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Stechuhr-Urteil: Arbeitszeiterfassung für alle? Gott sei Dank!


Interview
Was ist ein Pro & Kontra?

Die subjektive Sicht zweier Autoren auf ein Thema. Niemand muss diese Meinungen übernehmen, aber sie können zum Nachdenken anregen.

Wegweisendes Urteil
Zurück zur Stechuhr – Gott sei Dank!


Aktualisiert am 14.09.2022Lesedauer: 3 Min.
Digitale Arbeitszeiterfassung (Symbolbild): So könnte der erste Schritt ins Büro für Millionen Arbeitnehmer bald aussehen.Vergrößern des Bildes
Digitale Arbeitszeiterfassung (Symbolbild): So könnte der erste Schritt ins Büro für Millionen Arbeitnehmer bald aussehen. (Quelle: Sina Schuldt)
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Vollkommen antiquiert oder bitter notwendig? Unsere Autorinnen streiten über das Gerichtsurteil zur Arbeitszeiterfassung.

In Deutschland besteht eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung – das hat das Bundesarbeitsgericht am Dienstag festgestellt. Die Ampelregierung muss nach Einschätzung von Experten jetzt zügig ein Gesetz auf den Weg bringen, das die Erfassung der gearbeiteten Stunden regelt. Betroffen davon wären dann alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. Doch passt die Stechuhr für alle überhaupt in die heutige Zeit?

Ja, zurück zur Stechuhr – Gott sei Dank!

Das Pro von Annika Leister

Mittagessen am Rechner, nach Feierabend noch "rasch" zehn E-Mails beantworten, früher starten, um das Tagespensum überhaupt zu schaffen – und das alles natürlich unbezahlt: So sieht die Realität für viele Arbeitnehmer in deutschen Unternehmen aus.

Das Gerichtsurteil zur Arbeitszeiterfassung könnte damit jetzt Schluss machen. Das ist nicht weniger als fair – und bitter nötig.

Wurde die Stechuhr im 19. Jahrhundert in Amtsstuben und Fabriken eingeführt, um Arbeitnehmer zur Pünktlichkeit zu gängeln und normale Arbeitszeiten zu erfassen, hätte sie heute eine ganz andere Funktion: als Schutz-Instrument, mit dem endlich wirklich festgehalten würde, wie viel jeder über das eigentliche Pensum hinaus arbeitet.

Umsonst-Arbeiten ist in Deutschland weit verbreitet. Drei Überstunden pro Woche leisteten Arbeitnehmer im Schnitt über alle Branchen, heißt es im Arbeitszeitmonitor der Vergütungsspezialisten von Gehalt.de für das Pandemiejahr 2021. Rechnet man das auf ein gesamtes Berufsleben hoch, entspricht das dreieinhalb geschenkten Jahren.

Die meiste Mehrarbeit sei davon unbezahlt, hält die Studie fest – und nur ein Drittel der Beschäftigten habe überhaupt Anspruch auf einen Überstundenausgleich. Experten sehen als Grund nicht etwa langsame oder unfähige Arbeitnehmer, sondern unrealistische Ansprüche der Chefetagen.

Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen. Denn gerade jene, die in ihrem Job besonders gut sein wollen oder ihn besonders lieben, erfassen Überstunden oft überhaupt nicht. In manchen Branchen – zum Beispiel bei Start-ups und im Digitalbereich – ist diese als Engagement geforderte Form der Ausbeutung fester Bestandteil der Unternehmenskultur.

Das hat fatale gesamtwirtschaftliche Folgen: Die Zahl der Burnout-Betroffenen steigt. 2020 fielen laut AOK rund 180.000 Beschäftigte wegen Überlastung aus und generierten so 4,5 Millionen Krankheitstage.

Die Erfassung der Arbeitszeit kann bei diesem Problem nur hilfreich sein. Nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Arbeitgeber und der FDP-Finanzminister sollten nach dem Urteil deswegen erleichtert seufzen: Zurück zur Stechuhr – Gott sei Dank!

Nein, das Urteil geht an der Realität vorbei

Das Kontra von Miriam Hollstein

Mit 17 hatte ich einen Ferienjob am Fließband eines großen Kosmetikunternehmens. In Erinnerung geblieben ist mir, wie sich gegen Ende der Schicht immer alle am Ausgang versammelten und warteten, dass die Zeit verstrich, um ihre Karte stechen zu können. Es war meine erste Erfahrung mit der Sinnlosigkeit einer Stechuhr.

Die Erfassung der Arbeitszeit soll eigentlich schützen. Den Arbeitnehmer davor, dass der Arbeitgeber ihn permanent unbezahlt Überstunden machen lässt. Und den Arbeitgeber davor, dass seine Angestellten weniger arbeiten als vertraglich vereinbart. So weit, so sinnvoll.

Nur funktioniert das in der Praxis einfach nicht. Eine Stechuhr erfasst nur die Arbeitszeit, nicht die Qualität der Arbeit, nicht die Intensität. Sie mag ein Schutz sein gegen eine zeitliche Ausdehnung. Aber sie hilft nicht gegen moralische und psychische Ausbeutung.

Umgekehrt gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die Zeiterfassung zu unterlaufen. Das Bild vom unkündbaren Beamten, der zwar täglich acht Stunden im Büro sitzt, einen Großteil davon aber mit Moorhuhnschießen verbringt, ist ein Klischee. Aber es bringt das Problem auf den Punkt.

Hinzu kommt, dass die Zeiterfassung quasi selbst "aus der Zeit" gefallen ist. Wir leben in einer sich individualisierenden Welt. Der Trend geht zur Flexibilisierung; passgenaue Arbeitsmodelle lösen starre Pauschalvorgaben für alle ab. So bieten immer mehr Unternehmen Arbeitszeitkonten an: In Lebensphasen, in denen man durch Kindererziehung oder die Pflege älterer Angehöriger privat sehr beansprucht ist, kann man weniger arbeiten. In anderen Phasen arbeitet man dafür mehr.

Damit es bei der Arbeit gut läuft, ist wechselseitiges Vertrauen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nötig. Voraussetzung dafür sind klare Strukturen, nicht die Zwangseinführung überalteter Instrumente. In Zeiten des wachsenden Fachkräftemangels werden es sich Arbeitgeber künftig ohnehin immer weniger leisten können, Mitarbeiter gegen ihren Willen zu Überstunden zu zwingen. Und wer sich bei der Arbeit wohlfühlt, wird auch wenig versucht sein, seinen Arbeitgeber um die abgesprochene Arbeitsleistung zu betrügen.

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