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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rotarmisten in Stalingrad "Knall den auch ab!"
Offiziell galten die Soldaten der Roten Armee als furchtlose Helden. In Interviews direkt an der Front erzählten die Soldaten auch über ihre Ängste. Und ihren Hass auf die Deutschen.
Wassili Saizew blickte ins Inferno. Genau wie Tausende seiner Kameraden, die im September 1942 am linken Ufer der Wolga aufmarschierten. Die Gewehre geschultert, die Bajonette aufgepflanzt, sahen die Rotarmisten die umkämpfte Stadt Stalingrad auf der anderen Seite des Flusses. Saizew erinnerte sich später an diesen Moment:
"Stalingrad brannte zu diesem Zeitpunkt. Von morgens bis sieben Uhr abends gab es Luftkämpfe zwischen unseren und gegnerischen Flugzeugen. Eins nach dem anderen stürzten Flugzeuge ab, gingen in Flammen auf, die ganze Stadt brannte. Wenn man von der Wolga her zur Stadt schaute, sah man hier einen Flammenherd, dort einen Flammenherd, dann verschmolz das alles und bildete eine riesige Feuersbrunst. Verwundete gingen oder krochen daher."
Kurz darauf wurde Saizew mit seinen Kameraden nach Stalingrad übergesetzt. Genau wie Tausende Rotarmisten zuvor und danach. Rund eine halbe Million sowjetischer Soldaten sind Schätzungen zufolge in der Schlacht von Stalingrad gefallen.
Die Kämpfe um Stalingrad tobten seit August 1942. Handstreichartig wollte die deutsche 6. Armee die nach dem sowjetischen Diktator benannte Stadt einnehmen. Stalin hatte hingegen dekretiert: "Die Stadt muss gehalten werden. Schluss!". In verzweifelten Kämpfen mussten die deutschen Soldaten daraufhin Haus um Haus des von Fliegerangriffen zerstörten Stalingrads einnehmen. Wassili Saizew sollte in diesem Kampf Heldenstatus erhalten: Als bester Scharfschütze der sowjetischen 62. Armee tötete er offiziell 242 Deutsche.
"Hier ist unser Land, wir halten es, wir halten stand."
Genau wie seine Kameraden war Saizew fest entschlossen, Stalingrad zu verteidigen. "Für die 62. Armee gibt es kein Land hinter der Wolga ", berichtete er dem sowjetischen Historiker Isaak Minz über die damalige Entschlossenheit der Rotarmisten. "Hier ist unser Land, wir halten es, wir halten stand."
Minz, Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, verfolgte im Zweiten Weltkrieg ein besonderes Vorhaben. Mit einem rund 40-köpfigen Team von Historikern, Stenografen, Bibliografen und Literaturwissenschaftlern wollte der Professor die Geschichte des Abwehrkrieges gegen die Deutschen an möglichst vielen Fronten für die Nachwelt dokumentieren. Wichtigstes Mittel dazu: Interviews mit Soldaten und Offizieren an der Front. In seinem Tagebuch hatte Minz dazu notiert:
"Heute dürfen wir keine Zeit verlieren. Die gegenwärtigen Ereignisse müssen festgehalten werden. Später wird die Menschheit fragen, wie all das geschehen ist. Ich schlage vor, eine Kommission zu bilden, die Material sammelt, auswertet, analysiert und eine Chronik des erhabenen Poems erstellt."
Im Dezember 1942 schickte Minz deswegen Mitarbeiter für einige Wochen nach Stalingrad, wo nach wie vor die Kämpfe tobten. Kurz zuvor hatten die Rotarmisten die deutsche 6. Armee erfolgreich einkesseln können. Nach dem siegreichen Ende der Schlacht im Februar 1943 kehrten die Forscher nochmals zurück. Die Soldaten an der Front begeisterten sich für die sorgfältig aufgezeichneten Gespräche mit den Forschern. Ein Rotarmist betonte, dass alle Frontkämpfer einen "Platz in der Geschichte verdient haben."
Im Gegensatz zur sowjetischen Kriegspropaganda, die nur Helden und Erfolge kannte, sollten sich Minz' Mitarbeiter ein objektives Bild vom Frontgeschehen machen. "Schwierigkeiten und Mängel nicht vertuschen. Die Wirklichkeit nicht schönfärben", lautete ihre Anweisung. Auf diese Weise entstanden mehr als 200 einzigartige Dokumente über das wirkliche Kampfgeschehen in Stalingrad, über Ängste und Hoffnungen der sowjetischen Soldaten, über Heldentaten und Versagen. Und dies vom gemeinen Soldaten bis hin zum Genera, alles ungeschminkt durch Eingriffe offizieller Stellen und späterer bewusster und unbewusster Erinnerungslücken. 2013 veröffentlichte der Historiker Jochen Hellbeck Teile davon in seinem Buch "Die Stalingrad-Protokolle".
"Offen gesagt, andere waren mutig – ich nicht"
Wie dem ehrlichen Eingeständnis des Unteroffiziers Alexander Parchomenko, der offen über seine Furcht sprach:
"Wir waren mit dem Krieg nicht vertraut, uns kam das alles ganz furchtbar vor. Wenn nachts die Luftwaffe flog, Leuchtraketen abgeschossen wurden und das Bombardement begann – ich hielt das kaum aus. Offen gesagt, andere waren mutig – ich nicht."
Wenig später bezeichnet sich der Soldat gar selbst als Feigling:
"Wir fuhren also im Panzerfahrzeug auf Erkundung, und ich dummer Kerl verlor aus Feigheit den Kopf. Ich war überhaupt ein Feigling, aber in dem Moment dachte ich das nicht. Unser Fahrzeug wurde von 15 Bombern im Sturzflug angegriffen. Ich dachte, wenn uns eine Bombe trifft, ist das mein Ende. Ich gab den Befehl anzuhalten und lief in eine Senke. Einer kam im Sturzflug runter und durchschoss mir die linke Hand und beide Beine."
Nicht zuletzt schildern die "Stalingrad-Protokolle" aber, warum der deutsche Angriff auf Stalingrad scheiterte. Aus Vaterlandsliebe, Hass gegen die deutschen Invasoren und Furcht vor Stalins Erschießungskommandos für zurückweichende "Verräter", griffen die Rotarmisten immer wieder die Wehrmacht an: "Wir kämpften bis zum Letzten", schilderte Oberleutnant Alexander Awerbuch, wie er und seine Männer einen deutschen Panzerangriff abwehrten. "Als die Munition alle war, wurden die Panzer mit Granaten zerstört. Die Männer schwanden dahin, wie man sagt. […] Doch da wir geschworen hatten, uns bis zum Letzten zu halten, mussten wir uns bis zum Letzten halten."
Sein Kamerad Hauptmann Nikolai Axjonow beschrieb die Stimmung unter den Soldaten: "Es ist interessant, dass man in Stalingrad spürte, wie jeder Soldat und jeder Kommandant darauf brannte, so viele Deutsche wie möglich umzubringen."
Stalingrad war ein Ort, an dem Menschen zerbrachen und Heldengeschichten entstanden. Berühmte, wie die des Scharfschützen Wassili Saizew und unbekannte, wie die der Krankenschwester Vera Gurowa, die die Verletzten pflegte, bisweilen Hunderte am Tag. Und immer wieder zum Objekt des Spotts ihrer männlichen Kameraden wurde:
"Meiner Meinung nach ist eine Frau in der Armee genauso nützlich wie ein Mann, natürlich mit Ausnahmen. […] Es kränkt mich sehr, wenn eine Frau mit Verachtung behandelt wird. […] Ich weiß, dass ich zur Armee gegangen bin, um meine Pflicht zu erfüllen."
Um Saizew und seine Schießkunst, die er in seiner Heimat im Ural erlernt hatte, entstand hingegen ein regelrechter Kult. Dem Historiker Minz erzählte Saizew nach Ende der Schlacht von Stalingrad, wie es dazu gekommen sein soll:
"Ich legte durchs Fenster an, feuerte, der Deutsche fiel. Es waren 80 Meter, ich hatte ihn mit einem einfachen Gewehr getroffen. Da erhob sich ein Sturm der Begeisterung, weil mich alle schon kannten, ich genoss große Autorität bei den Soldaten. Man lachte im Scherz über mich, war begeistert. Da sahen wir, dass ein zweiter dem ersten zu Hilfe kam. […] Man rief: 'Saizew, Saizew, da kommt noch einer, knall den auch ab!' Ich legte an, feuerte – der Deutsche fiel. Schon zwei in etwa 30 Minuten."
"Jetzt habe ich kranke Nerven, zittere ständig"
Saizew bildete fortan weitere Scharfschützen aus, die zunächst mit ihm und später allein auf die Jagd nach Deutschen gingen. Die Propaganda erhob Saizew zum strahlenden Helden, und half bei der Legendenbildung nach. Aus den 80 Metern Entfernung bei Saizews erstem Schuss als Scharfschützen wurden so beispielsweise gleich 800 Meter.
Die Wirklichkeit sah allerdings etwas anders aus. Saizew war keineswegs der strahlende Held vom Rekrutierungsplakat, wie er Minz gestand:
"Vor Stalingrad wurde ich dreimal verwundet. Jetzt habe ich kranke Nerven, zittere ständig."
Das Gespräch mit Saizew, der noch 1943 als "Held der Sowjetunion" ausgezeichnet wurde, sollte das einzige "Stalingrad-Protokoll" sein, das in geänderter Form veröffentlicht werden sollte. Stalin sah sich bald selbst allein als der große Retter des Vaterlandes, für andere Helden blieb dort neben seinem Ego wenig Platz. Noch weniger, als für Berichte über Angst und Versagen seiner Soldaten in den Kämpfen.
Jahrelang war die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg von Sieg zu Sieg geeilt. Am 22. Juni 1941 überfielen Hitler und die Wehrmacht die Sowjetunion. Der Feldzug sollte schließlich an einer fernen Stadt an der Wolga enden: Stalingrad. Sowjetische Divisionen kesselten die ganze deutsche 6. Armee ein, mehr als 250.000 Soldaten. Zehntausende starben in den nächsten Wochen und Monaten in heftigen Kämpfen, an Hunger, Kälte und Seuchen. Die deutsche Kapitulation in Stalingrad war vor 75 Jahren ein Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. t-online.de erinnert heute und in den nächsten Tagen an dieses Ereignis: HANS-ERDMANN SCHÖNBECK, ein Stalingrad-Überlebender, erzählt vom Leben und Sterben in der umkämpften Stadt. MILITÄRHISTORIKER SÖNKE NEITZEL erklärt, warum ausgerechnet Stalingrad zu einer entscheidenden Schlacht an der Ostfront wurde. FELDPOSTBRIEFE schildern das Leid und die Hoffnung der eingeschlossenen Soldaten der 6. Armee. SOWJETISCHE DOKUMENTE lassen deutlich werden, wie entschlossen die Rotarmisten ihre Heimat verteidigten. FRIEDRICH PAULUS, Befehlshaber der 6. Armee, ist eine der tragischsten Figuren der Schlacht um Stalingrad. Ein Porträt zeigt, warum der Offizier seine Männer bis zum bitteren Ende weiterkämpfen ließ. Kolumnist GERHARD SPÖRL erklärt, warum es so wichtig ist, dass wir den Zeitzeugen zuhören.
Die vielen Tausend anderen Seiten an Interviews, die Isaak Minz und seine Mitarbeiter in Stalingrad und anderen Orten unermüdlich angelegt hatten, unterlagen nach Kriegsende dagegen einem Publikationsverbot und wurden im Archiv eingelagert. Zumindest Teile davon kann man heute in den von Jochen Hellbeck herausgegebenen "Stalingrad-Protokollen" nachlesen.
Zum Weiterlesen: Antony Beevor: Stalingrad, München 1999 | Jens Ebert (Hrsg.): Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943, Göttingen 2003 | Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Zeitzeugen berichten aus der Schlacht, Frankfurt/Main 2013 | Torsten Diedrich: Paulus. Das Trauma von Stalingrad, 2. Auflage, Paderborn 2009 | Torsten Diedrich; Jens Ebert (Hrsg.): Nach Stalingrad. Walther von Seydlitz’ Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpost 1939–1955, Göttingen 2018 | Wolfram Wette; Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, 7. Auflage, Frankfurt/Main 2012