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Umbruch am Arbeitsmarkt: Die größte Krise wartet noch


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Krise am Arbeitsmarkt
"So ein Denken verhindert jeden Fortschritt"


12.09.2022Lesedauer: 8 Min.
Arbeiter im Maschinenbau (Symbolbild): Die Arbeitslosigkeit ist im September in Deutschland gefallen.Vergrößern des Bildes
Arbeiter im Maschinenbau (Symbolbild): In allen Branchen dürften die Arbeitskräfte fehlen, wenn die Babyboomer in den kommenden Jahren in Rente gehen. (Quelle: getty-images-bilder)
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Trotz schwacher Konjunkturaussichten läuft es rund am Arbeitsmarkt. Die Firmen wissen: Die große Flaute kommt erst noch – bei den Arbeitskräften.

Seit fast drei Jahren jagt eine wirtschaftliche Krise die nächste. Erst setzte die Corona-Pandemie den Unternehmen zu, nun belasten viele Firmen die hohen Energiekosten und steigenden Einkaufspreise.

Das könnte drastische Folgen haben. "Eine Pleitewelle ist deutlich wahrscheinlicher geworden", warnte unlängst etwa der Ökonom Klaus-Heiner Röhl vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bei t-online.

Auf dem Arbeitsmarkt läuft es dagegen noch ziemlich rund. Die Arbeitslosenzahlen stiegen in den vergangenen Monaten nur leicht, ein Großteil des Plus ist zudem auf ukrainische Geflüchtete zurückzuführen, die nun in die Statistik einfließen. Wie passt das zusammen? Ein Blick in die Zukunft zeigt: Das Rennen um gute Arbeitskräfte wird in den kommenden Jahren trotz Krisen nur noch knapper, wie im Interview jetzt Sebastian Dettmers, CEO des Stellenportals Stepstone, erklärt.

t-online: Herr Dettmers, in Deutschland findet man kaum ein Café oder Softwareunternehmen, das nicht nach Mitarbeitern sucht. Warum mangelt es plötzlich überall an Arbeitskräften?

Sebastian Dettmers: Dahinter verbergen sich zwei Trends. Ganz aktuell sehen wir die Nachwehen der Corona-Krise. In den letzten zwei Jahren haben viele Branchen Arbeitskräfte entlassen oder keine neuen eingestellt – das rächt sich nun, wie man an Hotels, der Gastronomie oder Flughäfen sieht. Das deutlich größere Problem ist aber die langfristige Perspektive. Und da kann man sagen: Die aktuelle Krise am Arbeitsmarkt ist nur ein Vorgeschmack einer viel größeren Herausforderung.

Sie rechnen also nicht mit einer Erholung auf dem Arbeitsmarkt?

Nein, der aktuelle Fachkräftemangel ist ein kleines Problem im Vergleich zu den kommenden Jahren. Wenn die Babyboomer zwischen 2025 und 2035 in Rente gehen, werden wir diesen starken Arbeitskräftemangel in allen Branchen sehen. Wir sollten uns 2022 rot im Kalender anstreichen. Denn in Deutschland werden nie wieder so viele Menschen erwerbstätig sein wie in diesem Jahr. Ab jetzt schrumpft die Zahl der Erwerbsfähigen.

Ist das für Arbeitnehmer nicht etwas Positives? Während sich Mitarbeiter und Arbeitssuchende früher nach den Unternehmen richten mussten, können junge Fachkräfte nun hohe Gehälter verlangen und gute Rahmenbedingungen einfordern.

Auf den ersten Blick ist das für den Arbeitnehmer natürlich super – aber wir leben in einem ganzheitlichen Wirtschaftssystem. Und in einem solchen spürt dann auch jeder Einzelne im Alltag, wenn die Arbeitskräfte auf breiter Front fehlen.

Können Sie da ein paar Beispiele nennen?

Aktuell sehen wir es ja bereits im Gastrobereich oder an den Flughäfen. Aber auch mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe haben Probleme, Nachwuchs für eine Übernahme zu finden. Diese werden sich verschärfen, da steht viel auf dem Spiel. Wir müssen uns fragen: Wie schaffen wir es, ein immer weiter anwachsendes Renten- und Sozialsystem zu finanzieren, wenn immer weniger Menschen arbeiten?

Eine Frage, über die Sie ein ganzes Buch geschrieben haben. Also verraten Sie es uns: Wie schaffen wir es, eine immer geringere Geburtenrate mit Wohlstand und unserem Rentensystem zu vereinbaren?

Kurz gesagt: Indem wir entweder mehr oder smarter arbeiten.

Das wäre dann aber ein kurzes Buch.

Es wird komplexer, wenn wir uns die einzelnen Aspekte anschauen. Es gibt mehrere Stellschrauben, um diese Herausforderung zu meistern. Ein paar zentrale Aspekte: Wir müssen es möglich machen, dass mehr Frauen in Vollzeit arbeiten können, in Deutschland haben wir fast die höchste Teilzeitquote von Frauen in Europa. Zudem müssen wir Migranten viel besser in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integrieren. Wir sind ein Einwanderungsland, das müssen wir viel besser nutzen. Und wir müssen mehr und produktiver arbeiten – das Zauberwort heißt hier Automatisierung.

Das alles setzt voraus, dass die Wirtschaft weiterhin wachsen muss. Aber wäre es in Zeiten schwindender Ressourcen nicht wichtig, das System Wachstum generell zu überdenken?

Es gibt Überlegungen, wie eine Post-Wachstums-Gesellschaft aussehen könnte – doch ich kenne keinen Ökonomen, der das in ein realisierbares Konzept überführt hat. Übersetzt bedeutet eine schrumpfende Wirtschaft schlicht eine Rezession über Jahrzehnte.

Um es kurz zusammenzufassen: Wenn wir nicht wachsen, verlieren wir unseren Wohlstand?

Ja. Dabei geht es aber nicht nur darum, auf den Kaffee nach dem Dreigangmenü zu verzichten. Denn wenn Unternehmen weniger Geld einnehmen, bremst das Investitionen und Innovationen, zudem stellen sie weniger Menschen ein – es folgt eine Abwärtsspirale. Unsere Rente und das Gesundheitssystem wären dann kaum noch zu finanzieren.

Doch dazu muss es nicht kommen: Unser Land verfügt über ein hohes Bildungspotenzial, Technologien zur Digitalisierung und Automatisierung sind vorhanden. Wir müssen sie nur nutzen. Und dann darf es eben nicht heißen: Eine Verwaltungsangestellte bleibt ihr Leben lang eine Verwaltungsangestellte.

Das Buch von Sebastian Dettmers beschäftigt sich damit, wie Deutschland dem zunehmenden Mangel an Arbeitskräften begegnen kann, um seinen Wohlstand zu halten.
"Die große Arbeiterlosigkeit": Das Buch von Sebastian Dettmers ist im Sommer 2022 erschienen.

Sebastian Dettmers: Die große Arbeiterlosigkeit

Der 43-Jährige ist als mehrjähriger Geschäftsführer der Jobbörse Stepstone direkt am Puls des Arbeitsmarkts. In seinem Buch "Die große Arbeiterlosigkeit. Warum eine schrumpfende Bevölkerung unseren Wohlstand bedroht und was wir dagegen tun können" beschäftigt er sich mit dem zunehmenden Arbeitskräftemangel und den verheerenden Folgen für unser Wirtschafts- und Sozialsystem.

Genau solche Szenarien von Automatisierung und Digitalisierung wecken bei vielen Angestellten die Angst. Die Älteren haben die Sorge, von der Technik abgehängt und ersetzt zu werden.

Diese Angst gab es schon vor über 200 Jahren. Damals, als die ersten Spinnmaschinen erfunden wurden, brachen Arbeiter nachts in die Fabriken ein und zerstörten die Geräte. Dabei ist technischer Fortschritt die Grundlage unseres heutigen Wohlstands. Der Ökonom John Maynard Keynes prognostizierte vor fast 100 Jahren, dass die Menschen im Jahr 2030 dank dieses Fortschritts nur noch 15 Stunden in der Woche arbeiten würden. Und doch diskutieren manche Ökonomen die 42-Stunden-Woche und die Rente mit 70. Das zeigt: Maschinen und Algorithmen ersetzen bislang zu wenige Arbeitsplätze.

Eine Steuerfachangestellte kann man mit Mitte 40 aber wohl kaum zur Software-Ingenieurin weiterbilden.

Die statische Sicht, dass jemand ab einem gewissen Alter nicht mehr in der Lage ist, einen neuen Beruf zu erlernen, können wir uns nicht mehr leisten. So ein Denken verhindert jeden Fortschritt. Dieser entstand immer aus Veränderung. Und wir müssen klar feststellen: Die Digitalisierung und Automatisierung der Arbeitswelt wird immer schwieriger, weil es mit jedem Jahr weniger Arbeitskräfte gibt, die sich diesem Thema überhaupt annehmen können. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.

Diese Einstellung teilen nicht alle. Viele Arbeitnehmer blicken skeptisch auf die Digitalisierung und Weiterbildungsmaßnahmen. Wie soll der Wandel also funktionieren?

Ja, der Wille fehlt. Der Wille, jetzt zu investieren und auch alte Zöpfe abzuschneiden. Der Wille, auch mal durch eine Phase zu gehen, in der die Prozesse ein bisschen ruckeln. Für die Überwindung dieser Widerstände braucht es Druck. In Krisen, wie wir sie jetzt erleben, werden unglaubliche Veränderungsprozesse in Gang gesetzt. Erst wenn wir merken, dass es so nicht mehr funktioniert, haben wir den Mut, Veränderungen anzugehen. In den vergangenen Jahren ging es uns schlicht zu gut für diese Kraftanstrengung.

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Auch bei den Konsumenten stößt die Automatisierung nicht immer auf Gegenliebe. In der Pflege oder der Erziehung möchte niemand von Robotern betreut werden. Kann man wirklich alle Bereiche automatisieren?

Nein, es gibt zahlreiche Tätigkeiten, bei denen wir den Menschen unbedingt brauchen: etwa in der Bildung oder in der Pflege. Es geht darum, ein System zu schaffen, in dem zum Beispiel Pflegekräfte durch die Automatisierung von administrativen Tätigkeiten mehr Zeit haben, sich mit den Patienten zu beschäftigen.

Das dürfte den Mangel an Pflegern aber nur bedingt ausgleichen, oder?

Das stimmt. Wir brauchen eine Gesellschaft, die es sich leisten kann, mehr Menschen in sozialen Berufen zu beschäftigen, indem wir andere Bereiche entschlacken und automatisieren. Wir müssen verinnerlichen: Ja, Roboter ersetzen Arbeitsplätze, aber sie schaffen auch neue, höherwertige Arbeit oder ermöglichen, bestehende Strukturen zu verbessern. Ansonsten können wir unsere Kinder nicht auf diese Zukunft vorbereiten.

Diese neuen Jobs sind meist komplexer als jene, die durch Roboter oder Software ersetzt werden. Brauchen die zukünftigen Generationen also höhere Qualifikationen als ihre Eltern?

Sie brauchen andere Qualifikationen. So etwas wie Kreativität lässt sich zum Beispiel nicht durch Algorithmen ersetzen. Die Fähigkeit, Probleme zu lösen und Zusammenhänge zu erkennen, ist in einer komplexen Welt immer wichtiger. Und wenn wir einen Fokus auf soziale Berufe legen, dann werden auch soziale Fähigkeiten bedeutender.

Wir erwarten also von den jungen Generationen eine hohe Qualifikation und eine Palette an Softskills. Gleichzeitig sollen sie produktiver sein und mehr leisten als ihre Eltern, um einer steigenden Zahl an älteren Menschen das Krankenkassen- und Rentensystem zu finanzieren. Inwiefern ist das fair?

Das Leben ist nicht fair, wir müssen den Realitäten ins Auge sehen. Den Geburtenrückgang sehen wir seit über 50 Jahren und diese Entwicklung lässt sich nicht aufhalten oder umkehren. Wir werden uns dem stellen müssen, wie sich auch unsere Eltern oder Großeltern den Herausforderungen ihrer Zeit gestellt haben. Das Schicksal der Nachkriegsgeneration war zum Beispiel auch nicht fair.

Sie fordern in ihrem Buch eine längere Lebensarbeitszeit, um dem Problem einer überalternden Bevölkerung zu begegnen – dabei ist das Problem seit 50 Jahren bekannt. Hier stellt sich vielen die Frage nach der Fairness sehr wohl.

In meinem Buch schlage ich vor, das Renteneintrittsalter zu flexibilisieren. Denn das Renteneintrittsalter von 65 Jahren stammt aus einer Zeit, in der die Lebenserwartung deutlich niedriger war als heute. Diese Menschen hatten nach der Rente meist nur noch wenige Jahre zu leben. Die jüngere Generation dagegen dürfte weit über 80 Jahre alt werden, sie sind zudem im Alter fitter.

Das klingt in der Theorie vielleicht schlüssig, aber bei vielen körperlich anstrengenden Berufen ist es schlicht nicht möglich, länger zu arbeiten. Was sagen Sie diesen Menschen?

Niemand sollte mit 67 Jahren noch als Dachdecker arbeiten müssen. Aber durch Weiterqualifizierung kann diese Person dem Arbeitsmarkt trotzdem zur Verfügung stehen – in einem Beruf, der körperlich weniger fordernd ist, bei dem aber zum Beispiel Erfahrung gefragt ist.

Sie möchten einen Dachdecker mit 67 Jahren weiterqualifizieren?

Nein, das muss natürlich früher geschehen. Daher dürfen wir Lebensläufe nicht mehr so statisch denken. Das Arbeitsleben darf nicht mehr nur aus dem bestehen, was man im Alter von 20 Jahren gelernt hat. Dafür müssen wir umdenken: Jemand ist mit 50 Jahren vielleicht körperlich nicht mehr so fit wie mit 20, aber kognitiv voll leistungsfähig. Diese Person kann noch gut 15 oder 20 Jahre arbeiten. Viel zu oft sind es aber die Arbeitgeber, die mit Vorruhestandsprogrammen versteckten Personalabbau betreiben.

Für die Lebensqualität macht es aber einen erheblichen Unterschied, ob man den Ruhestand mit 65 oder 75 Jahren erlebt. Nimmt man den Menschen nicht die letzten wertvollen Jahre, in denen sie körperlich fit sind und ihre Rente genießen könnten?

Da würde ich widersprechen: Wir beobachten, dass gerade in höherqualifizierten Jobs die Menschen gerne länger arbeiten. Studien zeigen sogar, dass die Lebenserwartung steigt, wenn man länger arbeitet. Die Frage ist ohnehin weniger, ob wir länger arbeiten sollten, denn das ist eigentlich unumgänglich. Die Frage ist eher, wie wir es schaffen, Arbeit so zu gestalten, dass sie zu den Menschen passt – auch im hohen Alter.

Das ist doch widersprüchlich: Einerseits soll die Digitalisierung uns Arbeit abnehmen, andererseits fordern Sie nun, dass wir deutlich länger arbeiten müssen. Wie passt das zusammen?

Wenn wir die Potenziale der Automatisierung und Digitalisierung richtig nutzen, können wir alle früher in Rente gehen. Noch mehr: Wir könnten sogar die Wochenarbeitszeit deutlich reduzieren. Leider sind wir in der Praxis davon noch weit entfernt. Praktisch stagniert hierzulande die Produktivität seit 10 Jahren. Den Luxus, weniger zu arbeiten, können wir uns so nicht leisten. Wir müssen den Produktivitätsturbo daher dringend zünden.

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Verwendete Quellen
  • Interview mit Sebastian Dettmers
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