Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Einzelhandel vs. Onlinehandel Die Kunden verliert man nicht nur zu Weihnachten
Der Onlinehandel boomt und der stationäre Handel jammert. Doch anstatt sich endlich auf die neuen Zeiten einzustellen,
Pünktlich zur Weihnachtszeit hagelt es wieder einmal Warnungen und Mahnungen. Diesmal werde das weihnachtliche Paketgeschäft bestimmt wegen Überlastung zusammenbrechen – besser, man bestellt erst gar nichts online. Die pünktliche Lieferung sei in dem Chaos keineswegs garantiert. Und ohnehin gebe es keine umweltschädlichere Art einzukaufen, als die ganzen Kisten und Plastiktüten mit Diesellieferwagen nach Hause liefern zu lassen.
Rückzugsgefecht des stationären Einzelhandels
Das Schöne an diesen Schauermeldungen ist: Sie sind nicht wahr. Im Rückzugsgefecht des stationären Einzelhandels ist kein Gerücht zu schräg, als dass es nicht benutzt würde, um besorgte Konsumenten aus dem Internet zurück in die Läden zu bugsieren. Doch den Onlinehandel wird das nicht bremsen, und die Lieferdienste werden am Ende doch noch fast jedes Paket pünktlich abliefern.
Auf der anderen Seite aber ist ein Strukturwandel im Gang, der in den Ladenstraßen der Kreis- und Mittelstädte schon deutlich sichtbare Spuren hinterlässt: voraussichtlich jedes zweite Einzelhandelsunternehmen wird in den kommenden 10 bis 15 Jahren verschwinden, fürchtet der Handelsverband.
Diesen Trend hält man nicht auf, indem man über Onlinehandel und Lieferdienste schimpft und die Kunden beschuldigt, zu träge und bequem zum Einkaufen zu sein. Die Kunden ließen sich im Laden beraten, um dann doch billig im Internet zu bestellen. Sie benutzten die Umkleidekabinen nur noch für Selfies mit aufwendigen Kleidern, die sie sich weder leisten könnten noch wollten.
Es wird gejammert, statt mit Service ("Schade, der Pullover ist in Ihrer Farbe hier gerade ausverkauft. Aber wir liefern ihn gern nach Haus"), Dienstleistungen ("Unser Schneider ändert die Hose bis morgen"), Rabatten ("Warum wollen Sie das bei Amazon für 50 Euro kaufen, wenn Sie es bei uns für 48 haben können?") oder mit einem eigenen Onlineangebot gegen die Plattformhändler anzutreten.
Onlineplattformen haben die Wünsche der Kunden verstanden
Klar: Es gibt Einwände gegen Unternehmen des Onlinehandels und Lieferdienste, die sich nicht einfach wegwischen lassen. Können die Wettbewerbsbehörden Handelsplattformen wie Amazon noch regulieren? Muss ein neues Kartellgesetz her, das ihre Marktmacht begrenzt? Werden die Fahrer der Logistikunternehmen ordentlich bezahlt? Arbeiten sie gut und zuverlässig?
Bei all diesen Fragen gibt es gute Gründe zu zweifeln, möglicherweise müssen die Kontrolle und die Aufsicht verschärft werden. Doch Onlineplattformen wie Amazon und Facebook haben begriffen, was der stationäre Einzelhandel noch nicht überall akzeptiert: Kunden wollen online und in Geschäften in der Stadt einkaufen.
Sie finden es gut, wenn sie beim Einkaufsbummel einen Kaffee oder ein Glas Wein kaufen können. Sie möchten im Internet bestellte Ware auch mal im Laden umtauschen dürfen, anstatt sich in der Postfiliale in die lange Schlange einzureihen. Bei Möbeln und Dekorationsartikeln schätzen sie es, im Laden Probe zu sitzen und den Kauf dann nach Hause gebracht zu bekommen. Warteschlangen an der Kasse hassen sie.
Amazon wird im Weihnachtsgeschäft in einem Laden auf dem Berliner Kurfürstendamm mitmischen, Facebook wird mit einem Geschenkegeschäft in der Kölner Einkaufsmeile Hohe Straße auftauchen, der Online-Luxushändler MyTheresa ist schon eine Weile in der Münchner Innenstadt Nachbar des Traditionshauses Lodenfrey.
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Der Einzelhandel in den Innenstädten muss nicht untergehen, auch wenn immer mehr im Internet eingekauft wird. Händler, die das Onlinegeschäft und den Einkauf klug verbinden, haben beste Chancen. Darauf könnte sich der Handel konzentrieren – statt alljährlich zu Weihnachten über die Kunden zu motzen.
Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin in Berlin. Ihr Buch heißt: "Regierung ohne Volk. Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert."