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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schwere Wirtschaftskrise "Viele Türken verfluchen sich, je Erdogan gewählt zu haben"
Das Geld verliert in der Türkei jeden Tag an Wert, doch Präsident Erdoğan hält an seiner Zinspolitik fest. Frustration, Hilflosigkeit und Wut sind an der Tagesordnung.
Sie klopfen auf Töpfe, recken die Fäuste und brüllen aus voller Kehle: "Hükümet istifa" – "Regierung, tritt zurück". Hunderte Türken versammelten sich in dieser Woche in mehreren Städten, um ihre Wut über die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf die Straßen zu schreien. Denn der hat aus ihrer Sicht das Land zugrunde gerichtet.
Einer ihrer wichtigsten Gründe dafür: die heftige Wirtschaftskrise und die galoppierende Inflation, für die auch Erdoğan verantwortlich ist. Durch seinen Einfluss auf die Notenbank verliert die Landeswährung Lira immer schneller an Wert, bei fast 20 Prozent liegt die Teuerungsrate aktuell. Gegenüber dem Euro hat die Lira binnen eines Jahres rund 40 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Aktuell ist ein Euro rund 13 türkische Lira wert, vor zwei Jahren waren es noch 6 Lira.
Die Folge: Essen, Gas, Strom, Miete – alles wird teurer, während die Gehälter der meisten Türken kaum mitziehen. "Die Menschen werden faktisch von Tag zu Tag ärmer", erzählt die 29-jährige Elif, die gebürtig aus Berlin kommt, im Gespräch mit t-online.
"Die Preise steigen täglich"
Viele erfüllt das mit Wut. Einer von ihnen ist Ahmed. "Ehemals treue AKP-Anhänger beschimpfen nun Erdoğan", sagt er. Der 26-Jährige lebt in Ağrı, einer Stadt mit etwa hunderttausend Einwohnern im Osten der Türkei. Seinen echten Namen möchte der studierte Lehrer nicht veröffentlicht lesen. Zu groß ist die Angst, bei der Jobsuche Nachteile zu haben. Der Redaktion ist sein voller Name bekannt.
Die fatale Geldpolitik Erdoğans, die Notenbank trotz steigender Inflation zu Zinssenkungen zu nötigen, schlägt sich immer heftiger im Alltag der Menschen nieder. "Die Preise im Supermarkt ändern sich täglich. Mittlerweile geben wir im Monat etwa 2.500 türkische Lira für Lebensmittel aus", sagt Elif, die mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn seit zwei Jahren in Istanbul lebt. Im vergangenen Jahr wären es noch 2.000 Lira gewesen.
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Ahmed nimmt die Preissteigerungen in seiner Stadt noch schärfer wahr. "Du kaufst den einen Tag etwas für eine Lira und am nächsten Tag kostet es bereits fünf Lira", berichtet er t-online.
Die Ersparnisse sind weg, die Kosten steigen
Viele Grundnahrungsmittel hätten sich stark verteuert, berichten sowohl Elif als auch Ahmed. "Rapsöl, Fleisch und Toilettenpapier sind sehr stark angestiegen", sagt Elif. "Früher hat ein Liter Rapsöl unter 10 Lira gekostet, heute zahlst du 40 bis 50 Lira. In großen Städten bekommst du kaum noch Zucker oder Rapsöl", so Ahmed.
Und die Preise dürften weiter anziehen: Die Milchindustrie forderte erst kürzlich eine Anhebung der Preise um 55 Prozent, auch andere Branchen stehen unter Druck. Für viele Türken sind weitere Preissteigerungen nicht mehr zu ertragen.
Der Mindestlohn liegt bei 18,35 Lira die Stunde, das ergibt etwa einen Monatslohn von 2.800 Lira – umgerechnet etwa 200 Euro. Zu Beginn des Jahres waren es noch mehr als 300 Euro. Zwar bekommen viele Türken etwas mehr als den Mindestlohn, doch auch das dürfte kaum ausreichen, um weitere Preissprünge noch lange abfedern zu können. Ersparnisse habe in der Mittelschicht kaum einer mehr, sagt Ahmed.
"Wer nicht arbeitet, muss hungern"
Das zeigen die klassischen Supermarktpreise: Ein Familienpaket türkischer Schwarztee, das Nationalgetränk, kostet im Angebot 76 Lira, knapp 5,50 Euro. Das Kilo Reis schlägt mit 12 Lira zu Buche und Rinderhaxe ist für viele mit 60 Lira pro Kilogramm auch im Angebot nicht mehr zu bezahlen.
"Wer im Westen als Mieter lebt und einen Tag nicht arbeitet, muss hungern", sagt Ahmed. Die Lage ist so ernst, dass türkische Politiker bereits Bürger aufgerufen haben, beim Essen zu sparen und weniger Lebensmittel zu kaufen.
Nun profitieren die Regionen, in denen viele noch selbst Land besitzen – so wie im Osten der Türkei, in der auch Ahmet lebt. "Viele können mit ihrem eigenen Anbau über die Runden kommen", sagt er. Im Westen sei das anders.
Immer mehr Türken wollen weg
Zudem ist das Leben in der Stadt deutlich teurer, berichtet auch Elif. Sie selbst ist davon kaum betroffen, da ihr Mann einen gut bezahlten Job als Programmierer hat und sein Unternehmen das Gehalt mit der Inflation anhob. "Aber ich weiß nicht, wie Menschen mit dem Mindestlohn in Istanbul überleben", sagt sie. Auch die Mieten seien durch die Inflation in der Großstadt gestiegen.
Doch selbst Elif und ihr Mann haben seit der Geburt ihres Sohnes überlegt, zurück nach Deutschland zu kommen. So düster seien die Aussichten für junge Menschen in der Türkei. Vorher sei dies nie ein Thema gewesen. Der Traum auszuwandern ist für immer mehr Türken der Ausweg aus der Krise. "Die Menschen hier in Agri verlassen ihre Heimat zu Hunderten und Tausenden", erzählt Ahmed.
Er hat auch Verwandte in Deutschland, will aber eigentlich bleiben. Nur bietet ihm seine Heimat kaum Chancen: Trotz gutem Abschluss findet der Akademiker keinen Job, der Staat stellt kaum noch Lehrer an. "Die Jugend ist in einer Depression", sagt Elif.
Erdoğan scheut Neuwahlen
Ihre Wut richtet die junge Generation – wie viele andere Türken – gegen die Regierung. "Viele Türken verfluchen sich dafür, je die AKP gewählt zu haben", sagt Ahmed.
Es gebe zwar noch immer Türken, die an Erdoğan festhalten. Doch Erdoğan fürchte nicht ohne Grund die Neuwahlen, welche die Opposition immer häufiger fordert. "Die AKP traut sich nicht an die Urne. Die Politiker wissen, dass sie die Wahl verlieren würden", sagt Ahmed.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Elif
- Gespräch mit Ahmed
- WSI-Mindestlohndatenbank
- Austausch mit der Außenhandelskammer Türkei
- Börse.de: Historische Lira-Kurse
- Prospekte aus der Türkei, Istanbul, verschiedener Supermärkte
- Mit Material der Nachrichtenagentur Reuters