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Zum journalistischen Leitbild von t-online.100 Jahre KP "Das ist Chinas Schwachstelle"
Die Welt bewundert Chinas Aufstieg – und fürchtet ihn. Aber wie lange können die Kommunisten das Land noch autoritär beherrschen? Experte Klaus Mühlhahn erklärt, wo schwere Konflikte drohen.
t-online: Professor Mühlhahn, die Kommunistische Partei Chinas wird in diesen Tagen 100 Jahre alt. Die meiste Zeit hat sie das Land beherrscht. Werden die Kommunisten auch noch 2121 China dominieren?
Klaus Mühlhahn: Vorhersagen über China erweisen sich in der Regel als falsch. Schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurden etwa in den USA häufig das Scheitern und der Zerfall Chinas beschworen, aber die Realität sieht gegenwärtig anders aus.
Gleichwohl sind die aktuellen Herausforderungen für die Führung in Peking gewaltig, wie Sie in Ihrem neuen Buch beschreiben – in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht.
China ist mit gewaltigen Gegensätzen konfrontiert: Auf der einen Seite befindet sich eine leninistische Einparteienstruktur, der auf der anderen eine extrem diverse Gesellschaft gegenübersteht. Nehmen wir allein die stetig steigende Zahl von Milliardären in China. Diese Superreichen sind eine enorme Herausforderung für die Kommunistische Partei. Politische Reformen sind eigentlich unumgänglich, aber Ansätze dazu lassen sich derzeit nicht erkennen. Ich bin auch eher pessimistisch in dieser Hinsicht.
Viel Kommunismus scheint jedenfalls nicht mehr in der Partei zu stecken.
Von ihren Gründungsprinzipien hat sich die Kommunistische Partei sehr weit entfernt. Im Gegenteil, im Land herrscht heute eine riesige soziale Ungleichheit. In wenigen anderen Staaten der Erde sind Arbeitnehmerrechte so schwach ausgeprägt wie in China.
Andererseits hat die Kommunistische Partei sich zumindest teilweise wegen ihrer Wandlungsfähigkeit behaupten können: Während der frühere Parteiführer Deng Xiaoping die Demokratiebewegung 1989 blutig niederschlagen ließ, liberalisierte er das Land zugleich in wirtschaftlicher Hinsicht.
Die Partei ist fraglos lernfähig, bis auf einen Bereich allerdings: Die Kommunisten haben unglaubliche Angst davor, das politische System zu verändern. Sie fürchten, dadurch an Macht einzubüßen – und später den Zugang zu Geld und Privilegien zu verlieren.
Klaus Mühlhahn, Jahrgang 1963, ist Professor für Sinologie und zugleich Präsident der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Zuvor war er Vizepräsident der Freien Universität Berlin. Mühlhahn gilt als führender China-Experte, 2009 wurde der Forscher mit dem John-King-Fairbank-Price der American Historical Association ausgezeichnet. Kürzlich erschien Mühlhahns neuestes Buch "Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart" in der "Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung".
Eine hypothetische Frage: Wie würde Mao Zedong als Mitbegründer der Kommunistischen Partei 1921 und erster Staatspräsident der Volksrepublik über das gegenwärtige China urteilen?
Mao wäre mit dem heutigen China sehr unzufrieden. Das ist ziemlich sicher etwa angesichts der gerade beschriebenen sozialen Konflikte.
Wie ist Xi Jinping als derzeitiger starker Mann Chinas einzuschätzen?
Xi Jinping vertritt eine harte Linie. Im Westen wird oft unterschätzt, was 2012 geschehen ist, als er die Macht übernahm. Sein hartnäckigster Konkurrent Bo Xilai wurde damals unter anderem der Korruption angeklagt und verurteilt. Diesen Angriff auf ein Mitglied des Politbüros hatte es seit der Kulturrevolution während der Sechziger- und Siebzigerjahre unter Mao nicht mehr gegeben. Xi Jinping nahm damals an, dass Bo Xilai ihm überhaupt nur derart gefährlich werden konnte, weil er die Unterstützung reicher Unternehmer genossen hatte. Entsprechend verhält er sich heute.
Der schwerreiche Unternehmer Jack Ma hatte sich im letzten Jahr kritisch über die chinesische Wirtschaftspolitik geäußert.
Und ist bald darauf aus der Öffentlichkeit verschwunden. In China kann sich jedermann wirtschaftlich frei betätigen, aber politische Kritik ist tabu.
Entsprechend existiert ein engmaschiges Netz der Kontrolle seitens der Behörden.
Richtig. Der Staat greift in immer mehr Bereiche ein, die Überwachung ist dicht und die Zensur streng. Die Frage ist, wie lange dies funktionieren kann.
Dies ist nicht die einzige Entwicklung, für die China kritisiert wird. In der Provinz Xinjiang werden die Uiguren unterdrückt, Tibet und Hongkong sind weitere Konfliktregionen. In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass das 1911 untergegangene chinesische Kaiserreich einen ganz anderen Umgang mit Minderheiten angewandt hat.
Das Kaiserreich ist enorm erfolgreich gewesen in der Verwaltung eines multiethnischen Staates, der China immer gewesen ist. Viele Dutzend Völker lebten bis 1911 friedlich zusammen, auch weil es keinerlei religiöse Doktrin gab. Die Kaiser waren etwa tiefgläubige Anhänger des tibetischen Lamaismus. Der Friede endete erst mit dem Aufkommen des Nationalismus und der "Erfindung" des modernen China. Die Führung hat vergessen oder absichtlich verlernt, wie sie der Vielfalt Rechnung tragen und jedem Volk die gebührende Freiheit garantieren kann.
Heute hingegen setzt Peking auf Assimilation – zur Not auch mit Gewalt. Was im Westen mit großer Sorge beobachtet wird. Aber welches Ziel verfolgt China auf dem internationalen Parkett? Muss sich der Westen Sorgen machen?
Der Westen hat China lange Zeit unterschätzt. Auch weil man in Europa und den USA nicht wahrhaben wollte, dass uns ein Land aus Asien derart überflügeln könnte. Welche Ziele verfolgt Peking aber? China weiß selbst nicht, was es will. Die Regierung betont, dass sie einen friedlichen Aufstieg und eine harmonische Weltordnung anstrebt. Was aber soll Harmonie bedeuten? Und Konflikte gibt es jetzt schon, ohne dass der Klimawandel bereits seine vollen Auswirkungen zeitigt.
Stichwort Konflikte: Im 19. und 20. Jahrhundert wurde China durch die imperialistischen Mächte, darunter etwa Großbritannien und Deutschland, immer wieder gedemütigt. Wie spiegelt sich diese historische Erfahrung in der heutigen chinesischen Politik wider?
Sie spielt weiterhin eine große Rolle in der heutigen Zeit. Xi Jinping hat in seiner Rede zu den Feierlichkeiten anlässlich des 100. Geburtstages der Kommunistischen Partei eine Warnung ausgesprochen. Sinngemäß lautete sie: China wird sich nicht herumschubsen und keine Eingriffe in seine innere Souveränität gefallen lassen. Diese dauernde Beschäftigung mit der Schmach der Vergangenheit sorgt nicht nur für ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis, sondern auch für ein hohes Prestigeverlangen. Das nicht immer nur defensiver Natur ist.
Anzeichen dafür lassen sich im Südchinesischen Meer ausmachen, wo China Militärbasen auf künstlichen Inseln anlegt. Wie groß ist die Gefahr für die Nachbarstaaten?
Die Situation im Südchinesischen Meer macht mir große Sorgen, für Chinas Nachbarstaaten hat sich die Bedrohungslage in den letzten Jahren verschärft. In einem besonderen Maße gilt das für Taiwan, das Peking als abtrünnige Provinz betrachtet. In der schon erwähnten Rede hat Xi Jinping ja auch eine Warnung an die taiwanesische Regierung gerichtet. Das war keine leere Drohung.
Welches genaue Ziel verfolgt der chinesische Präsident mit diesen Drohungen?
Seit seinem Amtsantritt 2013 ringt Xi Jinping mit innerparteilichen Widersachern und einer Gesellschaft, in der die Partei die Kontrolle zu verlieren drohte. Deshalb heizt er außenpolitische Konflikte an. Mit seinem aggressiven Vorgehen will er Stärke demonstrieren, dadurch wird China unberechenbar.
Wie bewerten Sie die Rolle der USA? Sie scheinen das einzige Gegengewicht im Pazifik zu bilden.
Unter Donald Trump haben sich die USA zurückgezogen und damit überhaupt erst das Machtvakuum im Pazifikraum geschaffen.
Trumps Nachfolger Joe Biden hat jedoch deutliche rote Linien gezogen. Werden diese von China respektiert?
Peking ist sich sehr bewusst, dass die Sicherheitsversprechen Bidens an die Nachbarstaaten Chinas ernst zu nehmen sind. Es ist kaum vorstellbar, dass die USA ihre Zusagen an Taiwan unter dem derzeitigen US-Präsidenten nicht einhalten werden. Trump war hingegen ein unsicherer Kantonist.
In den Vereinigten Staaten wird von demokratischen und republikanischen Politikern diskutiert, ob Japan nuklear bewaffnet werden sollte. Was wären die Folgen für das Kräftegleichgewicht in der Region?
Es gäbe ein neues atomares Wettrüsten mit China. Doch es gibt einen großen Unterschied zum Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und dem Westen früher: Der damalige Ostblock konnte bei dem Wettrüsten nicht mithalten. Das wird bei China nicht der Fall sein, weil die Volksrepublik über weit größere Ressourcen verfügt.
Will man in Peking überhaupt ein Wettrüsten mit den USA?
Das ist schwer zu sagen. China ist unter Xi unberechenbar geworden. Vor seinem Machtantritt 2012 hätte die Volksrepublik dieses militärische Kräftemessen mit den Vereinigten Staaten nicht riskiert.
In der Nato und den G7-Staaten wird mittlerweile vor einem Szenario gewarnt: einem engen Bündnis zwischen China und Russland. Ist diese Befürchtung gerechtfertigt?
Es existieren zahlreiche Konflikte zwischen den beiden Ländern. So hat Russland beispielsweise seine Grenze in Sibirien gegenüber chinesischer Einwanderung abgeriegelt. Für China sind die Landstriche ein riesiger, ungenutzter Raum. Russland hingegen fürchtet die Einflussnahme Chinas und die Wirtschaftsmacht seines großen Nachbarstaates.
Also ist die stets beschworene Freundschaft zwischen Wladimir Putin und Xi nur Propaganda?
Ja. Historisch haben sich Russland und China immer misstraut. Ich sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass sich das ändert.
Was wäre andererseits für Europa eine richtige Strategie im Umgang mit China?
Es ist erstaunlich: Peking ist relativ isoliert in der Welt, die Volksrepublik ist umgeben von Staaten, zu denen sie keine sonderlich guten Beziehungen pflegt. Das ist Chinas Schwachstelle. Für Europa wäre es entsprechend die richtige Strategie, Koalitionen in der Region zu bilden. Um Chinas Politik entsprechend begegnen zu können.
Wie viel Vertrauen in der Welt hat China durch seinen Umgang mit der Corona-Krise verloren? Immerhin fand sie dort ihren Ursprung.
Groß ist das Problem mit dem Coronavirus erst geworden, weil die chinesischen Behörden die Verbreitung der Krankheit nicht ernst genommen haben und Ärzte mundtot gemacht worden sind. Das muss man sich bewusst machen.
Transparenz wäre nun geboten: Warum aber verweigert Peking diese weitgehend?
Mit der fehlenden Transparenz möchte man vor allem das Versagen zu Beginn der Pandemie unter den Teppich kehren: Die gegenwärtige Krise zeigt ziemlich genau die Defizite des chinesischen Einparteiensystems auf. Deshalb gibt es auch überhaupt kein Interesse, die Geschehnisse öffentlich aufzuarbeiten. Im Gegenteil: Es wird verdrängt, um die eigenen Interessen und Machtprivilegien zu schützen.
Das bringt auch globale Gefahren mit sich, so etwas wie die Corona-Pandemie könnte sich wiederholen. Ist China nun besser gewappnet?
Im Endeffekt war China damals besser vorbereitet als Europa später, die Pläne für einen derartigen Fall lagen in der Schublade. Als man das Problem politisch anerkannt hatte, wurden im Eiltempo ganze Städte abgeriegelt. Ehrlicherweise müssen wir eingestehen, dass auch in Europa die seit Langem erhobenen Warnungen von Wissenschaftlern vor einer Pandemie nicht ernst genug genommen worden sind. Nicht nur China muss lernen, sondern auch Europa. Denn ich bin sicher: So eine Pandemie wird wiederkommen.
Sprechen wir noch einmal über die offensichtlichen Widersprüche innerhalb Chinas: Kommunismus auf der einen Seite, Turbokapitalismus auf der anderen. Wie gehen chinesische Kommunisten damit um?
Die heutige Kommunistische Partei ist nicht so homogen, wie es scheinen mag. Es existieren beispielsweise linke Strömungen in der Partei, die die Ausbeutung der Arbeiter kritisieren. Und auch in der Gesellschaft gibt es viele Stimmen, die die aktuelle Entwicklung kritisch sehen.
Welchen Einfluss können diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen auf die tatsächliche Politik ausüben?
Wer in China offensiv Demokratie einfordert, wird sehr schnell weggesperrt. Gegen manche Gruppierungen ist die Regierung aber relativ machtlos. Die Familie genießt in China höchsten Stellenwert: So kann Peking gegen den Protest der sogenannten Tian'anmen-Mütter, die etwa ihre Kinder bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 verloren haben, wenig unternehmen. Oder auch gegen junge Frauen, die sich für ihre Rechte und den Schutz vor sexuellen Übergriffen einsetzen. So hat auch eine Diktatur ihre Grenzen.
Professor Mühlhahn, wir danken für das Gespräch.
- Gespräch mit Klaus Mühlhahn via Zoom