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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Reservebetrieb für AKW "Die Regierung verfälscht die Ergebnisse des Stresstests"
Robert Habecks Minimalvorschlag für den Weiterbetrieb der AKW spaltet das Land. Experten erklären, was seine Idee für die Energiesicherheit hieße.
Reserve statt Streckbetrieb: Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will zwei der drei derzeit noch laufenden deutschen Atommeiler in den Winterschlaf schicken. Der dritte soll ganz vom Netz gehen.
Ein Kompromiss, der weder Atombefürworter aus der FDP noch Verfechter des Ausstiegs bei den Grünen befrieden konnte. Der Streit schwelt weiter und droht zur ideologischen Zerreißprobe der Ampelregierung zu werden. Ein Brandbrief von einem der AKW-Betreiber lässt nun Zweifel an dem Plan entstehen.
Doch was bedeutet der Habeck-Plan nüchtern betrachtet eigentlich für die Energieversorgung in Deutschland? t-online beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was ist das Ergebnis des Stresstests?
Der Stresstest kommt zu dem Ergebnis, "dass stundenweise krisenhafte Situationen im Stromsystem im Winter 22/23 zwar sehr unwahrscheinlich sind, aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden können". Das schreiben die vier deutschen Netzbetreiber – 50Hertz, Amprion, TenneT und TransnetBW.
Sie hatten von Mitte Juli bis Anfang September im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums die Berechnungen durchgeführt. Angesichts der drohenden Energieengpässe lautet ihre klare Empfehlung deshalb: Alle drei Atomkraftwerke sollten im sogenannte Streckbetrieb weiterlaufen, also die aktuellen Brennstäbe weiternutzen.
Wirtschaftsminister Habeck hat sich über diese Empfehlung nun hinweg gesetzt. Er will, dass lediglich zwei der Anlagen, Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg, eine sogenannte "Einsatzreserve" bilden. Neue Brennstäbe sollen dafür nicht verwendet werden.
Die beiden Kraftwerke sollen bis Mitte April 2023 zur Verfügung stehen. Danach soll auch für sie Schluss sein. Für den Winter 2023/24 hält das Ministerium eine solche Einsatzreserve in keinem Fall mehr für nötig – womit er ebenfalls deutlich vom Credo der Netzbetreiber abweicht.
Netzbetreiber reagieren schmallippig auf Habecks Plan
Diese verweisen auf t-online-Anfrage einstimmig auf ihre Schlussfolgerungen im Stresstest. Der Weiterbetrieb aller drei Atomkraftwerke hätte zur Entlastung der Netze beitragen können.
Von TransnetBW und 50hertz heißt es diplomatisch-distanziert, man nehme die Entscheidung der Politik zur Kenntnis. Tennet wünscht sich darüber hinaus, dass eine Entscheidung über den weiteren Betrieb 2023 "nicht erst im Dezember getroffen wird, damit wir als Netzbetreiber besser planen können".
Der Betreiber des Atomkraftwerks Isar 2 hingegen hält sich mit seiner Kritik nicht zurück. In einem Brandbrief an den Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Patrick Graichen, macht der Preussen Elektra-Chef Guido Knott, seinem Ärger Luft. Der Vorschlag "zwei der drei laufenden Anlagen zum Jahreswechsel in die Kaltreserve zu schicken, um sie bei Bedarf hochzufahren, ist technisch nicht machbar und daher ungeeignet, um den Versorgungsbeitrag der Anlagen abzusichern". Zuerst berichtete der "Spiegel".
Dabei besonders pikant: Im Schreiben heißt es, man habe Habeck bereits am 25. August – und damit deutlich vor seinem Vorschlag – über entsprechende Risiken informiert. Etwa darüber, dass im Streckbetrieb "ein flexibles Anheben oder Drosseln der Leistung nicht mehr möglich ist". Habeck selbst hingegen äußerte am Mittwoch Verwunderung über den Brief. Der Betreiber habe seinen Vorschlag einer Reserve wohl missverstanden. (Mehr zum Brandbrief und Habecks Reaktion lesen Sie hier.)
Der Betreiber von Neckarwestheim, EnBW, gibt sich auf t-online-Anfrage zurückhaltend. Man befinde sich in der Klärung der konkreten Details mit dem Ministerium. "Erst danach können wir die technische und organisatorische Machbarkeit des aktuell diskutierten Vorschlags bewerten", teilt ein Unternehmens-Sprecher mit.
Unter Experten fallen die Urteile über Habecks Vorschlag sehr unterschiedlich aus. "Ich finde Habecks Lösung schlüssig", sagt Volker Quaschning, Professor für regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin, im Gespräch mit t-online.
Die Technikhistorikerin und Atomkraftverfechterin Anna Veronika Wendland hingegen kann dem nur wenig abgewinnen. "Die Regierung verfälscht die Ergebnisse des Stresstests. Immerhin wurde darin vom Streckbetrieb von allen drei Kernkraftwerken ausgegangen. Das ist etwas anderes als zwei Kraftwerke in Reserve zu haben, die gar keinen Strom produzieren", sagt sie.
Wie sicher ist die Energieversorgung in Deutschland?
Das hängt davon ab, wie sich die Nachfrage nach Energie und die Verfügbarkeit anderer Energiequellen entwickelt. Konkret: Wie kalt wird der Winter und damit der Heizbedarf der Deutschen? Wie viel Strom kann Frankreich alleine produzieren? Fließt wieder Gas aus Russland nach Deutschland?
Beantworten kann diese Fragen derzeit niemand. Fakt ist deshalb zunächst, was Habeck plant: Die drei verbliebenen Atomkraftwerke sollen bis Ende des Jahres weiterlaufen. Danach sollen zwei davon als Reserve bereitstehen und bestenfalls nicht benötigt werden.
Damit rechnet derzeit Experte Quaschning, der als Kritiker der Kernkraft gilt. "Ich gehe davon aus, dass wir die Reserve nicht brauchen", sagt er. Behält er Recht, wäre Ende des Jahres de facto das Ende für die deutsche Atomkraft. "Der Atomausstieg kommt spätestens nach Ostern. Dass die Kraftwerke nach dem 31. Dezember überhaupt noch einmal hochgefahren werden müssen, ist eher unwahrscheinlich."
Möglich ist aber auch, dass sich bereits im Dezember abzeichnet, womit hinter vorgehaltener Hand in der Hauptstadt mancher rechnet: nämlich, dass der Energiebedarf so hoch ist, dass jede Kilowattstunde zählt – und Deutschland auf die Kernkraft gar nicht verzichten kann.
"Deutschland ist nicht isoliert"
Selbst Atomgegner Quaschnig muss eingestehen: "Im schlimmsten Fall könnten im Winter Versorgungsengpässe entstehen. Vor allem wenn viele Atomkraftwerke in Frankreich ausfallen und viele Menschen Heizlüfter verwenden, könnte es auch in Deutschland eng werden." Denn dann könnte es zu einer Überlastung der Netze kommen, weil zu wenig Strom zur Verfügung steht.
Die deutschen Atomkraftwerke könnten dabei – seiner Ansicht nach – aber nur wenig ausrichten: "Zu einem Blackout kann es so oder so kommen. In den meisten Fällen wäre es ziemlich irrelevant, ob Kernkraftwerke noch am Netz sind oder nicht." Die drei Kraftwerke machten nur einen geringen Anteil der deutschen Stromproduktion aus, und könnten kaum etwas ausrichten.
Umso wichtiger wird deshalb der Blick nach Frankreich, wie auch Mycle Schneider, betont. Er ist unabhängiger Energie- und Atompolitik-Analyst und sagt im Gespräch mit t-online: "Deutschland ist nicht isoliert."
Konkret meint er damit: In Frankreich macht Atomkraft einen viel größeren Anteil am Strommix aus. Das Problem: Derzeit ist fast die Hälfte der französischen Atomkraftwerke vom Netz genommen. (Lesen Sie hier, woran das liegt.) Zusicherungen, dass sich das bis zum Winter ändert, würden am Markt kritisch gesehen, so Schneider.
Welche Rolle spielt Atomkraft in diesem Winter?
Hoffentlich eine kleine – so jedenfalls lässt sich Habecks Plan interpretieren. Denn im Reservebetrieb kämen die Kraftwerke nur im äußersten Notfall zum Tragen. Zuvor sollen alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, auch die fossilen Energieträger wie Kohle und Gas.
Die Krux dabei, die Habeck auf Nachfrage eher beiseite schob: Atomkraftwerke können nicht einfach ein- und abgeschaltet werden. "Wenn ein Kernkraftwerk nach einer kompletten Abschaltung wieder hochgefahren wird, braucht das inklusiver aller Tests etwa 60 Stunden, bei Wiederholung, wenn man nicht jede Anfahrprüfung nochmal machen muss, ca. 30 Stunden", erläutert Atom-Befürworterin Wendland. Im Klartext: Nur wenn sich ein Versorgungsengpass frühzeitig abzeichnet, können die Kraftwerke wieder ans Netz genommen werden.
Dabei eignen sich Kernkraftwerke vor allem, um die Grundlast zu erhöhen, da sie auf konstantem Niveau Strom produzieren können. "Kernkraft vereint vor allem zwei Dinge: CO2-Armut und gesicherte Leistung", sagt Wendland.
Quaschning ist skeptisch, inwiefern das aktuell helfen kann. "Die Kernkraftwerke haben nur einen überschaubaren Nutzen, wenn es darum geht, Gas einzusparen", sagt er. "Der Stresstest hat gezeigt, dass durch den Streckbetrieb lediglich 0,9 Terrawattstunden der Gaskraftwerke ersetzt werden könnten, das entspricht gerade einmal 0,2 Prozent des Gasverbrauchs."
Wendland stimmt dem zu: Gas einzusparen, könne aber nur eines von mehreren Zielen sein. "Um Versorgungssicherheit zu gewährleisten, brauchen wir jede Kilowattstunde", sagt sie. "Vor allem wenn die Gaspreise steigen, der Strompreis aber gedeckelt werden soll, könnte es kritisch werden."
Können die Atomkraftwerke die Strompreise senken?
Nein – zumindest nicht, wenn der Plan von Robert Habeck umgesetzt wird. Zu diesem Schluss jedenfalls kommt Felix Matthes, der als Forschungskoordinator im Bereich Energie- und Klimaschutz am privaten Öko-Institut arbeitet, das aus der Anti-Atom-Bewegung hervorging.
Die Pläne der Bundesregierung könnten nur wenig Einfluss auf die Strompreise haben, schreibt er auf Twitter. Lediglich um 0,5 bis 0,8 Prozent würden die Preise seinen Berechnungen nach fallen. Das sei "nicht signifikant", schreibt der Umweltökonom.
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Atomkraft-Befürworterin Anna Veronika Wendland wundert das Ergebnis seiner Berechnungen wenig. "Habecks Maßnahme kann gar keinen großen Einfluss auf den Strompreis haben", sagt sie.
Doch zieht sie daraus andere Schlüsse. Die Strompreise hätten, wenn überhaupt, nur durch einen längerfristigen Weiterbetrieb der Kraftwerke gesenkt werden können. Aber auch dann richtet sich der Strompreis nach den Kosten im teuersten Kraftwerk am Netz, das ist zumeist ein Gaskraftwerk, dass die Spitzenlast abfängt. Mehr zur Bildung der Strompreise lesen Sie hier.
Der Vorschlag von Habeck hingegen senke die Preise für die Verbraucher nicht und führe stattdessen zu Mehrbelastungen bei den Betreiberfirmen. "Für die Betreiber entstehen sogar Kosten. Denn eine Anlage betriebsbereit zu halten braucht Energie", so Wendland. "Wenn die Anlage kalt-unterkritisch im Nachkühlbetrieb bereitsteht, bezieht sie etwa 10 Megawatt Eigenbedarf aus dem Netz. Bei den aktuellen Strompreisen addiert sich das zu fast einer viertel Million Euro pro Tag."
Das Ministerium nennt die Kosten für das Vorhalten von Personal und Technik "überschaubar", ohne eine genaue Summe zu nennen. Diese Kosten sollen den Betreibern vom Staat erstattet werden. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sollen damit nicht belastet werden.
Wie geht es jetzt mit Habecks Vorschlag weiter?
Habecks Idee sorgte binnen eines Tages für eine hitzige Debatte. In dem Streit schmissen sich Politiker auch ideologische Grundpositionen um die Ohren, die an den Kern der Atomstromfrage gehen. Dabei ist noch nichts entschieden. Nicht nur muss das Kabinett sich erst einig werden. Durch den Bundestag muss der Vorstoß auch noch.
Doch selbst das würde den Plan noch nicht in die Tat umsetzten. Mycle Schneider erklärt im Gespräch mit t-online, der technische Umgang bei diesem Vorhaben sei nicht geklärt. "Wir sind weit von einer Umsetzung entfernt", sagt der Experte. Es gebe keine Protokolle für die Reservevorhaltung eines Kernkraftwerks.
Die Betreiber hätten zehn Jahre Zeit gehabt, sich anders auf die Abschaltung vorzubereiten, "von Personal bis Ersatzteile, von Inspektionen über Revisionen". Außerdem stellten sich zahlreiche juristische Fragen.
Worum dreht sich der politische Streit?
Streit ist trotzdem schon entbrannt. Manch einer wirft Habeck vor, die Notwendigkeiten der Gegenwart mit den Interessen einiger weniger Fundamentalisten seiner eigenen Partei aufzurechnen. "Habeck hat keine Hemmungen, andere fossile Energieträger zu benutzen. Er knickt gegenüber einer kleinen grünen Minderheit ein und schrottet damit die Klimaziele", sagt etwa Anna Wendland gegenüber t-online.
In diese Kerbe schlägt auch die Opposition. Der Wirtschaftsminister habe um sich herum "eine Gruppe von harten, grünen Ideologen, die – koste es, was es wolle – aus den fossilen Energien und aus der Atomenergie aussteigen wollen", sagte Friedrich Merz (CDU) im Deutschlandfunk. "Völlig absurd" sei es, in der aktuellen Situation überhaupt daran zu denken, Stromerzeugungskapazitäten stillzulegen.
Die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast, reagierte empört auf diesen "populistischen Krawallkurs" von Merz. "Es gibt eine historische Konstante in diesem Land: Die Union lag bei der Energiepolitik durchweg falsch", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Die Grünen fordern mehr Demut von der Union. Schließlich sei sie es gewesen, die Deutschland in diese "missliche Lage" manövriert hätte.
"Habeck muss sich gegen die Ideologie durchsetzen"
Eine Einschätzung, die auch Volker Quaschning teilt. Um die Sache ginge es den Oppositionsparteien nicht. Lediglich wolle man von den "eigenen gravierenden energiepolitische Fehlern ablenken und den Grünen ein paar Stimmen abjagen", wie er t-online sagte.
Doch selbst innerhalb der Koalition kann man mit Kritik nicht an sich halten. Sie kommt aus den Reihen der FDP: "Habeck muss sich gegen die Ideologen in seiner Partei durchsetzen und den Weiterbetrieb aller drei Anlagen ermöglichen", twitterte etwa Fraktionsvize Konstatin Kuhle. Die freien Demokraten argumentieren mit volkswirtschaftlichen Gewissheiten: Mehr Atomkraft heißt mehr Strom auf dem Markt. Mehr Angebot also – und günstigere Preise.
Vor der Generaldebatte im Bundestag legte der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Johannes Vogel, nochmal nach. In der derzeitigen Lage, mit Versorgungsproblemen und viel zu hohen Strompreisen, ergebe es "keinen Sinn, sichere und klimaneutrale Kraftwerke vom Netz zu nehmen". Man werde das ausdiskutieren müssen.
Der Koalitionspartner fordert auch, neue Brennstäbe anzuschaffen. Am Atomausstieg soll Habecks Idee aber nicht rütteln, das machte der Minister deutlich. Selbst wenn der Vorschlag in seiner jetzigen Form kommt, wird nach April 2023 in Deutschland keine Kernspaltung zur Energiegewinnung mehr stattfinden. Der Kanzler höchstpersönlich bestätigte das im Interview mit der FAZ: "Grundsätzlich bleibt es beim Ausstieg aus der Atomenergie."
- Gespräch mit Anna Viktoria Wendland
- Gespräch mit Volker Quaschning
- Schriftliches Stellungnahme von Mycle Schneider
- Schriftliche Stellungnahme von transnetbw
- Schriftliche Stellungnahme von tennet
- Schriftliche Stellungnahme von Amprion
- Schriftliche Stellungnahme von 50hertz
- Schriftliche Stellungnahme von EnBW
- Tweet von Felix Matthes
- spiegel.de: "AKW-Betreiber hält Reservebetrieb für "technisch nicht machbar"
- Bundeswirtschaftsministerium: "FAQ Liste Zweiter Stresstest und Maßnahmen zur Sicherung der Stromnetz-Stabilität im Winter 22/23"
- phoenix.de: "Bundestag live"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP