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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Größte Attacke auf Russland seit Kriegsbeginn Ukraine läutet neue Phase des Luftkriegs ein
Russland hat mit einem massiven Vergeltungsschlag auf den wohl bisher größten ukrainischen Luftangriff des Kriegs reagiert. Die gegenseitigen Attacken könnten eine neue Phase des Luftkriegs einläuten.
Die Ukraine hat in der Nacht zu Dienstag den laut eigenen Angaben größten Luftangriff auf Russland seit Beginn der russischen Invasion ausgeführt. Demnach waren an der Attacke mehr als 200 Drohnen beteiligt, darunter auch neuartige Systeme aus eigener Produktion. Russische Quellen berichten zudem, dass Kiews Luftwaffe britische Storm-Shadow-Marschflugkörper und ballistische Kurzstreckenraketen des Typs ATACMS aus US-Produktion eingesetzt habe.
Russlands Flieger lieferten am Mittwoch die Antwort: Berichten von Militärbloggern zufolge stiegen in den frühen Morgenstunden unter anderem strategische Bomber des Typs Tupolew Tu-95 auf. Der Einsatz dieser Flieger ist meist ein Vorzeichen für einen massiven Luftangriff. Infolgedessen wurde in der gesamten Ukraine Luftalarm ausgelöst.
Die Bomber feuerten laut der ukrainischen Luftwaffe Marschflugkörper der Typen Kh-101, Kh-22 und Kalibr auf die Ukraine ab. Zudem seien ballistische Raketen und Drohnen eingesetzt worden. Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj setzte Russland mehr als 100 Geschosse ein.
Sowohl Russland als auch die Ukraine nahmen bei ihren Angriffen jeweils die kritische Infrastruktur des Gegners ins Visier. Während sich Russlands Angriffe jedoch ausschließlich auf ukrainische Energieanlagen beschränkten, griff die Luftwaffe der Ukraine auch militärische Hochwertziele in Russland an. Die gegenseitigen Attacken könnten der Aufschlag für eine neue Phase des Luftkriegs sein.
"Die Bösen werden keine Ruhe finden"
In der Nacht zu Dienstag habe es in Russland Explosionen in "Chemiewerken, Ölraffinerien und Lagerhäusern" gegeben, hieß es aus Kreisen des ukrainischen Geheimdienstes SBU. Getroffen worden seien Anlagen des "russischen militärisch-industriellen Komplexes".
Der ukrainische Generalstab erklärte in Onlinediensten, es handele sich um die "massivste" nächtliche Angriffswelle gegen militärische Ziele in Russland seit Beginn des Krieges vor fast drei Jahren. Die ukrainischen Streitkräfte hätten Ziele in einer Entfernung von 200 bis 1.100 Kilometern auf russischem Territorium attackiert, hieß es.
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Die womöglich bedeutendste Attacke der gestrigen Angriffswelle galt der russischen Luftwaffenbasis Engels in der Region Saratow an der Grenze zu Kasachstan. Der Stützpunkt liegt rund 600 Kilometer Luftlinie von der ukrainischen Grenze entfernt. Von dort steigen regelmäßig Bomber für den Beschuss des Nachbarlandes auf. Auf der Basis sei ein Munitionslager getroffen worden, sagte ein Geheimdienstvertreter. Es seien auch andere Ziele angegriffen worden. Auch in der Raffinerie Saratowsky seien Feuer ausgebrochen.
Zudem nahm die Ukraine erneut ein Treibstoffdepot in Engels ins Visier. Das Lager war bereits am 8. Januar Ziel eines ukrainischen Drohnenangriffs, infolgedessen über sechs Tage lang ein Feuer wütete. Das Depot soll rund 800.000 Tonnen Treibstoff umfassen. Weniger als 24 Stunden nachdem das Feuer gelöscht war, schlug die Ukraine in der Nacht zum Dienstag erneut zu. Das ukrainische Zentrum für Strategische Kommunikation und Informationssicherheit triumphierte danach auf der Plattform X: "Die Bösen werden keine Ruhe finden."
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"Bemerkenswerte Koordination der ukrainischen Streitkräfte"
Das Vorgehen der Ukraine in Engels erinnert an sogenannte Double-Tap-Angriffe. Dabei wird ein Ziel innerhalb kurzer Zeit mehrfach attackiert, um den Schaden zu maximieren. Wenn Russland in der Ukraine zu dieser Taktik greift, gilt der zweite Angriff meist herbeieilenden Rettungskräften, die Opfer der ersten Attacke bergen und versorgen.
Auch das Chemiewerk in der südwestlichen Grenzregion Brjansk sei getroffen worden. Dort werden sowohl Munition als auch Raketenkomponenten hergestellt. Laut der ukrainischen Sicherheitsexpertin Maria Avdeeva sind dort zunächst Drohnen vorgeschickt worden, um die russische Flugabwehr abzulenken. Damit sei der Weg für Raketen frei gewesen, die das Ziel mit Präzisionsangriffen trafen. "Nachfolgende Drohnenangriffe zerstörten wichtige Infrastruktur und vergrößerten den Schaden", schreibt Avdeeva auf X.
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Ebenso zum Ziel der ukrainischen Angriffe wurden eine Chemiefabrik in der Region Tula rund 200 Kilometer südöstlich von Moskau sowie ein Öldepot in der Region Tatarstan westlich des Uralgebirges. "Diese Operation zeigte eine bemerkenswerte Koordination der ukrainischen Streitkräfte – Drohnen, Raketen, Spezialoperationen und Geheimdienst", erklärt Avdeeva.
"Die Ukraine beabsichtigt, dies weiterhin zu tun"
Bei den eingesetzten Drohnen handelte es sich laut einem Bericht der "Kyiv Post" unter anderem um die Systeme PD-2, Biber, Liutyj und UJ-22 aus heimischer Produktion. Das sind unbemannte, propellergetriebene Drohnen.
Zudem soll Berichten zufolge die "Raketendrohne" Peklo zum Einsatz gekommen sein. Mehr zu dieser Drohne lesen Sie hier. Ob wie von Russland behauptet, tatsächlich auch westliche Waffen zum Einsatz kamen, ist nicht bekannt. Der Einsatz würde über die bisher öffentlich bekannten Freigaben für Systeme wie ATACMS und Storm Shadow hinausgehen.
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Sicherheitsexpertin Avdeeva macht außerdem deutlich, warum der Angriff der Ukraine signifikant war: "Über ihre militärische Bedeutung hinaus senden diese Angriffe auch eine klare politische und informative Botschaft aus: Die Ukraine ist in der Lage, kritische Infrastrukturen im Herzen der russischen Kriegsmaschinerie anzugreifen und beabsichtigt, dies auch weiterhin zu tun."
Ob und wie viele Opfer es bei den ukrainischen Angriffen gegeben hat, ist derzeit nicht bekannt. Der Gouverneur der Region Brjansk, Alexander Bogomas, bestätigte die Attacke auf die Chemiefabrik. Es habe keine Toten und Verletzten gegeben, schrieb er auf sozialen Netzwerken, ohne Details zu Schäden zu nennen.
Der Telegramkanal Mash, der russischen Sicherheitsorganen nahesteht, hingegen schrieb von drei Verletzten und "herabgefallenen Raketentrümmern" sowohl in einem Werk für Mikroelektronik in Brjansk als auch in einer Munitionsfabrik in der Kleinstadt Selzo.
Russland führt umfassenden Vergeltungsschlag aus
Bereits am Dienstagabend hatte Russland Vergeltung für die ukrainischen Angriffe angedroht. Am Mittwochmorgen machte die Luftwaffe des Kreml die Drohungen wahr: Dabei wurden nach Angaben der Ukraine auch Energieanlagen im Westen des Landes attackiert. Der ukrainische Netzbetreiber kündigte an, in sieben Regionen Notstromversorgungen in Kraft zu setzen, darunter auch in der ostukrainischen Region Donezk.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte auf X, "mehr als 40 Raketen" und "mehr als 70 russische Angriffsdrohnen" seien bei dem nächtlichen Angriff eingesetzt worden. Mindestens 30 russische Raketen wurden seinen Angaben zufolge zerstört, darunter ballistische Raketen. "Ein weiterer massiver russischer Angriff. Es ist mitten im Winter, und das Ziel der Russen bleibt das gleiche: unser Energiesektor", schreibt Selenskyj.
Nach Angaben der ukrainischen Flugabwehr hat das russische Militär bei der Attacke Marschflugkörper, aber auch Hyperschallraketen vom Typ Kinschal und andere ballistische Raketen eingesetzt. Über den grenznahen Regionen wie Sumy warfen russische Kampfjets auch Gleitbomben ab. Kurz nach acht Uhr am Morgen war der Angriff vorüber, der Luftalarm wurde aufgehoben.
Der Militärgouverneur der westukrainischen Region Lwiw, Maxym Kosyzkyj, teilte auf Telegram mit: "Es gibt Einschläge bei zwei Objekten der kritischen Infrastruktur in den Landkreisen Drohobytsch und Stryj." Seinen Angaben nach wurde die Region mit Marschflugkörpern beschossen. Tote und Verletzte habe es nicht gegeben. Auch Notabschaltungen des Stroms seien in Lwiw nicht notwendig gewesen.
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Norwegische F-35-Kampfjets steigen auf
Im benachbarten Iwano-Frankiwsk wurden ebenfalls Anlagen der Energieversorgung beschossen. Gouverneurin Switlana Onyschtschuk erklärte, die Notdienste seien im Einsatz, die Lage unter Kontrolle. In anderen Regionen hingegen gab es Blackouts. Energieminister Herman Haluschtschenko begründete dies mit Präventivmaßnahmen wegen des Raketenangriffs. Betroffen waren die Regionen Charkiw, Sumy, Poltawa, Saporischschja, Dnipropetrowsk und Kirowohrad.
Russland beschießt seit dem ersten Kriegswinter gezielt und systematisch Energieanlagen in der Ukraine. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs ist inzwischen rund die Hälfte der ukrainischen Energiekapazitäten zerstört worden.
Angesichts der umfassenden russischen Angriffe nahe seiner eigenen Grenze hat Polen Kampfjets starten lassen, um etwaige Raketen und Drohnen abwehren zu können, sollten sie in den polnischen Luftraum eindringen. Darunter waren laut Angaben aus Norwegen auch hochmoderne, norwegische F-35-Kampfjets, die im Zuge des sogenannten Quick Reaction Alerts zur Verteidigung des Nato-Luftraums in die Luft geschickt wurden. Norwegen hat derzeit vier dieser Jets in der polnischen Stadt Posen stationiert.
- kyivpost.com: "Over 200 Long-Range Drones Strike Key Russian Targets: Explosives Plants, Fuel Depots Hit" (englisch)
- forbes.com: "Ukrainian Drones Flew 400 Miles To Double-Tap a Russian Bomber Base" (englisch)
- kyivindependent.com: "Ukraine says it targeted Russia's Engels airbase infrastructure in 'multi-day, comprehensive operation'" (englisch)
- twz.com: "Mass Ukrainian Drone Onslaught Strikes Targets Across Western Russia" (englisch)
- x.com: Beiträge von @maria_avdv und @StratcomCentre
- forsvaretforum.no: "Norske kampfly på vingene etter russisk missilangrep" (norwegisch"
- kyivindependent.com: "Russia launches mass missile attack against Ukraine" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters