Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Bier zu Hause Warum der Alkoholkonsum nicht zum Politikum werden sollte
Ärzte und Suchttherapeuten warnen, dass im Lockdown viel zu viel getrunken wird. Das ist falsch – denn die Zahlen geben das nicht her.
Normalerweise würde das Bier jetzt in Strömen fließen, und der ein oder andere Schnaps würde dazu gekippt – es ist schließlich kalt draußen. In der Karnevalswoche schnellt im Rheinland und im Süddeutschen der Alkoholkonsum normalerweise hoch, bevor am Aschermittwoch alles vorbei ist.
Diesmal fällt der Karneval aus. Getrunken wird aber angeblich trotzdem, und zwar mehr und gefährlicher als sonst. Wegen Corona. Diese von Ärzten und Therapeuten gern verbreitete Geschichte zeigt, warum man naheliegenden Behauptungen misstrauen sollte.
Es gibt unbestreitbar ein Alkohol-Problem in Deutschland. Nur: Es ist nicht größer als sonst. Es ist nur anders.
Zahlen belegen keinen Alkoholanstieg
Es ist ja einleuchtend anzunehmen, dass Menschen mehr trinken, wenn sie zu Hause sitzen müssen und sich Sorgen um die Zukunft und um die Gesundheit machen. Doch die Zahlen geben das nicht her. Im vergangenen Jahr haben die Menschen nicht mehr getrunken als sonst, eher weniger.
Der Pro-Kopf-Verbrauch an Spirituosen liegt normalerweise bei knapp sechs Litern, 2020 werden es geschätzte 5,1 Liter sein. Die Bierbrauer berichten von einem Einbruch ihres Umsatzes an Fassbier, die Winzer gehen ebenfalls ziemlich nachdenklich aus dem Jahr 2020.
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Der Markt für Spirituosen, in normalen Jahren um die 8,5 Milliarden Euro schwer, ist im vergangenen Jahr auf 7,9 Milliarden Euro geschrumpft, schätzt das Statistische Bundesamt. Gab jeder Einzelne 2019 noch mehr als 100 Euro für Alkoholika aus, sind es im vergangenen Jahr wohl 10 Euro weniger gewesen.
Die Steuerstatistik zeigt ebenfalls nach unten: Sowohl bei der Alkohol- als auch bei der Schaumwein-Steuer gibt es einen Rückgang der Einnahmen um fast 10 Prozent, die Biersteuer brach regelrecht ein, um 22 Prozent.
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Der Global Drug Survey, die weltweit größte Umfrage zum Drogenkonsum, stellt dagegen für 2020 einen höheren Alkoholkonsum fest. 43 Prozent der Deutschen, die an dieser Umfrage teilnehmen, hätten angegeben, während der Pandemie mehr getrunken zu haben. Mehr als ein Drittel habe zudem gesagt, man trinke häufiger und beginne früher am Tag damit. Eine Umfrage der Kaufmännischen Krankenkassen kommt zum selben Ergebnis.
Tatsächlich Betroffene brauchen Hilfe
Problematisch ist in diesem Fall nicht der Widerspruch zwischen den nackten Zahlen und den Umfrageergebnissen. Problematisch sind die Schlüsse, die daraus gezogen werden. Statt nämlich zu warnen und zu mahnen, dass die Menschen in der bedrückenden Pandemie-Zeit dem Alkohol verfielen, wäre es richtig, auf die tatsächlich Betroffenen zu schauen. Wer von sich selbst den Eindruck hat, er oder sie trinke zu viel, braucht vielleicht Angebote, die helfen, daran etwas zu ändern. Alle anderen brauchen sie nicht.
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Man könnte die Sache so formulieren: Für die meisten Erwachsenen wird das Alkohol-Problem in der Corona-Zeit nicht größer. Sie trinken nicht mehr als vorher, aber anders. Weil die Kneipen und Restaurants geschlossen sind, machen sie sich das Bier oder den Wein nun zu Hause auf.
Unter dem Strich kommt für diese Gruppe am Ende wahrscheinlich ein geringerer Konsum heraus: Weil es im Jahr 2020 keine Weihnachtsfeier gab, keinen Karneval und kein Volksfest.
Alkoholkonsum auf Corona zu schieben, ist falsch
Anders ist das für diejenigen, die während des Lockdown tatsächlich viel mehr trinken: Hier ist es richtig zu warnen, dass regelmäßiger Alkoholkonsum zur Sucht und zu lebensbedrohlichen Krankheiten führen kann. Und hier ist es auch vernünftig, konkrete Hilfsangebote zu formulieren. Die Anonymen Alkoholiker tun das bereits, viele Arbeitgeber tun es auch.
Es ist auch vernünftig, dafür zu arbeiten, dass der Alkoholkonsum in Deutschland sinkt – was er übrigens seit Jahrzehnten zuverlässig tut. Dagegen jetzt Corona-Alarm zu machen, geht deutlich an der echten Problemlage vorbei. Die zeigt nämlich vor allem eines: Die meisten Bürger kommen ganz gut zurecht. Auch wenn das nicht allen passt.
Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin in Berlin. Gemeinsam mit t-online.de und der Leibniz-Gemeinschaft produziert sie den Podcast .
Anmerkung der Redaktion: Die These des Artikels stützt sich in Teilen auf eine vorläufige Schätzung des Bundesfinanzministeriums, der zufolge die Alkoholsteuereinnahmen 2020 rückläufig waren.