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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Arzt über Aggression in Praxen "Ein Polizeieinsatz legte die ganze Praxis lahm"
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung beklagt mehr Aggression in Arztpraxen und fordert besseren Schutz. Ein Hausarzt schildert, zu welchen Mitteln er greift.
Geht es in Arztpraxen immer gewalttätiger zu? Das beklagt der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen. "Offene Aggression und ein extrem forderndes Verhalten haben deutlich zugenommen. Nicht nur in Notaufnahmen, auch bei den Niedergelassenen eskaliert die Lage immer öfter", sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Ein Hausarzt aus dem Ruhrgebiet (Name und Praxis sind der Redaktion bekannt) bestätigt im Gespräch mit t-online: Die Patienten in den Praxen werden immer aggressiver.
Patient mit Messer legte Praxis lahm
"Wir haben in unserer Praxis in der Vergangenheit bereits mehrfach Zwischenfälle gehabt. Zum einen handelt es sich um Patienten, die unter Drogen stehen. Hier hatten wir einmal einen Zwischenfall mit einem Patienten, der ein langes Messer bei sich trug – die Situation drohte zu eskalieren". Ein mehrstündiger Polizeieinsatz legte die Praxis lahm, wartende Patienten konnten nicht behandelt werden.
In einem anderen Fall litt ein Patient an einer paranoiden Schizophrenie (was das ist, lesen Sie hier): "In einer akuten Psychose hat er uns über mehrere Monate hinweg mit Stalking-Mails, Fotos, Beleidigungen, verbalen Ausbrüchen und Bildern mit Pistolen belästigt."
Anspruchshaltung trifft auf Leistungskürzungen
Das sind Extremfälle, die glücklicherweise nicht täglich vorkommen. Doch auch im Alltag ist bei den Patienten eine Gereiztheit zu spüren, sagt der Mediziner: Die Priorität der eigenen Behandlung werde von Patienten häufig falsch eingeschätzt – nach Ansicht des Arztes in der Regel zu hoch. "Teilweise kommen Patienten schon in die Praxis und drohen unverhohlen mit einer negativen Bewertung bei Google oder Jameda, wenn sie ein Rezept oder eine Krankschreibung nicht bekommen", sagt er.
Hinzu kommen Leistungskürzungen und -einschränkungen im beitragsfinanzierten Gesundheitssystem. "Wir als Ärzte werden ungewollt immer mehr als Wunschverweigerer angesehen", sagt er. Wenn die Ansprüche der Patienten nach bestimmten Behandlungsmethoden oder Medikamenten dann verwehrt werden, kommt es mittlerweile in hoher Zahl zu aggressivem Verhalten.
Daher ist der Hausarzt auch auf der Seite von KBV-Chef Gassen, der deutliche Strafen fordert – und eine Verschärfung des Strafrechts auch in Bezug auf Arztpraxen. "Auch Praxen müssen sich nicht alles bieten lassen", so Gassen.
Überfallknöpfe und ein möglicher Panikraum
Im Praxisneubau des Hausarztes im Ruhrgebiet wurde schon vorgesorgt: "Jedes unserer Sprechzimmer ist mit einem Überfallknopf wie in der Bank ausgestattet, sodass wir im Ernstfall still und leise einen Notruf zur Polizei direkt unter dem Schreibtisch auslösen können", erzählt der Hausarzt. Er plant aber noch mehr Maßnahmen, zum Beispiel Selbstverteidigungs- und Deeskalationskurse für sein Praxispersonal. Denkbar seien auch Panikräume für die Mitarbeiter: "Im Fall einer Eskalation könnten sie sich dorthin zurückziehen."
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit einem Hausarzt am 13. August 2024
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa