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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Assistierter Suizid Wenn Kinder den Eltern beim Sterben helfen
Seit das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe 2020 gekippt hat, steigt die Zahl der assistierten Suizide. Was bedeutet es für Kinder, wenn sie ihren Eltern beim Sterben helfen? Ein Berliner berichtet.
Der Tag, an dem Mark Rackles die 110 wählt, um der Polizei den Doppelsuizid seiner Eltern zu melden, ist ein Montag. Es ist 19 Uhr. Rettungssanitäter stürmen die Treppe zur 4. Etage eines Mehrfamilienhauses in Heidelberg hoch, die Feuerwehr und die Kripo im Schlepptau. Rolf Rackles, 90, und Cynthia Rackles, 85, liegen tot in ihrem Bett. Mitarbeiter eines Sterbehilfevereins hatten ihnen tödliche Medikamente mitgebracht. Die Polizei stellt Mark Rackles Fragen. Ist das Schlafzimmer zum Tatort geworden?
Wenn Rackles erzählt, was an diesem Tag passiert ist, läuft ein Film ab. Er beginnt wie ein Krimi, aber daneben erzählt er noch eine andere Geschichte. Es geht um den Abschied der Eltern und darum, was es mit Kindern macht, wenn sie Eltern unterstützen, die nicht mehr leben wollen. Rolf und Cynthia waren nicht todkrank; anders als die meisten Menschen, die die Dienste von Sterbehilfevereinen in Anspruch nehmen. Sie waren blind und gebrechlich geworden – multimorbide, so heißt das im Fachjargon.
Darf man gehen, wenn man nicht mehr leben mag?
"The party is over", so hat es Rackles Mutter Cynthia formuliert, eine gebürtige Amerikanerin. Darf man einfach gehen, wenn man nicht mehr mag? Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe 2020 gekippt. Es hat entschieden, dass das Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Jetzt ist die Politik an der Reihe. Sie muss ein neues Gesetz erlassen. Sollte sie assistierte Suizide wie den von Rolf und Cynthia Rackles legalisieren?
Mark Rackles ist dafür. Er will das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Darum ist er gekommen, um über den Tod der Eltern zu reden. In Berlin kennen ihn viele aus der Politik. Der SPD-Mann war acht Jahre lange Staatssekretär der ehemaligen Bildungssenatorin Sandra Scheeres, dann versetzte ihn seine Chefin 2019 in den einstweiligen Ruhestand. Heute ist er selbstständig. Mit seiner Consulting-Firma berät er Unternehmen und Verwaltungen mit dem Schwerpunkt Bildung. Ein junggebliebener Fünfziger, der leise und reflektiert redet.
Warten auf den "D-Day"
Es ist jetzt fast ein Jahr her, dass die Kripo die Wohnung seiner Eltern abriegelte und die Ermittlungen wegen möglicher Beihilfe zum Suizid drei Tage später einstellte. Der 5. Juli 2021 war ihr Todestag. Vom "D-Day" sprachen Eltern und Kinder. Die vier Enkelkinder, alle im Teenager-Alter, weihten sie nicht in die Pläne ein. "Wir wollten sie nicht belasten", sagt Rackles. Ende Mai waren diese Pläne sehr konkret geworden. Am 90. Geburtstag des Vaters legten sie den Sterbetermin fest. Rackles formuliert es so: "Die Uhr begann zu laufen."
Einen geliebten Menschen zu verlieren, ist schon hart genug, wenn er eines natürlichen Todes stirbt, ohne Vorwarnung. Aber wie ist das, wenn ein Countdown läuft? Wenn es die Kinder selbst waren, die ihren Eltern geholfen haben, die Uhr zu stellen?
"Ich musste weg"
Rackles sagt, er habe begonnen, Tagebuch zu führen, weil seine Gedanken immer nur um das eine Thema gekreist seien. "Ich musste weg." Er fuhr mit seinem 14-jährigen Sohn für ein paar Tage nach Venedig, um Abstand zu bekommen. Aber auch dort holten ihn die Gedanken an den nahenden Tod der Eltern wieder ein. Er murmelt etwas von einem Albtraum.
Er sitzt vor einem Kaffee auf einer Restaurantterrasse im Grünen. Vögel zwitschern. Ein schöner Tag im Mai. Der 90. Geburtstag des Vaters ist ziemlich genau ein Jahr her. Wieder ein Tag, an dem ihn die Erinnerungen einholen. Rackles holt tief Luft. Dann zückt er sein Handy, um ein Foto seiner Eltern zu zeigen. Es entstand am 5. Juli, wenige Minuten bevor er und seine Schwestern sich für immer von ihnen verabschiedeten. Die beiden sitzen zusammen auf dem Sofa. Seine Mutter hat ihre Hand auf die Hand des Vaters gelegt. Traurig und erschöpft sehen sie aus.
Eine typische Nachkriegsfamilie
Rackles sagt, sie seien perfekt aufeinander eingespielt gewesen: er, der Vater und Alleinverdiener, der immer erst spät am Abend von der Arbeit als Abteilungsleiter bei BASF nach Hause kam. Sie, die gelernte Krankenschwester, die den Haushalt führte und sich um die Kinder kümmerte. Eine typische Nachkriegsfamilie. Rackles sagt, er erinnere sich gern an seine Kindheit zurück. Die Mutter habe ein strenges Regiment geführt. "Aber sie war immer für uns da, wenn wir Kummer hatten."
Den Vater lernte er erst als Erwachsener richtig kennen. Als Rolf Rackles in Rente ging, bauten sich die Eltern ein Haus in den Vogesen um, mit Sauna und Schwimmbad. Rackles sagt: "Dort ist er richtig aufgetaut." Das Haus wurde zum Rückzugsort für die ganze Familie. Dort entstand das Foto für die Abschiedskarte, die Cynthia Rackles Freunden und Bekannten vor ihrem Tod schickte. Es zeigt die Eltern von hinten, wie sie einen geschwungenen Weg entlanggehen. Die Mutter hat sich beim Vater untergehakt. Den Horizont hat eine Künstlerin blau koloriert. Es sieht aus, als gingen sie ans Meer.
Angst vor dem Pflegeheim
Das Foto muss schon etwas älter gewesen sein. Außerhalb der Wohnung brauchten die Eltern zuletzt einen Rollator. Mit 85 hatte der Vater eine Hirnblutung erlitten. Seine Welt, sie hört jetzt an der Wohnungstür auf. Er sah jetzt so schlecht, dass er nicht mehr lesen konnte. Rackles sagt: "Meine Mutter hat Krimis mit harten Kontrasten für ihn ausgesucht, damit er zumindest erkennen konnte, wenn jemand auf dem Bildschirm umfiel."
Sie war jetzt Pflegerin ihres eigenen Mannes. Dann verschleppte sie eine Gürtelrose. Chronische Schmerzen in der Schulter blieben zurück und ein Schwindelgefühl. In der Wohnung brauchte sie einen Stock. Auch sie konnte jetzt kaum noch sehen. Die Folge einer Ablösung der Netzhaut. Keine leichte Situation. Denn noch immer fühlte sie sich für den Vater verantwortlich. Ins Pflegeheim habe sie nicht gewollt, sagt der Sohn. Auch die Vorstellung, Pfleger in ihre Wohnung zu lassen, habe ihr Angst gemacht.
Ohne seine Frau wollte der Vater nicht sein
Rackles steckt das Handy wieder in die Tasche. Haben er und seine Geschwister nie versucht, die Eltern von ihren Plänen abzuhalten? Er lächelt gequält. "Sie kennen meine Mutter schlecht." Ein Berliner Arzt, der vor zwei Jahren Einzelgespräche mit Rolf und Cynthia Rackles führte, kam zu dem Schluss, dass der Sterbewille bei der Mutter ausgeprägter war als beim Vater. Und dass sie vielleicht an einer Altersdepression leide. Rackles erinnert sich noch gut, wie seine Mutter damals zu seinem Vater sagte: "Wenn Du nicht mitkommst, gehe ich eben alleine." Die Geschwister hätten den Vater auch zu sich nach Hause geholt. Aber ohne sie wollte er nicht sein.
Der Tod, er war da schon das wichtigste Gesprächsthema der Familie geworden. Rackles sagt, in Gedanken hätten seine Eltern alle möglichen Tötungsarten durchdekliniert. Sich vor den Zug werfen? "Undenkbar. Stellen Sie sich vor, es geht schief. Sie werfen sich vor den Zug und verlieren beide Beine, und dann ist der arme Zugführer auch noch betroffen." Auch Erhängen oder eine Vergiftung durch Kohlenmonoxid seien nicht infrage gekommen. "Was immer wieder vorkam, war der Gedanke, in den Neckar zu springen, mit Steinen an den Füßen."
Die Zweiklassengesellschaft beim Sterben
Rackles schweigt. Er sagt, er könne manchmal gar nicht glauben, was dann geschah. Er erkundigte sich über Wege der Sterbehilfe in der Schweiz. Bis zu 40.000 Euro sollte der Tod dort kosten. Viel zu teuer, befand Rackles. "Es kann nicht sein, dass man nicht sterben darf, weil man kein Geld hat." Finanziell hätten seine Eltern sich das leisten können. Aber noch aus einem anderen Grund kam die Schweiz nicht infrage. "Die nehmen nur Schmerzpatienten."
In Hamburg fand er einen Sterbehilfeverein, der dieselbe Dienstleistung zum halben Preis anbietet. Für durchschnittliche Rentner ist das immer noch unbezahlbar. Rackles fordert, das Recht auf einen selbstbestimmten Tod dürfe nicht vom Einkommen abhängen. Natürlich müssten Ärzte in Gesprächen vorher prüfen, ob jemand diese Entscheidung bei vollem Bewusstsein getroffen habe.
Die Zahl der assistierten Suizide steigt
Das Verbot der Sterbehilfe hat das Bundesverfassungsgericht 2020 gekippt. Rackles hofft, dass die Politik dem niederländischen Beispiel folgt. Als erstes Land der Welt haben die Niederlande die Sterbehilfe 2002 legalisiert. Sie ist aber auch dort nur erlaubt, wenn jemand unter unerträglichen Schmerzen oder an einer unheilbaren Krankheit leidet. Rackles geht das nicht weit genug. Seine Eltern hatten Schmerzen, aber sie galten nicht als Schmerzpatienten. Er fragt: "Warum dürfen alte Menschen nicht selbst entscheiden, wann für sie der Punkt erreicht ist, an dem sie gehen?"
In Deutschland begehen jedes Jahr 10.000 Menschen Suizid. Forscher gehen davon aus, dass die Zahl der assistierten Suizide genauso hoch sein wird, wenn die Politik sie legalisieren würde. Wie viele es heute sind, darüber gibt es keine Statistik. Fakt ist aber, dass die Zahl gestiegen ist, nachdem das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe 2020 gekippt hat. Der Hamburger Verein "Sterbehilfe Deutschland" registrierte 2021 129 Suizidbeihilfen – nach 75 im Vorjahr.
Sterbehilfe auch für Gesunde?
Der Verein, 2010 vom ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch gegründet, ist umstritten. Schließlich wirbt er damit, dass unter den Verstorbenen auch Menschen ohne gravierende Krankheiten waren. Für gläubige Christen ein absolutes Tabu.
Die Eltern von Mark Rackles glaubten nicht an Gott. Sie waren schon vor Jahren aus der protestantischen Kirche ausgetreten. Auch sie waren dem Hamburger Verein beigetreten, um sich Hilfe beim Suizid zu holen. Der Sohn sagt: "Ist es würdiger zu sterben, wenn man mit Steinen an den Füßen in den Neckar springt?"
"Als ob irgendetwas unerledigt ist"
Rakles versichert, er sei mit sich im Reinen. "Am Ende haben meine Eltern diese Entscheidung getroffen." Doch ihre Tragweite spürt er erst jetzt. Er sagt, er sei wie in einem Tunnel gewesen. Er frage sich jetzt manchmal, wie er den Suizid der Eltern organisieren konnte, ohne an die Konsequenzen zu denken: "Es ist doch etwas anderes, ob Sie jemandem helfen, an einen Kurort zu kommen, oder am Ende liegen die Eltern tot im Bett."
Die Erinnerung an seine Eltern hole ihn immer dann ein, sagt Rackles, wenn er nicht damit rechne. "Der Schmerz ist viel intensiver, als ich es mir vorgestellt hätte. Es bleibt einfach irgendwas offen. Als ob irgendwas unerledigt ist, obwohl nichts unerledigt ist."
"Protest gegen das Sterben ist unerwünscht"
Der Psychiater Reinhard Lindner weiß genau, was Rackles meint. Lindner ist Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (Naspro). Er sagt, die Situation Hinterbliebener von Opfern assistierter Suizide sei eine völlig andere als die von Menschen, die Angehörige durch einen Suizid verloren haben. "Die Trauer ist viel komplizierter." Wer Angehörige beim Suizid unterstütze, wolle ja, dass sie kein schlechtes Gewissen haben müssen. "Protest gegen das Sterben ist nicht erwünscht."
Der Tod markiere dann aber einen Bruch. Die Hinterbliebenen seien plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen. Jetzt kämen Gefühle hoch, die sie vorher unterdrücken mussten. Wut oder auch Protest. Lindner sagt, viele Menschen seien mit dieser Situation überfordert. Sie litten an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie bräuchten dringend professionelle Hilfe.
"FAZ"-Serie über den Abschied von den Eltern
Mark Rackles sagt, er sei nie beim Therapeuten gewesen. Er und seine Schwestern hätten sich gegenseitig aufgefangen. Auch seine eigene Familie habe ihm geholfen. Seine beiden Töchter hätten ihm verziehen, dass sie in die Pläne für den Suizid der Großeltern nicht eingeweiht waren. Rackles und seine Schwestern haben den Tod der Eltern öffentlich gemacht. In einer mehrteiligen Serie hat die "FAZ" über den langen Abschied von ihnen berichtet. Kritik? Nein, Kritik sei keine gekommen, sagt er. "Nur ein Leser hat geschrieben: 'Schade, dass Ihre Eltern Jesus nicht kennengelernt haben.'"
Rackles bekommt jetzt viele Anfragen von Menschen, die Wege suchen, um aus dem Leben zu scheiden. Schon bei der Beerdigung seiner Eltern hatte ihn eine alte Dame gefragt, wie sie das gemacht hätten. Der Text der Doppel-Todesanzeige hatte sie hellhörig gemacht. "Wir nehmen Abschied von Rolf und Cynthia Rackles. In 60 Jahren Ehe führten sie ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben."
Hinweis: Hier finden Sie sofort und anonym Hilfe, falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen.
- Interview mit Mark Rackles
- Interview mit Reinhard Lindner