Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Abhängigkeit von Putin Wie Deutschland sich verrannte
Altbundeskanzler Gerhard Schröder hat womöglich Deutschlands Abhängigkeit von russischem Erdgas verschuldet. Doch die Regierungen von Angela Merkel haben nichts dagegen unternommen – mit fatalem Ergebnis.
Wenn es um russisches Gas und Deutschlands Abhängigkeit geht, scheint die Sache klar zu sein: Gerhard Schröder war's. Der frühere Kanzler und SPD-Chef hat in seiner Amtszeit die Weichen für die erste Ostsee-Pipeline Nord Stream gestellt und sich danach als Lobbyist des russischen Gaskonzerns Gazprom dafür eingesetzt, auch die zweite Röhre durch die Ostsee zu bauen.
Genehmigt und umgesetzt wurde die aber in der Amtszeit seiner Nachfolgerin Angela Merkel. Deshalb muss man heute auch fragen:
Wie groß ist der Anteil der Kanzlerin am Gasdesaster Deutschlands? Was geht auf die Rechnung eines der beiden Regierungschefs, was auf eine allgemeine politische Fehleinschätzung?
Alternative zu Kohle und Kernenergie gesucht
Dem früheren Kanzler unterstellen selbst seine eigenen Genossen inzwischen Parteilichkeit und ein ausschließliches Interesse am eigenen Wohlergehen. Das mag nach seiner Amtszeit zutreffen, für seine sieben Jahre als Regierungschef jedoch wahrscheinlich nicht.
Denn beide Kanzler bewegten sich in den ersten Jahren des Jahrtausends in einem besonderen Szenario: Sie wollten aus der Atomkraft, seit 2019 dann auch aus der Kohleverstromung aussteigen. Die erneuerbaren Energien würden auf absehbarer Zeit nicht in der Lage sein, die entstehende Lücke zu füllen.
Also suchten sie nach einer möglichst klimafreundlichen Alternative zu Kohle und Kernenergie, die zuverlässig geliefert werden und bezahlbar sein sollte. Eine militärische Bedrohung wurde in dieser Zeit nicht von Russland erwartet, sondern von islamistischen Terroristen.
Überlegung: Moskau wird immer liefern
Die Überlegungen der deutschen Politiker orientierten sich also weniger an der politischen Zuverlässigkeit Russlands als an dessen Qualität als Energie- und Rohstofflieferant.
Weil Russland als Gas- und Ölexporteur noch nie ausgefallen war, weil es außer seinen Bodenschätzen – und ein bisschen Kaviar – nahezu nichts zu exportieren hat, schien die Rechnung sicher: Moskau würde immer liefern. So dachten nicht nur Schröder und Merkel, so kalkulierten auch ihre Koalitionspartner.
Noch in ihren letzten Amtswochen im vergangenen Sommer handelte Angela Merkel in dieser Logik. Sie rang Präsident Joe Biden die Zustimmung zur Inbetriebnahme von Nord Stream 2 ab und sorgte dafür, dass Erdgaslieferungen im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung nicht automatisch auf die Liste möglicher Sanktionen rückten. Die Kanzlerin ist jeder persönlichen Vorteilsnahme unverdächtig – ihr ging es um die Energieversorgung Deutschlands.
Keine Flüssiggasterminals in Deutschland
Es kam anders. Deshalb lohnt ein Blick auf die falschen Abzweigungen. Statt einer Pipeline (oder parallel dazu) hätte Deutschland sich auch zum Bau großer Hafenterminals für Flüssiggas entscheiden können – so wie das andere Länder Europas taten. Bis heute aber wurde weder an der Elbe noch an Nord- und Ostsee eines dieser Terminals gebaut.
"Privatwirtschaftliche Angelegenheit" knurrte das Wirtschaftsministerium bisher, wenn man wissen wollte, warum das so ist. Tatsache ist jedoch, dass sich beide Bundeskanzler zwar für grenzüberschreitende Pipelines einsetzten, nicht aber für Terminals, die Deutschland unabhängiger von Russland gemacht hätten.
Deren Geschäftsgrundlage war in Deutschland lange Jahre schlechter als anderswo: Mit den gewaltigen Pipeline-Projekten durch die Ostsee würde Deutschland wahrscheinlich weniger von dem (teureren) Flüssiggas kaufen. Deshalb verschwanden die Pläne samt und sonders in der Schublade – obwohl seit Jahren klar ist, dass solche Terminals dringend gebraucht werden, wenn in wenigen Jahren schon flüssiger Wasserstoff einen großen Teil der fossilen Energien ersetzen soll.
Wie geht man mit politischen Fehlern um?
Politische Energie war für solche Überlegungen in den vergangenen Jahrzehnten einfach nicht übrig. Gerhard Schröder kämpfte mit dem Projekt "Agenda 2010" gegen die tiefste Arbeitsmarktkrise der Nachkriegsgeschichte.
Angela Merkel hatte nach der Finanz- die Euro-, die Migrations- und die Corona-Krise auf dem Stundenplan. Das große energiepolitische Projekt war der Atomausstieg und der Ausbau der Erneuerbaren – alle weiteren Entscheidungen wirkten da wie eine Nebensache.
Ein ehemaliger Kanzler wird zu Recht kritisiert und beargwöhnt, wenn er sich als Lobbyist eines Landes verdingt, das bei seinen Nachbarn einmarschiert, Dissidenten skrupellos umbringt, Menschenrechte missachtet. Was aber ist mit politischen Fehlern, die aus einer zu optimistischen Einschätzung der Lage rühren?
Sie sind noch schwieriger auszuhalten. Denn sie wirken nicht weniger verheerend. Doch der politische Selbstreinigungsmechanismus – Bestrafungen, Sanktionen, Parteibuchentzug – steht für sie nicht zur Verfügung.
Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin in Berlin. Ihr neues Buch heißt: Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche.