der Zwischenzeit werden dann die Organe entnommen und transportiert. Und der Empfänger wird so bald es geht operiert. Auf die Liste kommt man nach strengen Vorgaben. Die Regeln macht die Bundesärztekammer in Arbeitsgruppen aus medizinischen Experten und Juristen. Wenn in einem Transplantationszentrum ein Patient vorspricht, der gemeldet wird von seinem Arzt, dann wird geprüft, ob er den Regeln entspricht und dann wird er gelistet. Das Traurige ist, dass wir derzeit so wenige Organe haben, dass wenn Sie zum Beispiel als Blutgruppe-0-Empfänger auf einer Nierenwarteliste stehen, Sie im Schnitt circa zehn Jahre warten müssen, bis eine Niere kommt. Und wenn Sie sich dann überlegen, dass ein Diabetiker an der Dialyse nur zu 20 Prozent eine 10-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit hat: Dann erleben also nur ein Fünftel dieser Patienten ihre Transplantation in Deutschland.
Es gibt ja auch die Lebend-Organspende: Wer kann da wann welche Organe spenden?
Wir haben in Deutschland mittlerweile eine Situation, dass zwischen 30 und 40 Prozent aller Nierentransplantationen durch eine Lebendspende möglich gemacht werden. Und auch hierfür gibt es ganz klare Regeln. Sie müssen mit dem Spender als potenzieller Empfänger sehr eng verbunden sein. Sie müssen sich vorstellen, der Spender war bisher gesund und sollte normalerweise keine Operation bekommen. Das heißt, sie schädigen einen gesunden Patienten. In der häufigsten Konstellation sind das Eheleute, die sich spenden.
Dr. Helmut Arbogast
Der 60-Jährige ist Leiter der Chirurgischen Poliklinik A an der Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie am Klinikum der Universität München-Großhadern. Er ist seit 1994 Facharzt für Chirurgie und seit 1996 auch in der Intensivmedizin spezialisiert. Arbogast war zunächst stellvertretender Leiter der Abteilung für Transplantationschirurgie, dann geschäftsführender Oberarzt des chirurgischen Transplantationszentrums der LMU. Seit 2010 gehört er zum Vorstand der Deutschen Transplantationsgesellschaft. Zusätzlich ist er Generalsekretär in der Deutschen Akademie für Transplantationsmedizin und Leiter des Walter-Brendel-Kollegs für Transplantationsmedizin.
Welche Schicksale sind Ihnen bei Ihrer Arbeit schon begegnet?
Als Arzt im Transplantationszentrum sind es die Empfängerschicksale, die man eher mitbekommt. Und dann muss man leider häufig genug den Tod von Patienten auf der Warteliste feststellen. Der Tod eines Patienten auf der Warteliste ist das Furchtbarste, was Sie als Arzt erleben müssen. Wenn Sie sehen, er wartet und wartet, und irgendwann kommt die Meldung: "Er ist leider verstorben." Ich hatte beispielsweise eine junge Frau mit einem Kunstherz. Sie hatte zwei kleine Kinder und musste mit einer Art kleinem Wagen herumfahren, in dem sich sozusagen ihr "Herz" befunden hat, das sie überbrückend am Leben erhalten sollte. Aber es kam kein Organ und diese Frau ist gestorben und hat zwei kleine Kinder hinterlassen. So was ist immer ganz besonders bitter. Aber es gibt auch Geschichten von Lebensrettungen. Es gibt beispielsweise einen ehemaligen Krankenpfleger: Stumme Infarkte haben ihn zum Kandidaten auf Wartelisten für eine Herztransplantation gemacht. Gleichzeitig war er durch seinen Diabetes niereninsuffizient und musste zur Dialyse. Er hatte keine vier Wochen Überlebenswahrscheinlichkeit mehr. Und dann kam tatsächlich das Organangebot. Und das ist wirklich sehr ergreifend, wenn Sie dann sehen, wie ihm die Nachricht überbracht wird, dass ein Spender da ist. Wie er das Weinen beginnt. Und das ist für mich immer wieder sehr ergreifend, wenn man die Dankbarkeit der Patienten erlebt, dass es für sie doch noch eine Lebensrettung gab und jemand sich erklärt hat, seine Organe nach dem Tod zu spenden.
Wie geht es nach einer Organspende weiter? Ist jeder Empfänger automatisch gerettet?
Die allermeisten Transplantationen werden überlebt. Aber es kommt immer natürlich darauf an, wie krank ein Mensch ist. Und dadurch, dass der Organmangel so gravierend geworden ist, haben wir letztendlich auch speziell in der Leber- oder Herztransplantation durchaus auch Todesfälle. Also eine Garantie, dass man überlebt, gibt es natürlich nicht. Aber 90 Prozent überleben es.
Gibt es Kontaktmöglichkeiten zwischen Spenderfamilie/-angehörigen und Empfänger?
In Deutschland müssen Spender und Empfänger anonym bleiben. Die Spenderfamilie erfährt nicht, wohin die Organe gegangen sind und der Empfänger nicht, woher er die Organe bekommen hat. Aber man kann als Empfänger seine Dankbarkeit in einem anonymen Brief an die Deutsche Stiftung Organtransplantation richten. Und diese leiten diesen Brief dann natürlich auch anonymisiert an die Spenderfamilie weiter. Häufig ist das eine ganz tröstliche Angelegenheit, weil sie dann sehen, ein Angehöriger ist nicht umsonst gestorben, sondern hat vielleicht noch Leben gerettet. Und das macht eigentlich jeden Spender nach dem Tod noch zum Helden.
Welche Entscheidung würden Sie sich vom Bundestag wünschen?
Ich wünsche mir auf jeden Fall eine Entscheidung für die Widerspruchslösung – also den Vorschlag unseres Bundesgesundheitsministers Jens Spahn. Ich bin sehr froh, dass wir endlich jemanden hier im Amt haben, der sich dieser Probleme annimmt und der auch schon mit seinem Gesundheitsstrukturreformgesetz die richtigen Punkte anpackt. Also hier hoffe ich sehr, dass der Bundestag sich dafür entscheidet, weil das die nächsten zehn Jahre in unserem Transplantationswesen wesentlich beeinflussen wird. Und uns hoffentlich in diesem Bereich vom letzten Platz in der zivilisierten Welt auf einen Platz im Mittelfeld katapultieren wird. Es gibt in Deutschland jedes Jahr Tausende Menschen, die sterben, weil nicht genug Organe da sind. Und wir könnten ihnen helfen, wenn wir nur alle wollten. Und das Schlimme ist: Die Bevölkerung will es ja. 80 Prozent wollen ja Organspender sein und stehen der Organspende positiv gegenüber. Aber diesem Mehrheitswillen wird keine Rechnung getragen. Und deshalb hoffe ich sehr, dass am Donnerstag die richtige Entscheidung fällt.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Arbogast!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.