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Russland: Armee von Putin vor Problemen? Rekrutierungen gehen zurück


Probleme in der russischen Armee
"Eine extrem unpopuläre Entscheidung"


07.01.2025 - 16:38 UhrLesedauer: 6 Min.
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Wladimir Putin nimmt anlässlich der orthodoxen Weihnacht an einem Gottesdienst teil: Der Kremlchef steht zunehmend vor Problemen in seiner Armee. (Quelle: IMAGO/Vyacheslav Prokofyev/imago)
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Russland rückt in der Ukraine vor – jedoch unter hohen Verlusten bei den eigenen Soldaten. Gleichzeitig bricht die heimische Rekrutierung ein. Bekommt Putin ein Personalproblem?

Es sind erschreckende Zahlen. 800.000 Kremlsoldaten sollen laut Angaben des ukrainischen Generalstabs seit Beginn der russischen Vollinvasion am 24. Februar 2022 getötet oder verwundet worden sein oder als vermisst gelten. Mehr als die Hälfte der Verluste, 427.000 Mann, soll Russland dem ukrainischen Armeechef Olexander Syrskyj zufolge allein im Jahr 2024 verloren haben.

Sicherlich sind die Zahlen aus der Ukraine mit Vorsicht zu betrachten: Kiew tendiert wohl dazu, die russischen Verluste zu überschätzen. Aber auch westliche Geheimdienste gehen von Verlusten aus, die die Zahl einer halben Million übersteigen. Eine Analyse der BBC und des russischen Medienprojekts "Mediazona" aus dem vergangenen November hat 78.329 tote russische Soldaten namentlich identifiziert. Dabei wurden Friedhöfe, Kriegsdenkmäler und Nachrufe untersucht. Die tatsächlichen Todeszahlen liegen den Autoren zufolge vermutlich bis zu doppelt so hoch – ohne Verwundete und Vermisste aufzusummieren.

Für Kremlchef Wladimir Putin wird das zum Problem. Besonders seit Ende Oktober sind die Verluste massiv angestiegen, da Russland seine Offensive im Donbass forciert hat. Deutlich mehr als 1.000 russische Soldaten sollen dem Angriffskrieg täglich zum Opfer gefallen sein. Nur: Schon seit dem zweiten Halbjahr 2024 rekrutiert Russland nicht mehr ansatzweise so viele Soldaten für den Fronteinsatz. Lichten sich nun langsam die Reihen der russischen Armee?

Kreml verdoppelt Vertragsprämie für Kriegsfreiwillige

Russland hat bisher auf drei Wegen frische Soldaten für seinen Angriffskrieg ausgehoben: über den Einsatz privater Militärfirmen wie der Gruppe Wagner, über eine Teilmobilmachung im Herbst 2022 sowie über die sogenannte verdeckte Mobilisierung. Diese "verdeckte Mobilisierung" läuft noch heute: Kontinuierlich wirbt das Verteidigungsministerium vor allem über finanzielle Anreize Freiwillige an, die auf Vertragsbasis für die reguläre Armee oder private Militärfirmen rekrutiert werden.

Doch dabei stößt Russland nun offenbar an seine Grenzen. Das russische Oppositionsmedium "Meduza" berichtete Anfang Dezember, dass die Rekrutierung Freiwilliger im dritten Quartal eingebrochen sei. Dazu hat das Portal den russischen Haushaltsbericht ausgewertet – eine Methode, die zuvor bereits das russische Medium "iStories" sowie der Wirtschaftswissenschaftler Janis Kluge angewandt hatten.

Demnach hat der russische Staat zwischen Juli und September umgerechnet knapp 150 Millionen Euro für Prämien für einen Vertragsabschluss mit der Armee gezahlt – im zweiten Quartal 2024 waren es noch gut 165 Millionen Euro gewesen. Insgesamt gab der Kreml zwischen Januar und September 2024 dem Bericht zufolge 444 Millionen Euro für die Vertragsboni aus. Besonders der Rückgang zwischen dem zweiten und dritten Quartal überrascht: Denn seit August stieg die Einmalzahlung für einen Vertragsabschluss von etwa 1.750 Euro auf knapp 3.600 Euro.

Einbruch bei Rekrutierung neuer Soldaten

Diese Entwicklung deute darauf hin, dass Russland trotz gestiegener Prämien weniger Freiwillige rekrutiert, so "Meduza". Wie viele Russen tatsächlich mobilisiert werden, lasse sich jedoch nur schwer berechnen – vor allem, weil der Vertragsbonus mitten im dritten Quartal angehoben wurde. Dies erschwere es, einen Durchschnitt für die Ausgaben zu ermitteln.

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Das Portal hat deshalb drei Szenarien entwickelt: Im für Russland besten, aber unwahrscheinlichen Fall konnten im dritten Quartal gut 82.000 Soldaten rekrutiert werden. Unter der Annahme, dass alle im dritten Quartal ausgehobenen Rekruten die gestiegene Prämie erhalten haben, wären es jedoch nur noch 40.300 neue Soldaten – der laut "Meduza" unwahrscheinlichste Fall. Die laut dem Portal konservativste Schätzung ergibt ein Rekrutierungspotenzial von rund 49.000 Soldaten zwischen Juli und September.

Das wären täglich zwischen 500 und 600 neue Soldaten. Ende Juni 2024 hatte "Meduza" berechnet, dass pro Tag zwischen 600 und 750 Soldaten getötet oder so schwer verwundet wurden, dass sie nicht mehr in den Kriegsdienst zurückkehren konnten. Es gibt also wohl eine deutliche Differenz zwischen Kriegsopfern und neuen Rekrutierungen – noch aber scheinen die Bemühungen des Kremls zur Anwerbung den Entwicklungen an der Front einigermaßen Schritt zu halten.

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"Fehlbuchhaltung" in Russlands Armee

Der Militärexperte Gustav Gressel warnt vor vorschnellen Schlüssen anhand solcher Analysen: "Es gibt aktuell keine belastbaren Zahlen zu den Rekrutierungen in Russland", sagte er im Gespräch mit t-online. Dennoch sieht auch er Veränderungen auf russischer Seite der Front: "Es fällt auf, dass die offiziellen Zahlen der russischen Regierung nicht mit dem Geschehen auf dem Schlachtfeld übereinstimmen." Russland behauptet, 2024 insgesamt 440.000 neue Rekruten angeworben zu haben.

Die russischen Angriffe aber seien kleinteiliger geworden, weniger Soldaten würden dafür eingesetzt als noch im Sommer 2024 und es gebe längere Pausen zwischen den Angriffswellen, so Gressel. "Das spricht dafür, dass Russland Probleme hat."

Dass es keine belastbaren Zahlen gibt, führt Gressel auch auf eine "Fehlbuchhaltung" im russischen Verteidigungsministerium zurück. Und je länger der Krieg andauere, desto schwieriger werde es, das Ausmaß des Betrugs einzuschätzen. Außerdem weist der Experte auf eine russische Eigenheit hin: "In der Armee gibt es ein relativ weitverbreitetes Phänomen, Tote und Verwundete in den Karteien 'am Leben zu halten'." So könne der Sold der Personen weiter eingestrichen werden.

Zur Person

Gustav Gressel ist Hauptlehroffizier und Forscher am Institut für Strategie und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie in Wien. Zuvor war er als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.

Russland bedient sich jedoch nicht nur an der heimischen Bevölkerung. Auch im Ausland wirbt der Kreml Söldner für seinen Krieg an. Hier lassen sich Größenordnungen jedoch kaum einschätzen. Allein aus Nordkorea sollen mehr als 10.000 Soldaten gekommen sein. Die Ukraine warnte zudem bereits, dass Pjöngjang bis zu 100.000 Mann entsenden könnte. "Damit könnte das heimische Problem möglicherweise zumindest derzeit noch ausgeglichen werden", sagt Gressel.

Ein entscheidendes Jahr für Putin

Der Personalmangel könnte also bald auf den vordersten Platz der Tagesordnung des Kremls rutschen. "2025 wird angesichts dessen zu einem entscheidenden Jahr für Putin", sagt Gressel. Dabei sei entscheidend, wie Russland in diesem Jahr operativ fortfahren will. Vieles davon hänge mit der künftigen Präsidentschaft Donald Trumps in den USA zusammen. Trump hatte im Wahlkampf mehrfach angekündigt, den Krieg "binnen 24 Stunden" beenden und die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch bringen zu wollen.

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"Will Putin das derzeitige Tempo der Offensive beibehalten und so mit Blick auf mögliche Verhandlungen Fakten schaffen? Dann könnten sinkende Rekrutierungszahlen langfristig zu einem Problem werden", erklärt Gressel. Russland eroberte laut dem US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) im vergangenen Jahr insgesamt 4.168 Quadratkilometer ukrainischen Territoriums – allein 2.356 Quadratkilometer oder 65,5 Prozent davon zwischen September und November. Allein in diesen drei Monaten sollen demnach 125.800 russische Soldaten getötet oder verwundet worden sein oder als vermisst gelten.

Angesichts dieser Erfolge auf dem Schlachtfeld könnte der Kreml sich ebenso dazu entschließen, das Tempo zumindest zeitweise herunterzuschrauben. "Entscheidet sich Putin für eine 'Verschnaufpause', um abzuwarten, wie Trump sich verhält?", fährt Gressel mit Blick darauf fort. "Dann wäre seine Verhandlungsbasis vermutlich schlechter, aber der Verschleiß des Personals an der Front geringer."

Ruft Putin eine neue Mobilmachung aus?

Als dritte Option bleibt Putin laut Gressel "eine extrem unpopuläre Entscheidung mit erhöhtem innenpolitischen Risiko": eine neue Teilmobilmachung. Als Putin diese im September 2022 erstmals ausrief, verließen Zehntausende Russen das Land, um dem Militärdienst zu entgehen. Eine weitere Mobilmachung könnte heftigere Reaktionen wie Proteste auslösen.

"Putin geht derzeit noch sehr weite Wege, um das zu vermeiden", erklärt Gressel. Dafür sprechen Gesetze zur Rekrutierung, die kürzlich in Russland geändert wurden. Seit Sommer 2022 setzt Russland bereits auf den Einsatz von Straftätern an der Front. Zwischen 140.000 und 180.000 Häftlinge sollen sich laut dem ukrainischen Auslandsnachrichtendienst SZRU bisher gemeldet haben.

Neuerdings werde allerdings auch Personen ein Armeevertrag angeboten, die lediglich einer Straftat verdächtigt werden, berichtet die "New York Times". Im Gegenzug würden Anklagen fallen gelassen. Außerdem konzentriere sich das Militär auf Personen mit hohen Schulden, korrupte Beamte oder neue Immigranten, die sich bislang nicht zum Militärdienst gemeldet haben – es ist eine Art moderner Ablasshandel.

"Im nächsten Jahr wird es an mehreren Stellen kritisch"

Der Kremlchef wird laut Gressel die Entscheidung für eine neue Mobilmachung wohl nur in zwei Fällen treffen: "Wenn er eine Niederlage auf dem Schlachtfeld befürchtet oder eine 'Verschnaufpause' für eine Neuaufstellung seiner Armee nutzen will." Letzteres würde laut dem Experten Sinn ergeben, weil frisch ausgebildete Soldaten zunächst in der Defensive leichter einzusetzen seien als in der Offensive. "Das alles hängt jedoch vom Kriegsverlauf in diesem Jahr ab."

Denn eine Teilmobilmachung könnte Russland vor ein noch größeres Problem stellen: Schon jetzt steuert Russland laut Gressel auf einen Mangel beim Kriegsmaterial zu. "In diesem Jahr werden sich Materialprobleme noch in verkraftbaren Grenzen halten, aber im nächsten Jahr wird es an mehreren Stellen kritisch."

Schon jetzt setzt Russland bei seinen Angriffen teils auf unkonventionelle Fahrzeuge wie Motorräder, weil gepanzerte Truppentransporter fehlen. Auch bei den Kampfpanzern leeren sich die russischen Lager beträchtlich. Mehr zum russischen Mangel beim Kriegsmaterial lesen Sie hier. "Sollte in diesem Jahr mobilgemacht werden, stellt sich also die Frage, wie dann die neu aufgestellten Einheiten ausgerüstet werden", so Gressel.

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