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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ampel in Geldnot Ist das die Lösung?
Das Karlsruher Haushaltsurteil hallt weiter nach. Inzwischen diskutiert die Politik über eine Reform der Schuldenbremse. t-online zeigt drei Szenarien, wie die aussehen könnte.
Nach dem Urteil aus Karlsruhe ringt die Bundesregierung mit der Schuldenbremse. Dabei geht es einerseits um schnelle Lösungen, vor allem mit Blick auf den Haushalt für das Jahr 2024. Zugleich ist eine grundsätzliche Debatte entbrannt darüber, ob sich mit der Schuldenbremse überhaupt noch Staat machen lässt.
Die Fronten in der Debatte sind dabei klar: FDP und CDU halten an der Schuldenbremse fest und fordern kurzfristig neue Sparanstrengungen, um das Loch im Haushalt 2024 zu stopfen, das nach Aussagen von Finanzminister Christian Lindner (FDP) bei rund 17 Milliarden Euro liegen soll.
SPD und Grüne sind davon wenig angetan. Sie drängen stattdessen darauf, auch im kommenden Jahr die wirtschaftliche Notlage auszurufen, um die Schuldenbremse erneut auszusetzen. Und langfristig, so heißt es im linken Parteienspektrum, brauche es entweder einen neuen Super-Geldtopf ähnlich dem für die Zeitenwende bei der Bundeswehr, der im Grundgesetz verankert alle Klima-Investitionen ermöglicht, oder aber eine umfassende Reform, eine Lockerung der Schuldenbremse. Doch wie könnte die aussehen? t-online erklärt, was drei Reformideen für die Schuldenbremse brächten – und wie wahrscheinlich sie sind.
1. Die Neuschulden-Grenze erhöhen
Der auf den ersten Blick kürzeste Weg zu einer gelockerten Schuldenbremse führt über die tatsächliche Schuldenbegrenzung. Diese ist in Artikel 115 des Grundgesetzes festgesetzt – und ließe sich theoretisch einfach anheben.
Derzeit gilt: Pro Jahr darf die strukturelle – also konjunkturunabhängige – Neuverschuldung des Bundes die Marke von 0,35 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands nicht überschreiten. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) aus dem Jahr 2022 (rund 3,88 Billionen Euro) bedeutet das: Maximal möglich sind 13,3 Milliarden Euro neue Schulden. Also gerade mal ein Fünftel des 60-Milliarden-Euro-Kreditrahmens, den die Ampelkoalition 2021 entgegen der Verfassung aus dem Corona-Krisen-Topf in den Klima- und Transformationsfonds verschoben hatte.
Der Wert von 0,35 Prozent beim jährlichen Staatsdefizit stammt aus einer Zeit, als die Welt unter dem Eindruck der Finanz- und Staatsschuldenkrise stand. Die Idee damals im Jahr 2009: Deutschlands Staatsverschuldung sollte nicht nur vor einem weiteren Anstieg bewahrt werden, sondern bestenfalls sogar sinken.
Staatsschulden werden dabei üblicherweise nicht in absoluten Euro-Summen gemessen, sondern ebenfalls als Prozentsatz der Wirtschaftsleistung. "Das heißt: Wenn die Wirtschaft gut läuft, das BIP prozentual stärker wächst als die Schulden, sinkt die Staatsverschuldung automatisch", sagt der Ökonom Jens Südekum t-online. Allerdings sorge der Wert von 0,35 Prozent Neuverschuldung dafür, dass dieser Rückgang besonders schnell geht. "Das war damals – im Angesicht der extremen Staatsschulden in Griechenland – das Ziel der Politik, das war womöglich sogar nachvollziehbar", so der Experte.
"Letztlich aber bleibt die Defizitgrenze eine willkürliche Zahl. Man könnte sie auch höher setzen, zum Beispiel auf 0,5 Prozent." Dieser Wert entspricht dem EU-Fiskalpakt, einer Schuldenregel, der sich fast alle EU-Staaten angeschlossen haben.
Was brächte das? Wohl nicht allzu viel, aber immerhin ein bisschen mehr Spielraum bei der Staatsverschuldung. Südekum, der seit jeher für eine Lockerung der Schuldenbremse ist, sagt: "Die Marke von 0,5 Prozent vom BIP wäre eine kleine Verbesserung der Schuldenbremse. Gemessen an der aktuellen Wirtschaftsleistung könnte der Bund damit pro Jahr rund 6 Milliarden Euro zusätzliche Schulden aufnehmen. Das ist nicht nichts, aber sicher nicht der große Wurf."
Wie realistisch ist diese Option? Eher unwahrscheinlich. Denn die Marke von 0,35 Prozent steht wörtlich im Grundgesetz, das für eine solche Anhebung geändert werden müsste. Das aber geht nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die Union müsste also mitspielen. Und danach sieht es – derzeit zumindest – nicht aus.
2. Den Schuldenrahmen anders berechnen
Etwas technischer ist dagegen die Option, den konjunkturbedingten Schuldenrahmen anders zu berechnen. Denn neben den aktuell rund 13,3 Milliarden Euro, die der Bund im Rahmen der 0,35-Prozent-vom-BIP-Regel als neue Schulden aufnehmen darf, gibt es zusätzliche Spielräume über die sogenannte "Konjunkturkomponente" der Schuldenbremse.
Vereinfacht besagt die: Läuft die Wirtschaft rund, herrscht annähernd Vollbeschäftigung, schöpft Deutschland sein "Produktionspotenzial" voll aus, dann darf der Bund wenig bis keine Zusatzkredite aufnehmen, sondern ist gezwungen, Schulden abzubauen. In konjunkturell schwächeren Zeiten hingegen sind Extraschulden über die strukturelle Obergrenze von 0,35 des BIPs hinaus erlaubt, weil der Staat die Wirtschaft dann durch mehr Ausgaben ankurbeln können soll.
Der Hebel für eine Lockerung der Schuldenbremse an dieser Stelle liegt dabei in der Berechnung des Produktionspotenzials – das sich nämlich rein ökonomisch gar nicht eindeutig definieren lässt. "Hier könnte man einen anderen, sinnvolleren Ansatz wählen", sagt Sebastian Dullien vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomik und Konjunkturforschung (IMK). Was er damit meint: Man könnte die Berechnung so ändern, dass das Potenzial nach Krisen wie der Corona-Pandemie nicht gleich dauerhaft stark abgesenkt wird, sodass mehr Schulden möglich sind.
Eine weitere konkrete Möglichkeit sei etwa, die geringe Erwerbsquote bei Frauen stärker zu berücksichtigen als bislang. "Dann fiele auf, dass Deutschland viel stärker unter seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten bleibt – und es ließen sich dauerhaft mehr Schulden zur Stimulation der Wirtschaft oder für Investitionen in die Kinderbetreuung aufnehmen."
Was brächte das? Das kommt stark auf die Details der mathematischen Formel an. In einem sehr weitgehenden Anpassungsvorschlag des Thinktanks "Dezernat Zukunft" heißt es, dass dadurch ein bis zu 20 Milliarden Euro höherer Kreditrahmen möglich werde. Dullien: "Dafür müsste man aber die Rechenregeln maximal ausreizen. Außerdem würde das mit aktuellen EU-Regeln in Konflikt stehen."
Wie realistisch ist diese Option? Politisch jedenfalls realistischer als die erste Variante. Denn: Die genaue Formel ist nicht im Grundgesetz verankert. Eine Änderung könnte die Ampel per einfacher Gesetzesmehrheit beschließen. Fraglich ist jedoch, wie die Liberalen zu solch einem Vorschlag stehen.
3. Die "goldene Regel" wieder einführen
Eine viel grundsätzlichere Reform der Schuldenbremse stellt die Rückkehr zur sogenannten "goldenen Regel" dar. Gemeint ist damit eine Art Einteilung neuer Staatskredite in gute und schlechte Schulden, wie es sie bis zur Einführung der Schuldenbremse in der Haushaltspolitik gab.
Gut und damit auszunehmen von der Schuldenbremse wären demnach jene Schulden, die der Finanzierung von Investitionen in die Zukunft dienen. Schlechte Schulden finanzieren derweil konsumtive Ausgaben ohne nachhaltigen Effekt, zum Beispiel neue Sozialleistungen wie die Mütterrente; für sie sollte weiter die Bremse gelten.
Der Knackpunkt dabei wäre eine klare Definition, was alles eine echte Investition im Sinne der "goldenen Regel" wäre. Ökonomen wie Jens Südekum, der Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) berät, sagen: "Dazu müssen ganz klar staatliche Investitionen zur klimaneutralen Transformation der Industrie zählen." Kritiker wie der frühere Wirtschaftsweise und heutige Berater von Finanzminister Lindner, Lars Feld, entgegnen: "Diejenigen, die jetzt nach 'Investitionen' rufen, meinen eigentlich 'Subventionen'" – die entweder überflüssig seien oder sich besser durch Einsparungen an anderer Stelle finanzieren ließen.
Was brächte das? Glaubt man den Befürwortern der "goldenen Regel": sehr viel. Sämtliche Staatsschulden für Klima-Fördergelder ließen sich so von der Schuldenbremse ausnehmen, Milliardenschulden wären so möglich. Kritiker halten genau das aber für fahrlässig, weil so künftigen Generationen ein Schuldenberg überlassen werde.
Wie wahrscheinlich wäre diese Option? Vermutlich noch unwahrscheinlicher als die erste Option. Denn auch hierfür wäre eine Grundgesetzänderung nötig – und eine solche umfassende Reform wohl weder mit der Union noch mit der FDP zu machen.
- Eigene Recherche
- Telefonate mit Jens Südekum und Sebastian Dullien